K. Thieler: "Volksgemeinschaft" unter Vorbehalt

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Titel
"Volksgemeinschaft" unter Vorbehalt. Gesinnungskontrolle und politische Mobilisierung in der Herrschaftspraxis der NSDAP-Kreisleitung Göttingen


Autor(en)
Thieler, Kerstin
Reihe
Veröffentlichungen des Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen 29
Erschienen
Göttingen 2014: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
504 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martina Steber, Institut für Zeitgeschichte, München

Stellten sie einen Antrag auf Gewährung eines Ehestandsdarlehens oder von Kinderbeihilfe, mochten sie in einer staatlichen oder kommunalen Behörde beschäftigt werden, standen private Jubiläen wie die Goldene Hochzeit oder das Goldene Doktor-Diplom an, wurde die Übernahme eines Amtes in einem Verein in Erwägung gezogen – in all diesen Fällen hatten sich die „Volksgenossinnen“ und „Volksgenossen“ des Dritten Reiches einer „politischen Beurteilung“ zu unterziehen. Ebenso erging es Unternehmen, die sich um kommunale Aufträge bewarben oder sich als „NS-Musterbetrieb“ profilieren wollten, oder auch nur jenen Gemüse- und Obsthändlern, die eine Standerlaubnis auf dem Göttinger Wochenmarkt beantragten. Die Praxis politischer Beurteilung im NS-Regime und die gesellschaftliche Dynamik, die diese auslöste, untersucht Kerstin Thieler am Beispiel der Universitätsstadt Göttingen.

Konzentriert auf den städtischen Raum gelingt es ihr, die Bedeutung dieses Herrschaftsinstruments für die Stabilisierung des NS-Regimes herauszuarbeiten und zugleich auf einen bislang unterschätzten Mobilisierungsfaktor aufmerksam zu machen. Denn die politische Beurteilung erlaubte es den nationalsozialistischen Machthabern nicht nur, gleichsam krakenhaft in immer weitere gesellschaftliche Bereiche vorzudringen und nationalsozialistische Verhaltensnormen zu etablieren, sondern erzeugte stete Unsicherheit, die, wie Thieler argumentiert, ebenso mobilisierend wie radikalisierend wirkte. Diese Unsicherheit identifiziert die Autorin auf Seiten derer, die in das Visier der nationalsozialistischen Beurteilungsinstanzen gerieten, denn seines Status in der „Volksgemeinschaft“ konnte sich niemand sicher sein, nicht einmal alte Parteigenossen. Zuverlässigkeit musste immer wieder neu bewiesen, dem nationalsozialistischen Regime musste immer wieder neu performativ Achtung gezeigt werden, um dem Verdacht der Illoyalität und Opposition zu entgehen. Dabei waren die Verhaltensanforderungen keineswegs klar definiert, sondern abhängig von der Einschätzung der jeweils vor Ort agierenden Nationalsozialisten. Wie individuelles Verhalten beurteilt wurde, war mithin niemals sicher. Auf der anderen Seite aber taten sich auch die Beurteilenden schwer damit, die Vielschichtigkeit von Verhaltensweisen ihrer „Volksgenossinnen“ und „Volksgenossen“ einzuschätzen. Spendete ein Unternehmer etwa großzügig dem Winterhilfswerk, weil er die ideologischen Grundsätze des Regimes teilte, oder tat er dies aus reinem Eigeninteresse, darum wissend, dass sich so Loyalität demonstrieren ließ? Mit der Schwierigkeit, die Motivation individuellen Verhaltens im NS-Regime zu beurteilen, waren mithin bereits die mit der Beurteilung betrauten Nationalsozialisten konfrontiert, nicht erst die heutigen Historikerinnen und Historiker.

Die Nationalsozialisten in den Kreisleitungen, denen seit Juni 1935 die exklusive Ausstellungskompetenz politischer Gutachten zukam, genauso wie jene in Blöcken und Ortsgruppen, die das Material dafür zu liefern hatten, reagierten auf diese Vielschichtigkeit individuellen Verhaltens mit einer „Mixtur aus Überforderung und Willkür“ (S. 14). Woran aber ließ sich systemloyales Verhalten ablesen? Der nationalsozialistische Beurteilungsapparat behalf sich zum einen mit quantifizierbaren Kriterien wie Spendenbereitschaft, Besuch von Parteiveranstaltungen und gegenwärtigen bzw. vergangenen Mitgliedschaften in NSDAP und NS-Organisationen bzw. solchen in Vereinen und Verbänden, die als oppositionell galten; zum anderen kamen Kriterien zum Tragen wie familiärer Leumund, „Lebensführung und Charakter“, geordnete wirtschaftliche Verhältnisse und „soziale Hilfsbedürftigkeit“. Deren Beurteilung orientierte sich zwar an nationalsozialistischen Normenkatalogen, die durch die NSDAP-Reichsleitung bekräftigt wurden und bürgerlichen Tugendvorstellungen ähnelten, dennoch bot sie genügend Spielraum für subjektive Wertungen.

Sicherlich erzeugte dies auf Seiten derer, die der Beurteilungsmaschinerie ausgesetzt waren bzw. diese auch nur fürchten mussten, selbstmobilisierende Effekte und diente dem Regime der Sozialkontrolle, wie Thieler betont. Zugleich wäre aber zu fragen, ob die fortwährende Unsicherheit und Willkür, die den Alltag im Nationalsozialismus prägte, nicht auch zu Distanzierung und eben jener Zweideutigkeit des Handelns führten, die die NS-Beurteiler gerade beklagten. Aus dieser Perspektive hatte die Beurteilungspraxis des Regimes auch Effekte, die das Herrschaftssystem unterminierten. Dieser Frage geht Kerstin Thieler indes nicht nach, genauso wenig wie sie individuellen Anpassungsanstrengungen auf den Grund gehen kann. Diese Grenzen setzt die Quellengattung der politischen Beurteilungen, auf deren Auswertung die Arbeit konzentriert ist. Lediglich an wenigen Stellen werden die kommunikativen Prozesse greifbar, die mit der politischen Beurteilung verbunden waren und welche die theoretischen Vorannahmen, auf denen die Arbeit aufbaut, erst empirisch zu stützen vermögen. Dafür aber sind andere Quellengruppen heranzuziehen, wie besonders das eindrucksvolle Beispiel des Göttinger Historikers Percy Ernst Schramm verdeutlicht, an dessen Anpassungsbereitschaft die NS-Kreisleitung bis zuletzt zweifelte.

Mit der Fokussierung auf die Quellengattung der politischen Beurteilung gelingt Thieler in erster Linie ein Beitrag zur Herrschaftspraxis lokaler Parteiinstanzen. Überzeugend weist sie die zunehmende Bürokratisierung der Parteiarbeit nach, die die lokalen Funktionäre oftmals überforderte, belegt die Verflechtung von NSDAP und kommunaler Verwaltung und unterstreicht die Bedeutung der Partei als „Agentur der ‚Volksgemeinschaft‘“ (Armin Nolzen) im lokalen Raum. Sie zeigt außerdem, dass bestimmte Bevölkerungskreise ins Visier der Machthaber gerieten, wie besonders die Beamtenschaft und die Wissenschaftler an der Universität, die an Schlüsselstellen des NS-Staats saßen und deren politische Loyalität in den provisorischen Amtsstuben der Parteiprüfer generell in Zweifel gezogen wurde. Von der nationalsozialistischen Sozialkontrolle waren außerdem die weniger vermögenden Teile der Bevölkerung über die Maßen betroffen, waren sie doch auf soziale Transferleistungen angewiesen und konnten sich so der Überprüfung nicht entziehen. Doch obwohl die Arbeit die Rolle der kleinen Parteifunktionäre in Blöcken, Ortsgruppen und Kreisleitungen betont, erhält diese Gruppe wenig Kontur. Allein der Göttinger Kreisleiter Thomas Gengler wird biographisch greifbar, während das Sozialprofil der übrigen lokalen Funktionäre im Dunklen bleibt. Dass Sozialneid eine wichtige Rolle bei den in den politischen Beurteilungen zutage tretenden Reserven gegenüber dem gehobenen Bildungsbürgertum an den Universitäten gespielt habe, bleibt mithin Mutmaßung der Autorin.

Hier offenbart sich ein allgemeines Problem der Arbeit, das nicht allein der Konzentration auf die Quellengattung der politischen Beurteilungen geschuldet ist. Die Autorin hat sich entschlossen, zunächst auf annähernd 200 Seiten die allgemeinen Bedingungen der nationalsozialistischen Beurteilungspraxis zu beschreiben: die Entwicklung der NSDAP in Göttingen, die Position der Kreisleitung im Herrschaftsapparat, nationalsozialistische Verhaltensanforderungen an die Bevölkerung. Basierend auf Forschungsarbeiten wird so vieles von dem abgehandelt, was die darauf folgende Quellenanalyse letztlich leisten möchte. Die Argumentation geht dabei aber auch bisweilen über das hinaus, was empirisch gezeigt werden kann. Zudem führt diese Anlage der Arbeit zu einer Vielzahl von Doppelungen und manch changierenden Interpretationen (z.B. in der Einschätzung des Spendens, S. 186 und 220).

Nichtsdestoweniger hat Kerstin Thieler eine gewichtige Arbeit vorgelegt, die die feinen Mechanismen nationalsozialistischer Herrschaft in einer Stadt plastisch macht und am konkreten Beispiel die Vergesellschaftungsprozesse belegt, die die Zukunftsutopie der „Volksgemeinschaft“ auslöste. An sie können weitere Forschungen anknüpfen, um die Bedingungen alltäglichen Lebens im nationalsozialistischen Deutschland weiter zu erhellen.

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