M.-A. Camp u.a. (Hrsg.): Reiseziel: Immaterielles Kulturerbe

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Titel
Reiseziel: immaterielles Kulturerbe. Ein interdisziplinärer Dialog. Destination: patrimoine culturel immatériel. Un dialogue interdisciplinaire


Herausgeber
Camp, Marc-Antoine; Eggmann, Sabine; Taufer,Barbara
Erschienen
Zürich 2015: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
246 S.
Preis
€ 31,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Stefan Groth, Universität Bonn

Mit dem UNESCO-Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes (2003) sind Bemühungen verbunden, als schützenswert erachtete „überlieferte mündliche, musikalische, darstellende, rituelle, naturbezogene, handwerkliche und kulinarische Wissensbestände und Praktiken“ – so die weite Bestimmung des Gegenstandes durch die Herausgeber/innen des zu besprechenden Sammelbandes (S. 7) – besonders zu markieren und in institutionelle Rahmen zu überführen. Im Zuge dessen erleben das immaterielle Kulturerbe und seine touristischen Potentiale in der öffentlichen und politischen Diskussion eine Konjunktur, die sich auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Verhältnis von Kultur und Tourismus niederschlägt1 und – zumal durch die Ratifikation der UNESCO-Konvention durch die Schweiz im Jahr 2008 – einen „Institutionalisierungsschub“ (S. 7) auf nationaler Ebene ausgelöst hat. Diesen Verknüpfungen von immateriellem Kulturerbe und Tourismus in der Schweiz widmet sich der Band „Reiseziel: immaterielles Kulturerbe“, der auf eine von der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde und dem Schwerpunkt „Tourismus und nachhaltige Entwicklung“ der Hochschule Luzern organisierten Tagung zurückgeht. Er besteht aus 19 Beiträgen, von denen drei auf Französisch verfasst sind und einer sich der Thematik über Illustrationen annähert. Die in vier Teile gegliederte Publikation ist explizit als Dialog zwischen Kulturwissenschaftlern und Tourismuspraktikern und -wissenschaftlern konzipiert, in dem Beiträge transdisziplinär kommentiert werden. Dass in einem solchen Dialog der Authentizitätsbegriff eine zentrale Rolle spielt und mitunter unproblematisiert bleibt, wird von den Herausgeber/innen mit einer Art „Disclaimer“ vorweggenommen.

Der erste Teil des Bandes beginnt mit Beiträgen, die die Diskrepanzen zwischen Repräsentation im Tourismus, der touristischen Imagination und dem Imaginierten und Repräsentiertem am Beispiel von Bildungsreisen des Adels im 19. Jahrhundert (Ariane Devanthéry und Rafael Matos-Wasem) und von Unterhaltungsprogrammen an Bord von Swissair-Flügen ab den 1970er-Jahren (Patricia Jäggi) thematisieren. Die „Schere zwischen imaginären Idealwelten und tatsächlicher touristischer Erfahrung“ (S. 56) wird in letzterem Beitrag als Resultat der Herstellung von Differenz verstanden, wobei hier nur die Seite der Macher von touristischen Unterhaltungsprogrammen mit Verweisen auf immaterielles Kulturerbe, nicht aber im Sinne einer Rezeptionsforschung die Sicht der Touristen näher beleuchtet wird. Isabelle Raboud-Schüle macht in ihrem Beitrag aus wirtschaftshistorischer Perspektive deutlich, wie traditionelle Feste mit touristischer Anziehungskraft nicht nur Event und Destination sind, sondern auch den Absatz von alpinen Produkten beeinflussen. Am Beispiel der „KlangWelt Toggenburg“ zeigt Stephan K. Haller aus Sicht des Praktikers, dass es im Zusammenspiel von Kreativität und „unverfälschtem Klang“ (S. 74) selbst für Insider schwierig sein kann, Unterscheidungen zwischen lokal unterschiedlichen und „authentischen“ Arten des Jodelns zu treffen. In einem Kommentar zu den ersten vier Beiträgen betont der Tourismuspraktiker Urs Wohler die Zentralität von Kulturgütern für den Tourismus (S. 83) und warnt zugleich vor dem „schmalen Grat“ zwischen „echter Folklore“ und „Kitsch und Kommerz ohne Seele“ (S. 82) – im Sinne eines Dialoges erwartet der europäisch-ethnologische Leser an dieser Stelle einen Verweis auf die Folklorismus-Debatte.

Im folgenden Abschnitt behandeln Tourismusforscher und -praktiker die Rolle der Verankerung von „lebendigen Traditionen“ – so die Bezeichnung für das Inventar des immateriellen Kulturerbes der Schweiz – in der Bevölkerung und die Glaubwürdigkeit von Inszenierungen als Voraussetzungen von Tourismusangeboten (Adrian Gsponer). Diese müssten an die Erwartungshorizonte von Touristen angepasst werden, erzeugten ihrerseits aber auch Erwartungen, die mit lokalen Praxen konfligieren könnten, so Stefan Forster und Hansjürg Gredig in ihrem Beitrag über Graubünden. Insbesondere, da direkte wirtschaftliche Effekte von zertifizierten lebendigen Traditionen selten seien und Brauchtümer als „kulturelle Substanz“ (S. 100) und Teil regionaler Identität wahrgenommen würden, sei daher bei Versuchen zur Wiederaufnahme von Traditionen der „Sozialisierungseffekt“ (S. 108) für die Begeisterung von lokaler Bevölkerung und Touristen gleichermaßen wesentlich. Fabian Weber und Fabian Kühnel-Widmann nähern sich der Frage an, wie es um die Nachfrage nach lebendigen Traditionen im Kulturtourismus bestellt ist. Es bleibt allerdings unklar, inwieweit die Datengrundlage (eine Gästebefragung von „Schweiz Tourismus“, die immaterielles Kulturerbe nicht explizit thematisiert, sowie eine studentische Arbeit) den Schluss erlaubt, dass die Zielgruppe „grundsätzlich als heimatverbunden, traditionsbewusst sowie lernfreudig und wissbegierig charakterisiert werden“ kann (S. 120) und wie sich das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage, das im Zentrum des Beitrages steht, überhaupt gestaltet. Ueli Gyr problematisiert im Kommentar zum zweiten Abschnitt, dass die Begriffe des immateriellen Kulturerbes, der Authentizität und der Region zwar im praktischen Umgang „Gebrauchsqualitäten“ hätten (S. 125), analytisch jedoch aufgrund ihrer Unschärfe, unklarer normativer Bezüge sowie ihrer sozialen Konstruiertheit nur schwer zu gebrauchen seien.

Im dritten Abschnitt des Bandes argumentiert Silke Andris, dass Kulturerbe im städtischen Raum nur einen kleinen Teil des Kulturtourismus ausmacht und die individuelle und flexible Planung von Städtetouristen eine Wettbewerbssituation erzeugt, in der das UNESCO-Siegel des immateriellen Kulturerbes einen Vorteil darstellen kann. Die Illustrationen von Isabel Peterhans über den Klostergarten des Frauenklosters Heiligkreuz in Cham bilden als alternatives Vermittlungsformat Einblicke in konkrete Situationen der touristischen Begegnung mit dem immateriellen Kulturerbe. Eindringlich und anschaulich werden hier unterschiedliche Facetten und Widersprüche im Bereich der lebendigen Traditionen thematisiert, etwa das Verhältnis zwischen Statik und Dynamik, die Rolle geheimen Wissens oder der Verkauf von Souvenirs. Lebendige Traditionen können, so zeigt Michael Blatter am Beispiel der Gansabhauet in Sursee, trotz ihrer Prädikatisierung in ihrer touristischen Bedeutung marginal bleiben, aber durch die Bereitstellung von Bildmaterial für das Regionalmarketing nützlich sein. Der musealen Vermittlung von immateriellem Kulturerbe durch Kunst am Beispiel des Wissens über die Aufschichtung von Trockensteinmauern, die Rebberge an Steilhängen abstützen, widmet sich der Beitrag von Sybille Omlin, Samuel Pont und Anne-Dominique Zufferey. Hildegard Loretan regt in ihrem Kommentar dazu an, „heritage-Ressourcen“, die in ihrem „soziokulturellem Umfeld“ als „wertvoll“ gelten (S. 184), ökonomisch zu bewerten und in einer letzten Phase über die Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und Tourismuspraktikern zielgruppenspezifisch zu positionieren. Im Anschluss an den Kommentar von Ueli Gyr ließe sich an dieser Stelle einwenden, dass sowohl die soziokulturelle als auch die ökonomische Bewertung bezüglich ihrer Maßstäbe befragt werden müssten, um Vorannahmen des „Authentischen“ oder „Erhaltenswerten“ nicht zu essentialisieren.

Der letzte Abschnitt beginnt mit einem Beitrag über die Ausrichtung der Tourismuskampagne „Ein Sommer voller lebendiger Traditionen“, deren Zusammenstellung, so die Autor/innen Barbara Taufer und Sascha Demarmels, eher auf die UNESCO-Kategorien des immateriellen Kulturerbes, statt auf die offizielle Schweizerische Liste der lebendigen Traditionen rekurriert und von der Leitidee des „get natural“ und pragmatischen Überlegungen beeinflusst religiöse, städtische und jüngere gelistete Traditionen wie einen Motorradtreff ausschließt. Die Vorsitzende des Eidgenössischen Jodlerverbands, Karin Niederberger, thematisiert die Rolle brauchtumspraktizierender Ehrenamtlicher, die und deren Vereine von der touristischen Wertschöpfung nur marginal profitierten. Um deren Unterstützung für die touristische Positionierung lebendiger Traditionen nicht zu gefährden, sei es wichtig, Praktizierende und nicht etwa Schauspieler in Werbemaßnahmen einzubinden. Der Beitrag von Giovanni Danielli beschäftigt sich mit der Besucherlenkung bei lebendigen Traditionen wie Alpfahrten oder Kuhkämpfen. Eine gründliche konzeptuelle Planung inklusive Vorleistungen und Zwangsmaßnahmen könne, so Danielli, zur Nachhaltigkeit und zur Erhaltung von Tierrassen beitragen. Kurt Luger verweist in seinem Kommentar zu diesem Abschnitt darauf, dass das immaterielle Kulturerbe im touristischen „Reputationswettbewerb“ (S. 223) als „Gütesiegel“ trumpfen könne, aus analytischer Perspektive dabei jedoch der Authentizitätsbegriff kritisch reflektiert werden müsse. Luger verwendet hier den Begriff der „aufgeführten Authentizität“ (S. 227), der die Inszenierung von Traditionen als kulturelles Muster und ökonomische Aspekte im touristischen Bereich nicht als exogenes Moment begreift – insbesondere, da Touristen nicht an „ethnologischer Wahrheitsfindung“, sondern an gutem „story telling“ interessiert seien.

Eine Verschiebung weg vom Vokabular des „Authentischen“, „Unverfälschten“ oder „Natürlichen“ hin zum Begriff der Inszenierung, der in der Europäischen Ethnologie seit längerem für die Untersuchung von Feldern nutzbar gemacht wird, in denen positiv konnotierte Differenzen von Akteuren als „authentisch“ positioniert werden2, wäre in diesem Sinne für viele der Beiträge ein Gewinn gewesen. Insbesondere da es bei den Fallbeispielen nicht um eine touristische Rezeptionsforschung geht, sondern Akteure betrachtet werden, die über die Konzeption von Kampagnen, die Organisation von Infrastruktur oder als Brauchtumspraktizierende eine Rolle im Tourismus spielen, böte der Inszenierungsbegriff, der zwar mehrfach am Rande erwähnt wird, einen Anknüpfungspunkt. Als „Zur-Schaustellung einer Selbstauslegung für andere“3 kann der Inszenierungsbegriff zwischen den Polen der „echten“ oder „natürlichen“ Substanz und der „künstlichen“ oder „kitschigen“ Aufführung vermitteln, indem er beide als Konstrukte begreift, über die normative Vorstellungen ausgehandelt werden. Die Verweise auf die Notwendigkeit der lokalen Akzeptanz, den Einbezug von lokalen Akteuren, die Verankerung in Alltagshandeln als Kriterien, die Inszenierungen „glaubwürdig“ erscheinen lassen, die Ausweitung des Begriff des immateriellen Kulturerbes sowie die Antizipation von touristischer Erwartung deuten auf solche Aushandlungsprozesse, die in den hier vorliegenden Beiträgen zum Teil auch explizit thematisiert werden.

Der Sammelband „Reiseziel: Immaterielles Kulturerbe“ zeigt damit ein zentrales Problem eines Dialogs zwischen „Kulturwissenschaft und Tourismuswirtschaft“ (S. 10) auf, ist in seiner Konzeption und Umsetzung aber nichtsdestoweniger ein überaus gewinnbringender Einblick in die vielfältigen Zusammenhänge zwischen Kulturerbe und Tourismus. Zudem ist er – und so möchten die Herausgeber/innen ihn auch verstanden wissen (S. 16) – ein wichtiger Impuls für die Fortführung der Diskussion zwischen praxisorientierten Feldern, empirischer Forschung und theoretischer Auseinandersetzung über kulturelles Erbe.

Anmerkungen:
1 Burkhard Schnepel / Felix Girke / Eva-Maria Knoll (Hrsg.), Kultur all inclusive. Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus. Bielefeld 2013; Kurt Luger / Karlheinz Wöhler (Hrsg.), Kulturelles Erbe und Tourismus. Rituale, Traditionen, Inszenierungen, Innsbruck 2010.
2 Unter anderem: Gisela Welz, Die Inszenierung von Authentizität im Kulturbetrieb. Vom Forschungsproblem zum Forschungsgegenstand, in: Klara Löffler (Hrsg.), Dazwischen. Zur Spezifik der Empirien in der Volkskunde, Wien 2001, S. 93–99.
3 Hans-Werner Retterath, Das „Kreuz des deutschen Ostens“ bei Bad Harzburg: Zur Inszenierung eines Denkmals auf Ansichtskarten, in: Jahrbuch für deutsche und osteuropäische Volkskunde 53 (2012), S. 7–36, bes. S. 8.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/