S. Ledebur: Das Wissen der Anstaltspsychiatrie in der Moderne

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Titel
Das Wissen der Anstaltspsychiatrie in der Moderne. Zur Geschichte der Heil- und Pflegeanstalten Am Steinhof in Wien


Autor(en)
Ledebur, Sophie
Reihe
Wissenschaft, Macht und Kultur in der modernen Geschichte 5
Erschienen
Köln 2015: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
319 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maike Rotzoll, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universtität Heidelberg

Die Architektur der Anstalten Am Steinhof, ihre Lage und Weitläufigkeit beeindruckt bis heute. Insofern ist es erstaunlich, dass neben architekturgeschichtlichen Studien zwar die Verwicklung der Institution in die nationalsozialistischen Krankenmorde erforscht wurde, dass es aber neben einem Überblick über die ersten hundert Jahre der Einrichtung von Eberhard Gabriel bislang keine wissenschaftshistorisch akzentuierte Anstaltsgeschichte gab. Sophie Ledebur konzentriert sich auf die ersten 22 Jahre, da sie hier die größte Forschungslücke ausmachte. Die Autorin stützt sich dabei auf eine Fülle von gedruckten und ungedruckten Quellen, auf die „Direktionsakten“ ebenso wie auf Aufnahme- und Entlassbücher, auf Patientenakten, Personalakten, auf Landtagsakten und Akten des Kriegsarchivs. Ausdrücklich fokussiert ihre Studie nicht auf die wissenschaftliche Disziplin Psychiatrie, wie man sie am Beispiel einer Universitätsklinik in den Blick nehmen könnte, sondern auf andere Formen des Wissens. Relevant erscheinen im Kontext einer der psychiatrischen Versorgung gewidmeten Institution ein „Alltagswissen, ein implizites Handlungswissen, ein auf ‚Erfahrung’ basierendes Behandlungswissen, ein Wissen um Vorstellungen geistiger Gesundheit und Krankheit inklusive aller ihrer vielfältigen Übergangs- und Grauzonen und nicht zuletzt ein Verwaltungswissen“ (S. 13). In der Einleitung nimmt die Autorin vorweg, dass diese Art von implizitem Wissen nur teilweise erschließbar sei.

Im Kapitel „Wissen und Räume. Zur Vor- und Gründungsgeschichte der Heil- und Pflegeanstalten Am Steinhof“ verortet Ledebur die „moderne Anstalt“ (sie verwendet hier die zeitgenössische Begrifflichkeit nach der von Fangerau und Nolte vorgeschlagenen Vorgehensweise) räumlich und historisch.1

Bis 1774 reicht die Geschichte des 1869 aufgelassenen Wiener Narrenturms zurück. 1853 wurde die Anstalt Am Brünnlfeld eröffnet, die nach dem weithin Reich üblichen Modell der „relativ-verbundenen Heil- und Pflegeanstalt“ funktionierte, also „heilbare“ und „unheilbare“ Patient/innen aufnahm. Die Anstalt schien eine „Goldgrube für die Wissenschaft“ und eine „Stätte der Kunst der Behandlung“ zu sein, „wissenschaftliches Wissen“ und „Praxiswissen“ zu vereinen oder nebeneinander bestehen zu lassen. Eine erste Wiener psychiatrische Klinik wurde stimmig 1870 Am Brünnlfeld eingerichtet, eine zweite folgte 1875 in den Beobachtungsabteilungen des Allgemeinen Krankenhauses, integriert nun in den medizinischen Fächerkanon.

Mit der Eröffnung der Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof 1907 verschwand die Institution Am Brünnlfeld und mit ihr eine der beiden Kliniken, so dass sich in Wien wie anderenorts der Gegensatz zwischen Anstalts- und Universitätspsychiatrie verstärkte. Prächtige Architektur und riesenhafte Anlage der für mehr als 2000 Personen geplanten Anstalt Am Steinhof diente auch dazu, ein Gegengewicht zur Klinik zu setzen und sichtbar zu machen, dass eine Anstalt an „Modernität“ keineswegs einer wissenschaftlichen Institution nachstehen musste.

Mittels „psychiatrischer Polytechnik“ vereinte die Planung für die neue Anstalt verschiedene Disziplinen mit dem Ziel, ein unübersehbares Zeichen zu setzen, auch um die psychiatriekritisch sensibilisierte Öffentlichkeit zur Partizipation einzuladen. Nicht nur die bereits verbreitete Pavillonbauweise, auch das Novum eines angegliederten Sanatoriums für Privatpatient/innen, das „größte und modernste“ seiner Art, sollte der Psychiatrie ihren Schrecken nehmen. Die Pracht sollte ein Dilemma der „modernen Anstaltspsychiatrie“ überspielen: Sie baute bekannte Versorgungsmodelle aus und projektierte Erfolge auf zukünftige Lösungen, so sehr sie sich auch rhetorisch von der Anstaltspsychiatrie des früheren 19. Jahrhunderts abgrenzte oder diese gar ins Museum verbannte, wie dies Am Steinhof mit dem zentral gelegenen „Museum für Irrenpflege“ geschah.

Welches Wissen sich in der Anstalt manifestierte, geprägt von ihren architektonischen und bürokratischen Ordnungen, darauf zielt das Kapitel „Anordnungen der Anstaltspsychiatrie: Rationalisierungstendenzen der Moderne“. Dabei soll jene „Praxis“ in den Blick geraten, deren „Ort“ so schwer auszumachen ist, gleich ob man sie in den Routinen oder im Kontrast der Innovationen scharf zu stellen versucht. Konsequenterweise geht Ledebur von der Verteilung der Patient/innen auf die unterschiedlichen Pavillons und ihrer auf diese Weise erfolgten Kategorisierung aus. Ebenso wie die Einteilung der Patient/innen zur Arbeitstherapie wurden diese Entscheidungen nach impliziten Regeln getroffen, nach Alltagswissen eben, das sich kaum in schriftlichen Quellen niederschlug. Ebenso konsequent ist der Fokus auf der „modernen“ psychiatrischen Pflege mit ihren „institutionelle Macht herstellenden Praktiken“, denn für sie trifft der Begriff „soziale Praxis“ besonders zu. Wenn trotzdem die Praxis ein wenig blass bleibt, so ist dies keine Schwäche der Studie sondern eine Grenze der Methode: Sie liegt in der Natur der Sache, im weitgehenden Schweigen der Quellen darüber, was anderen „Insidern“ vermeintlich nicht mitgeteilt werden musste.

Besonders deutlich wird dies im folgenden Kapitel „Zur Konstituierung der Grenze. Materialität und Medialität von Krankenakten in der Anstaltspsychiatrie“, das die Chronologie verlässt und auf Patientenakten als Aufzeichnungssystem eingeht. Dieser Quellengattung haftet an, dass das „Notierte“ mit dem „Nicht-Notierten“ zusammen gesehen werden muss, geben die Akten doch den (durch strukturelle Vorgaben gelenkten) institutionellen Blick wieder und sind somit nicht als „unmittelbare Quelle einer Patientengeschichte anzusehen“. Ist man vorwiegend auf der Suche nach Ordnungsvorgaben, fokussiert man sinnvoller Weise die Formulare in den Akten, wie es Ledebur tut. Ähnlich wie Brigitta Bernet es 2009 für das Zürcher Burghölzli gezeigt hat,2 spiegeln auch die Formulare der Wiener Anstalt eine steigende Aufmerksamkeit für Vererbung. Im Nationalsozialismus konnte auf diese Akten als „biopolitisches Herrschaftswissen“ zurückgegriffen werden. Interessant wäre eine vergleichende Perspektive auf Formulare unterschiedlicher Anstalten verschiedener Länder, um eventuelle Wiener Besonderheiten herausarbeiten zu können.

Durch den Fokus auf den Ordnungsprinzipien der Anstalt kommt den Patient/innen eine eher passive Rolle als Objekte der Verwaltung zu. Doch ist die gelebte Anstaltsordnung sicherlich auch als Resultat von Aushandlungsprozessen mit allen Akteur/innen zu verstehen, auch der Patient/innen, auf deren Handlungen die Ordnungen teils vorwegnehmend reagieren – und in diesen Ordnungen speichert sich das praxisrelevante Wissen, dem die Studie auf die Spur kommen möchte. Insofern könnte es sinnvoll sein, ergänzend Patientenakten zu analysieren, zumindest dort, wo sich individuelle Handlungen als Reibungen an der Anstaltsordnung niederschlagen und sich zumindest indirekt die Patient/innenperspektive erhalten hat.

Das Kapitel „Wissen in Bedrängnis? Zu den Veränderungen in der Anstaltspsychiatrie während des Ersten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit“ greift den chronologischen Erzählfaden wieder auf und berichtet von einer lange debattierten rechtlichen Regelung von Anstaltsaufnahme und Entmündigung, die in Österreich 1916 zu einer verstärkten öffentlichen Kontrolle über die Anstalten führte. Dramatische Folgen zeitigte, wie auch im Deutschen Reich, das kriegsbedingte Hungersterben3. In der Nachkriegszeit stabilisierte sich die ökonomische Lage nur langsam. Das Sanatorium musste geschlossen werden.

Im Kapitel „Ein- und Ausschlussverfahren der Anstaltspsychiatrie in den 1920er Jahren“ geht es um Ausweitungen der psychiatrischen Kompetenz, die gleichwohl mit berufseigener ‚Erfahrung‘ begründet wurden. Schon um 1900 hatten Psychiater in Wien wie anderenorts ihr Tätigkeitsfeld auf die neu definierte, gesellschaftlich relevante Gruppe der „Psychopathen“ ausgeweitet, diese aber nur zum Teil der eigenen Klientel zugerechnet und ansonsten ausgegliederte Anstalten zum Schutz der Gesellschaft gefordert. In den 1920er-Jahren schien die Forderung nach solchen „Subinstitutionen“ zum Reformkurs des „roten Wien“ zu passen. Auch anderenorts nahm man zudem Alkoholkranke in den Blick und plante „Trinkerheilanstalten“, doch war die 1922 Am Steinhof eingerichtete „Abteilung für heilbare Alkoholiker“ in ihrer Verbindung zur Anstalt die erste ihrer Art in Europa. Über eine städtische Trinkerfürsorgestelle und die Außenfürsorge sollte in die Gesellschaft hineingewirkt werden. Dieses an Erlangen orientierte Konzept sollte die Anstaltsaufnahmen reduzieren, jedoch auch zu einer eugenisch motivierten Erfassung „anormaler Persönlichkeiten“ außerhalb der Anstalten führen. Insgesamt scheinen die in Wien eingeführten Neuerungen nur zum Teil ortsspezifisch zu sein.

Sophie Ledeburs Studie bietet eine Institutionsgeschichte mit ihren Vorteilen: Das Buch geht vom konkreten Beispiel aus, berichtet detailliert, quellengesättigt und „geerdet“, nimmt dabei die verschiedenen Gruppen von Akteuren in Stadt, Land und Anstalt in den Blick. Sie geht gleichzeitig über eine klassische Institutionsgeschichte hinaus, indem sie das „Praxiswissen“ der Anstalt, in ihren Räumen und Ordnungen gespeichert, im Gegensatz zum wissenschaftlichen Wissen in den Mittelpunkt stellt und damit eine viel versprechende wissenschaftshistorische Perspektive einnimmt. Die Anwendung dieses Blickwinkels auf das konkrete Beispiel ist ein Gewinn, auch weil er exemplarisch Schwierigkeiten und Grenzen dort aufzeigt, wo „Praxiswissen“ nie in die sprachliche Sphäre überführt worden ist und so für Historiker/innen kaum zugänglich ist. In jedem Fall wird beispielhaft die praxisgetriebene Ausweitungstendenz der „modernen Anstaltspsychiatrie“ zwischen ‚Erfahrung‘ und auf die Zukunft gerichteten Erfolgsversprechungen deutlich – nur wenige Jahre bevor im Nationalsozialismus die Anstalten Am Steinhof ihren Patient/innen keinen Schutz mehr bieten sollten.

Anmerkungen:
1 Heiner Fangerau / Karen Nolte (Hrsg.), ‚Moderne‘ Anstaltspsychiatrie im 19. und 20. Jahrhundert – Legitimation und Kritik, Stuttgart 2006.
2 Brigitta Bernet, „Eintragen und Ausfüllen“: Der Fall des psychiatrischen Formulars, in: Sybille Brändli / Barbara Lüthi / Gregor Spuhler (Hrsg.), Zum Fall machen, zum Fall werden. Wissensproduktion und Patientenerfahrung in Medizin und Psychiatrie des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2009, S. 62–91.
3 Heinz Faulstich, Hungersterben in der Psychiatrie 1914–1949. Mit einer Topographie der NS-Psychiatrie, Freiburg im Breisgau 1998.

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