K. Hitzbleck u.a. (Hrsg.): Grenzen des Netzwerks

Cover
Titel
Die Grenzen des Netzwerks 1200–1600.


Herausgeber
Hitzbleck, Kerstin; Hübner, Klara
Erschienen
Ostfildern 2014: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Richard Engl, Historisches Seminar, Johannes Gutenberg Universität Mainz

Bedrohlich sieht die Spinne aus, die dem Leser vom Cover des Bandes „Die Grenzen des Netzwerks 1200–1600“ aus einem Geflecht düsterer Netze entgegenbaumelt. Ein Fragezeichen prangt auf ihrem Rücken. Damit sind Thema und Stoßrichtung des Bandes in der Konzeption der Herausgeberinnen gut illustriert: Kerstin Hitzbleck (Bern) und Klara Hübner (Fribourg) wollten die Netzwerkforschung hinterfragen, die in den letzten Jahren verstärkt von der Soziologie in die Mediävistik Eingang gefunden hat und die den Postdoktorandinnen nicht ganz geheuer war: Sie verspürten „angesichts des geradezu ungeheuren Erfolges des Netzwerkparadigmas“ ein „grundsätzliche[s] Unbehagen“ und fragten sich, „wie intensiv die historische Seite sich eigentlich noch mit den theoretischen und methodischen Grundlagen […] der Netzwerktheorie auseinandersetzt. Oder ob sie nicht vielmehr […] unter diesem Deckmantel geradezu parasitärerweise etwas ganz eigenes betreibt.“ (S. 7, 10)

Zu dieser streitbaren Frage organisierten die beiden 2010 einen Workshop in Bern mit dem ambitionierten Ziel eines „Perspektivwechsel[s], um auf etwaige blinde Flecke der Netzwerkforschung hinzuweisen […] und vielleicht Wege zur ihrer Füllung aufzuzeigen“ (S. 11) – vor allem hinsichtlich der Grenzen der Theorie, aber auch der Grenzen tatsächlicher Netzwerke. So versprechen die 2014 gedruckten Tagungsakten einen kämpferischen, innovativen Grundsatzbeitrag insbesondere zu Netzwerktheorie und -methode für Historiker – eine Erwartung, die allerdings eher enttäuscht wird. Mit mehr Gewinn ist der Band als Kombination von Einzelstudien zu mittelalterlichen Netzwerken und den Fährnissen ihrer Erhebung zu lesen.

Die elf Beiträge, die in den nicht immer sauber lektorierten Tagungsakten neben Einleitung und Zusammenfassung enthalten sind, sind alle aus Qualifikationsarbeiten hervorgegangen: aus Habilitationen, Dissertationen und einer Studienabschlussarbeit. Ort der Untersuchung sind vor allem Höfe und Städte, für deren komplexe Beziehungskonstellationen der netzwerkanalytische Zugriff Aufschlüsse verspricht. Der regionale Schwerpunkt liegt dabei auf Oberdeutschland, insbesondere auf der Eidgenossenschaft, sowie auf Ober- und Mittelitalien und, in geringerem Maß, auf Frankreich. Zeitlich wird das 12. bis 15. Jahrhundert (nicht exakt die Periode 1200–1600) behandelt, mit einer deutlichen Präferenz für das 15. Jahrhundert.

In etwas beliebiger Reihung folgen die Beiträge aufeinander, beginnend mit drei stärker theoretisch-methodisch orientierten Aufsätzen: Zunächst versammelt Kerstin Hitzbleck (S. 17–40) in eigentümlicher Ambivalenz Fundamentalzweifel und Erwartungen an das Netzwerkparadigma und fordert, Geschichtlichkeit, Intentionalität und Beziehungsqualitäten in Netzwerken stärker zu berücksichtigen. Es folgt ein Beitrag von Kristina Odenweller (S. 41–63), der luzide und aktuell über Potenziale und Probleme der sozialen Netzwerkanalyse informiert und daher als eigentliche Einleitungslektüre empfohlen sei. Was Odenweller im zweiten Teil ihres Aufsatzes anhand des Familienbuches des Venezianers Giovan Francesco Capodilista demonstriert, deckt sich mit Jessika Nowaks (S. 65–92) Thesen des folgenden Beitrags: Vor jeglicher Netzwerkrekonstruktion ist sorgfältige Quellenkritik zu betreiben. Nowak verdeutlicht dies eindrucksvoll an einer Briefsammlung des bischöflichen Sekretärs Rolando Talenti, die sie als „Bewerbungsmappe“ (S. 84ff.) an den Nachfolger des Dienstherren entlarvt, um daraus Vorsicht gegenüber einer gern zur Netzwerkrekonstruktion genutzten Quellengattung anzumahnen.

Die folgenden Beiträge setzen zumeist weniger auf theoretisch-methodische Problematisierung als auf gewinnbringende Anwendung des Netzwerkparadigmas: Andreas Fischer (S. 93–112) analysiert Reichweite und Grenzen der Beziehungsgeflechte der im 13. Jahrhundert Bedeutung gewinnenden Kardinäle; dabei betont er mit Formalisierungs- und Wahrnehmungsphänomenen zwei interessante Netzwerkaspekte. Der schön formulierte Beitrag von Jörg Schwarz (S. 113–136) demonstriert am Karriereweg des habsburgischen Protonotars Johann Waldner ebenfalls das Potenzial der Netzwerkanalyse zur Untersuchung des Sozialverbandes ‚Hof‘, aber auch den Einfluss individueller Faktoren. Es folgt eine Reihe von Aufsätzen zur Welt der Städte, eröffnet von Bastian Walter-Bogedain (S. 137–155). Er hält „informelle“ Kontaktnetze zur Informationsgewinnung eidgenössischer Städte in den Burgunderkriegen für ein Forschungsdesiderat. Christoph Dartmann (S. 157–173) gibt einen Überblick über die jahrhundertelangen Schwierigkeiten ober- und mittelitalienischer Kommunen, den Einfluss mächtiger Netzwerke auf städtische Ämter zu limitieren. Regula Schmid (S. 175–195) beschreibt wiederum am Beispiel eidgenössischer Städtebünde Bestrebungen zur Begrenzung ausufernder Vernetzung und bestätigt die Notwendigkeit sorgfältiger Quellenarbeit, indem sie die beliebte Gleichsetzung normativer Bündnisverträge mit tatsächlichen Nahbeziehungen hinterfragt. Auch Heinrich Speich (S. 197–222) untersucht die Entwicklung eidgenössischer Netzwerke, und zwar unter nicht ganz stringenter Fragestellung im ‚Alten Zürichkrieg‘. Nochmals den Potenzialen der Netzwerkanalyse für die Hofforschung wendet sich der Beitrag von Andreas Bihrer (S. 223–238) zu, der anhand von Konstanzer Bischofswahlen überzeugend für die Untersuchung von „Hofparteien“ (S. 223ff.) plädiert. Zuletzt ruft Gerald Schwedler (S. 239–257) ins Gedächtnis, dass Netzwerke nicht nur aus Personen bestehen können, indem er Bernhards von Clairvaux Konzept der ‚Erinnerung‘ als ‚Gedankennetz‘ beschreibt, ‚Vergessen‘ als dessen Entflechtung.

Eine Reihe interessanter Aspekte zu (spät)mittelalterlichen städtischen und höfischen Netzwerken enthält der Band also, doch wird er durch die Einleitung der Herausgeberinnen unter den Erwartungsdruck gesetzt, einen hypertrophen Forschungsansatz theoretisch-methodisch einzuhegen. Aus zwei Gründen gelingt dies nicht recht: Erstens setzen viele Beiträger den Schwerpunkt auf beispielhafte Verflechtungen statt auf theoretisches Problematisieren; und auch wenn die Herausgeberinnen dies als Untersuchung faktischer Netzwerkgrenzen ankündigen, ist von solchen nicht immer die Rede. Zweitens setzt sich der Band statt mit dem aktuellen Forschungsstand der ‚Sozialen Netzwerkanalyse‘ fast ausschließlich mit den vor vier Jahrzehnten entwickelten Konzepten Wolfgang Reinhards auseinander – Kristina Odenweller bildet hier eine Ausnahme. So manche Kritik findet daher nicht ihr Ziel: Die Qualität von Beziehungen etwa vermag die soziale Netzwerkanalyse bei all ihrer Problematik durchaus zu modellieren; und eine Reihe weiterer Erhebungsschwierigkeiten sind eher klassische Herausforderungen der Quellenkritik. Dem „artifizielle[n] Gespinst“ (S. 92) eines Briefbuchs etwa ist nicht zwangsläufig die Netzwerkqualität abzusprechen, kann es doch als vom Autor konstruiertes Netzwerk verstanden werden.

Hier liegt meines Erachtens auch ein Potenzial des Bandes: Sein wiederholter Verweis auf wahrgenommene Netzwerke könnte in einer verstärkten kulturgeschichtlichen Wendung der sozialen Netzwerkforschung aufgegriffen werden. So thematisiert auch Christian Hesse (S. 259–269) in seiner ausgesprochen gewandten Zusammenfassung unter anderem die „Bewertung und Qualität von Netzwerken“ (S. 266). Ansonsten geht aus vielen Beiträgen das Potenzial des Netzwerkparadigmas für die Untersuchung städtischer und höfischer Verflechtungen hervor. Vor allem aber wird den Band zur Hand nehmen, wer sich komprimiert über die Forschungen der promovierten und habilitierten Beiträger zu Netzwerkaspekten informieren will.

Eine theoretisch-methodische Neujustierung der Netzwerkforschung aber hätte vielleicht doch die Diskussionsbeiträge einiger der „üblichen Verdächtigen der historischen Netzwerkforschung“ (S. 10) benötigt, die die Herausgeberinnen dezidiert außen vor lassen wollten, obwohl auf diesem Feld sogar Habilitierte zur Verfügung stehen. Eine ungewollte Affirmation der Bedeutung von Netzwerken?

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