Augustynowicz: Grenze(n) und Herrschaft(en)

Cover
Titel
Grenze(n) und Herrschaft(en) in der kleinpolnischen Stadt Sandomierz 1772–1844.


Autor(en)
Augustynowicz, Christoph
Erschienen
Münster 2015: LIT Verlag
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Agnieszka Pufelska, Universität Potsdam/Centro de Investigaciones Filosóficas, Buenos Aires

Es ist nicht zu übersehen, dass sich die aktuelle deutschsprachige Osteuropaforschung in einem Widerspruch befindet: Einerseits erwartet sie, dass die osteuropäische Geschichte als Teildisziplin in die allgemeine Geschichtswissenschaft eingeordnet wird, andererseits betrachtet sie sich als ein selbständiges Fach, das nach komparativen Ansätzen (Ost-West-Vergleiche) sucht ohne sich der an der Modernisierungstheorie orientierten westlichen Gesellschaftsgeschichte zu unterwerfen. Darin liegt aber auch ein Problem begründet.1 Ein kurzer Blick auf die Geschichte der osteuropäischen Länder macht deutlich, dass diese weder heute noch in der Vergangenheit singuläre und von den westlichen Modellen klar abgegrenzte wie abgrenzbare Modernitäten entwickelt haben, die man als Vergleichseinheiten heranziehen könnte. Bis heute fehlen überzeugende, methodisch-theoretische Ansätze, die diesen Kritikpunkt entkräften und die postulierte Besonderheit der osteuropäischen Geschichte bestätigen würden. Alleine vor diesem Hintergrund ist die hier anzuzeigende Studie von Christoph Augustynowicz über die kleinpolnische und am Weichselufer gelegene Stadt Sandomierz in den Jahren 1772–1844 zu begrüßen. Denn im Gegensatz zu den Abhandlungen, die über den simplifizierten Ost-West-Vergleich bzw. -Gegensatz nicht hinausgehen oder sich lediglich auf strukturelle Aspekte konzentrieren, bietet sie eine methodisch heterogene, gesamteuropäische Perspektive auf ein mikrogeschichtliches Thema.

Bereits in der Einführung distanziert sich Augustynowicz von dem gepflegten Antagonismus zwischen Sozialgeschichte und historischer Anthropologie und weist – in Anlehnung auf den polnischen Wirtschaftshistoriker Witold Kula - darauf hin, dass sich die traditionelle Aufteilung in „Mikro“ und „Makro“ als forschungshemmend erweist (S. 15). Sein Ziel ist vielmehr, zwischen sozial- und kulturwissenschaftlichen historischen Interessen zu vermitteln und das Phänomen Grenze als eine dynamische Interferenz zwischen makroräumlicher bzw. -politischer Grenzkonzeption (Staat) und lebensweltlichen Zusammenhängen im Grenzraum (lokale Gesellschaft) aufzuzeigen (S. 11). Seiner Untersuchung legt er ein Narrativ zugrunde, das nicht primär von Strukturen, sondern von den jeweils vorherrschenden gruppenspezifischen sowie individuellen Erfahrungen und Auffassungen ausgeht. Damit sprengt Augustynowicz das harte Methoden-Gehäuse der Sozialgeschichte, selbst auf die Gefahr hin, dass diese Dezentralisierung und Multiperspektivität eine gewisse Beliebigkeit und Unschärfe implizieren.

Das Risiko hat sich gelohnt: Augustynowiczs innovativer Ansatz bietet einen allgemeinverständlichen Interpretationsrahmen für die empirischen Textinhalte. Am Fallbeispiel der mittelgroßen Grenzstadt Sandomierz zeigt er, wie die makropolitischen Ereignisse (Teilungen Polens, neue Grenzlegung, administrative Vereinheitlichung der neuen Provinzen mit den Kerngebieten, polnische Unabhängigkeitsbestrebungen) auf regionaler Ebene wirkten und wie die rasch wechselnden Herrschaften (Polen-Litauen, Habsburgermonarchie, Russland, Herzogtum Warschau, Königreich Polen) die Stadt und ihre Region prägten. In der verfolgten Gegenüberstellung von überregionalen normativ-administrativen Konzepten und regional-lokalen faktischen Verhältnissen wird zunächst auf die administrativen Systeme (Kapitel II) eingegangen; anschließend werden wirtschaftliche Gegebenheiten und gesellschaftliche Möglichkeiten (Kapitel III), sowie Räume und Grenzen in der Stadt und um die Stadt (Kapitel IV) behandelt. Anhand von Gesundheits- und Bildungswesen der Stadt (Kapitel V) werden dann alle drei Ebenen noch einmal eingehend behandelt. Die kurze Darstellung der Stadtgeschichte bis 1772 (Kapitel I) sowie der Blick am Ende auf die Regionalisierung und Re-Zentrierung in Sandomierz seit der Mitte des 19. Jahrhunderts (Kapitel VI) rahmen die Arbeit inhaltlich und stellen den Forschungsstand auch chronologisch in breitere Zusammenhänge.

Das von Augustynowicz angewandte Prinzip, die ausgewerteten Quellen in einem festgelegten inhaltlichen Rahmen von Region und Grenze zu halten, erleichtert die Lektüre und das durchgängige Verständnis des mannigfachen und heterogenen Materials. Besonders hervorzuheben ist seine differenzierte und erkenntnisreiche Analyse der ethnisch-konfessionellen Gruppen in Sandomierz. Die polnischen Katholiken und Juden machten die Mehrheit der Bevölkerung aus, wobei dem seit dem Ende des 18. Jahrhunderts verzeichneten Bevölkerungswachstum „das überproportionale Wachstum der jüdischen Bevölkerung gegenüberstand“ (S. 83). Angegliederte Gebiete sowie deren Bevölkerung mussten unter dem Druck von den neuen Obrigkeiten neu strukturiert werden; ein neues Selbstverständnis musste sich entwickeln. Der von oben geführte Integrationsprozess und die von unten vollzogene Anpassungspraxis liefen parallel zueinander, auch wenn sie teilweise gegensätzliche Formen annahmen. Das Resultat war die Entwicklung von regionalspezifischen Kongruenzen, Kompromissbereitschaften, Einschließungen, aber auch Konflikten und Widersprüchen. Mit profunder Detailkenntnis schildert Augustynowicz den Einfluss der wechselnden Herrschaftspraktiken auf die sozio-ökonomische Situation der konfessionellen Identitätsgruppen in Sandomierz und betont erneut, dass sich dieser Wandel kaum in sozialstrukturellen Kategorien fassen lässt. „Die Grenzen der gesellschaftlichen, ethnischen oder konfessionellen Identitätsgruppen in der Stadt waren im Sinne unsichtbarer Grenzen zueinander fließend und nicht im Stadt- und Weichbild markiert“ (S. 169).

Als gliedernde und interpretatorische Einheiten gelten für Augustynowicz Raum und Zeit. Die Konstituierung von Räumen innerhalb der Stadt Sandomierz wurde einerseits durch den naturräumlichen Weichselverlauf und andererseits durch obrigkeitliche Kennzeichnung und Überwachung bestimmt. Wie sich diese topographischen und politischen Gegebenheiten auf die Entwicklung der Stadt sowie die Lebenswelten ihrer Einwohner auswirkten, steht im Mittelpunkt von Augustynowiczs Analyse. Dabei werden neben wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Aspekten die Weichsel als raumkonstituierender Faktor, aber auch der „Eigensinn“ der Grenzraum-Bewohner thematisiert. „Eigensinn bedeutet historisch-anthropologisch gedacht nicht ausschließlich Widerstand, sondern jegliche Verweigerung bipolarer Orientierung, jegliche praktische Gegenzeichnung starrer Entweder-Oder-Schemen“ (S. 237).

Diese raumbezogenen Konzepte für die Organisation von Prozessen der Herrschaftsausübung, von Daseinsbewältigung und sozialen Interaktionen führen direkt zum zweiten, zeitlichen Referenzrahmen. Mithilfe des Zentrum-Peripherie-Modells verdeutlicht Augustynowicz die seit 1772 fortschreitende grenzbedingte Peripherisierung Sandomierzs. Der häufige Herrschaftswechsel, die administrative Einteilung der Stadt und die verkehrstechnische Isolierung der Region durch die Bestimmung des oberen Weichselufers als Grenzlinie marginalisierten allerdings nicht nur die Stadt und ihre Umgebung, sondern auch die Lebenswelten ihrer Einwohner. Angesichts dieser folgenträchtigen Grenzziehung besaßen die staatlich-obrigkeitlichen Zugriffe für Augustynowicz einen kolonialen Charakter. Die Teilungsmächte expandierten auf Kosten Polen-Litauens von ihren Rändern her. Die Grenzgebiete an der Peripherie waren zugleich so etwas wie Kolonien. Aus diesem Grund versucht das Buch von Augustynowicz nach der Relevanz methodologischer Ansätze aus den postcolonial studies zu fragen und liefert damit eine Perspektive, die die Meistererzählung der imperialen und nationalen Historiographie desavouiert.

Natürlich würde man sich bei der Lektüre wünschen, mehr über die politisch-räumliche Positionierung Sandomierzs im Vergleich zu anderen Grenzstädten zu erfahren oder eine Charakterisierung der Grenzkulturen zu bekommen, die sich schwer auf die regionalen Praktiken reduzieren lassen.2 Dieser kleinen Kritik zum Trotz ist Christoph Augustynowicz mit seiner quellengesättigten, inhaltsreichen Untersuchung ein beeindruckendes Werk gelungen. Sein theoretisch-methodisches Herangehen sollte der Regionalforschung als Wegweiser dienen und ein Anreiz dafür sein, sich noch intensiver mit den regionalgeschichtlichen Folgen der Teilungen Polens auseinanderzusetzen.

Anmerkungen:
1 Siehe hierzu: Michael G. Müller u.a., Traditionen und Perspektiven vergleichender Forschung über die historischen Regionen Osteuropas, in: Osteuropäische Geschichte in vergleichender Sicht, Berliner Jahrbuch für osteuropäische Geschichte 1 (1996), Berlin 1996, S. 11–43, hier: S. 30.
2 Vgl. Miloš Řezník, Zur Einführung: Die Erfindung der Regionen? Überlegungen zum Konstruktcharakter der Regionalität und zur sächsisch-böhmischen Geschichte, in: Grenzraum und Transfer. Perspektiven der Geschichtswissenschaft in Sachsen und Tschechien (=Chemnitzer Europastudien, Bd. 5). Berlin 2007, S. 13–29; Thomas Kühne, Die Region als Konstrukt, Regionalgeschichte als Kulturgeschichte, in: James Retallack (Hrsg.), Sachsen in Deutschland. Politik, Kultur, Gesellschaft 1830–1918, Bielefeld 2000, S. 253–264.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension