J. H. Richardson u.a. (Hrsg.): The Roman Historical Tradition

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Titel
The Roman Historical Tradition. Regal and Republican Rome


Herausgeber
Richardson, James H.; Santangelo, Federico
Reihe
Oxford Readings in Classical Studies
Erschienen
Anzahl Seiten
IX, 372 S.
Preis
€ 47,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernhard Linke, Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum

Der vorliegende Band vereint Beiträge, die aus der Sicht der Herausgeber die Analyse der Formierung der historischen Tradition in Rom wesentlich stimuliert haben. Alle Beiträge sind schon einmal an anderer Stelle publiziert worden. Der Band zielt also nicht auf einen neuen Impuls zur Forschung, sondern möchte in einer Zeit der zunehmenden Komplexität wissenschaftlicher Diskurse eine von Spezialisten der Thematik vorgenommene Auswahl präsentieren, die dem Leser ein breites Spektrum historischer Untersuchungen aus einem weiten Zeitraum der Forschungsgeschichte bieten.

Dieses Anliegen unterstreichen die Herausgeber in ihrem vorangestellten Geleitwort. Mit Bedacht seien Beiträge mit ganz unterschiedlichem methodischem Zugriff ausgewählt worden, da auf diese Weise die große Bandbreite der Forschung deutlich werde. Von den ‚Skeptikern‘, die der römischen Überlieferung grundlegend misstrauen und weite Teile für nachträgliche Verfälschungen halten, bis zu den ‚Optimisten‘, die meinen, dass entscheidende Aspekte aufgrund der gegenseitigen Kontrolle der Gedächtnisträger kaum frei fälschbar waren, und die daher von einem Skelett an strukturalen Fakten ausgehen, die einen historischen Kern besitzen. Eine weitere Strukturentscheidung des Bandes ist die Anordnung der Beiträge nach der historischen Chronologie der Themenstellungen. Dieser Aufbau bedingt, dass Analyse zu einzelnen antiken Schriftstellern – mit Ausnahme Ciceros – nicht aufgenommen werden konnten, da deren Werke zumeist einen größeren Zeitraum abdecken. Stattdessen wurden thematisch konzentrierte Beiträge aufgenommen, die eine Reihung auf der Zeitachse erlauben. Auf diese Weise kann der Leser mit Hilfe der Analysen der römischen Entwicklung folgen und erhält dabei einen Überblick über ganz unterschiedliche methodische Zugriffe zu einzelnen Fragestellungen in chronologischer Folge.

Diese interessante Reihung bedingt allerdings, dass der Leser bei dieser historischen Abfolge die Chronologie der Forschung bei den Aufsätzen immer mitreflektieren muss, da aktuellere und ältere Analysen sich abwechseln. Dies stets zu beachten, stellt ihn vor eine anspruchsvolle methodische Herausforderung. Bei der zeitlichen Verteilung der Aufsätze liegt eine klare Priorität auf der Königszeit und der frühen Republik.

Die Analysen zur Königszeit werden mit einem Beitrag von Andrea Carrandini eingeleitet, der unter allen ‚Optimisten‘ die vielleicht weitgehendste Position vertritt, zum Romulus-Mythos. Während Michel Humm im Anschluss die geistige Verknüpfung mit der griechischen Welt anhand der angeblichen Verbindung von Numa Pompilius und Pythagoras untersucht, geht es Fausto Zevi um das Aufzeigen realer personeller Netzwerke und regionaler Mobilität, von denen wir in der Lebensgeschichte des Vaters von Tarquinius Priscus – Demaratos – einen Reflex besäßen. Ronald T. Ridley zeichnet profund die komplexen literarischen und ikonographischen Zeugnisse für das Wirken des Königs Servius Tullius und seine Reformen nach. T. P. Wiseman, einer der profiliertesten Skeptiker, analysiert die legendenhafte Schilderung der Ereignisse beim Übergang von der Monarchie zur Republik, deren erzählerischen Ursprung er im 4. Jahrhundert v.Chr. vermutet.
Zur Anfangsphase der Republik findet sich neben der Studie von Jan Bremmer zur mythologischen Erzählungen in Rom, die nach Ansicht des Autors vielfältiger waren als oft gedacht, der ältere Beitrag von Ettore Pais zur Parallelisierung der Erzählungen zur Gefecht an der Cremera mit dem fast gleichzeitig stattgefundenen Abwehrkampf der Griechen gegen die Perser bei den Thermopylen. Eine ähnlich parallelisierende Verzerrung sieht Emilio Gabba in der Darstellung des Agrargesetzes des Spurius Cassius, das dieser im beginnenden 5. Jahrhundert v.Chr. eingebracht haben soll, mit den Reformen der Gebrüder Gracchus aus dem ausgehenden 2. Jahrhundert v.Chr. Analog interpretiert Michael Crawford die Berichte über eine klar strukturierte Gründung von Kolonien seit der Königszeit als eine nachträgliche Ordnungsprojektion, die die wesentlich später entstandenen Grundsätze römischer Siedlungspolitik in die Frühzeit übertragen.

Das 4. Jahrhundert v.Chr. ist durch den wichtigen Aufsatz von Timothy Cornell zur Ausbildung einer formalisierten Zusammensetzung des Senates im Band repräsentiert. Auf der Basis einer fundierten Analyse der Überlieferung gelingt dem Autor dabei der Nachweis, dass der Senat erst im ausgehenden 4. Jahrhundert v.Chr. einen Prozess der Institutionalisierung erlebte. In der Zeit davor geht Autor eher von einer improvisierten Meinungsbildung im Rahmen der führenden Mitglieder der patrizischen Erbaristokratie aus.

Die Formierung der Vergangenheit nach gegenwärtigen Maßstäben reißt in den Augen von Jean-Claude Richard auch im 2. Jahrhundert v.Chr. nicht ab. Auch dort plädiert er für eine dynamische Interpretation der Erinnerungskultur. Dies macht er an den Darstellungen des Volkstribunats von Tib. Sempronius Gracchus fest, die durch die jeweilige Stellung der späteren Autoren zum Wirken der Söhne in diesem Amt geprägt sei. So erklären sich für Richard die betonten – und oft nicht widerspruchsfreien – Verweise auf die Bedeutung des Volkes bzw. des Senates in den Schilderungen des älteren Gracchus.

Der Aufsatz von Elisabeth Rawson zu Cicero als Historiker und Antiquar nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als er zwar ohne Zweifel eine grundlegende Studie zu der Problematik darstellt, aber durch die Fokussierung auf einen Autor eigentlich der konzeptionellen Ausrichtung des Bandes entgegensteht, die gerade nicht auf personal zentrierte Literaturanalysen abzielt.

Den Abschluss des Bandes bildet ein Aufsatz von Harriet Flower, in dem die These vertreten wird, dass die spolia opima, also die besondere Weihung der Rüstung des gegnerischen Feldherrn im Falle seiner Tötung durch den römischen Feldherrn, im 3. Jahrhundert v.Chr. von Claudius Marcellus neu geschaffen wurde und erst nachträglich eine historische Dimension bekam. Diese mythische Anbindung wurde aber so wirkungsmächtig, dass ein paralleler Fall in der Zeit des Augustus zu einer Gefährdung der neuen Ordnung wurde. Hier zeige sich die enorme Kraft der Vergangenheitsgestaltung für die gegenwärtige Realität.

Insgesamt kann der Band als ein wichtiger und sinnvoller Ansatz gesehen werden, die komplexe Forschungsdiskussion in einer differenzierten Form bei gleichzeitiger thematischer Breite exemplarisch transparent zu machen. Er knüpft an die in Deutschland bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft mit der Reihe ‚Wege der Forschung‘ schon länger bestehende Konzeption einer komprimierenden Zusammenführung zeitlich und publizistisch weit verstreuter Analysen an, die wesentliche Impulse gesetzt haben. Dies ist für den Leser gerade in der aktuellen Konstellation einer stärker ausgreifenden Forschungslandschaft eine wichtige Serviceleistung, von denen besonders Studierende profitieren können. Die Selektion der Aufsätze enthält durchweg wesentliche Beiträge und kann daher als überlegt gestaltet bewertet werden. Dabei ist es löblich, dass auch nichtenglischsprachige Artikel übersetzt und damit einem breiteren Rezipientenkreis zugänglich gemacht werden. Dies hilft der Tendenz einer monopolhaften Rezeption englischsprachiger Literatur vorzubeugen, die bedauerlicherweise in den zurückliegenden Jahren zu beobachten ist. In diesem Kontext ist es allerdings besonders erstaunlich, dass zwar zwei französische und vier italienische Artikel aufgenommen wurden, aber kein Beitrag der deutschen Forschung, obwohl auch gerade diese profunde und methodisch innovative Studien zur Thematik vorgebracht hat, wie zum Beispiel die Schriften von Uwe Walter eindrücklich zeigen.

Darüber hinaus ließe sich kritisch anmerken, ob es sinnvoll war, für Cicero eine Ausnahme von der Strukturentscheidung zu machen, keine Beiträge zu einzelnen Autoren aufzunehmen. Der Aufsatz von Rawson ist zwar wichtig, doch wirkt er etwas isoliert in dem Band. Insgesamt kann aber festgehalten werden, dass der Band eine gute Zusammenstellung grundlegender Analysen bietet, die es gerade dem interessierten ‚Neueinsteiger’ erlaubt, sich die komplexe historische Problematik auch unter dem Gesichtspunkt der Forschungsgeschichte zu erschließen. Dem Leser diesen mehrdimensionalen Blick zu ermöglichen, ist eine wichtige Leistung des Bandes.

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