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Titel
Dichten und Denken in Österreich. Eine literarische Ethnographie


Autor(en)
Dippel, Anne
Erschienen
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Andreas Womelsdorf, Institut für Ethnologie, Universität Heidelberg

Bereits im Untertitel ihrer Ethnographie meldet Anne Dippel den literarischen Charakter ihrer kulturanthropologischen Studie an, mit der sie 2013 promoviert wurde und die auf einer über zweijährigen Feldforschung in der Kaffeehaus- und Literaturszene Wiens basiert. Literarisch ist diese Arbeit aber nicht nur deshalb zu nennen, weil sie die kulturellen Bedingungen der Existenz „österreichischer Literatur“ anhand eines recht besonderen sozialen Umfeldes in den Blick nimmt, sondern zudem ihre Forschungsergebnisse als Literatur erfahrbar zu machen sucht. Dabei geht Dippel der Frage nach, „wie und warum Schriftsteller an der Konstruktion einer eindeutigen nationalen Identität mitwirken. Sie erzählt, wie ihre Produkte den Status bildungsbürgerlicher Hochkultur erlangen, zu Waren des Staates in einer globalisierten Wirtschaft werden, zugleich aber als Gaben der Kunst maskiert bleiben und sich damit als Verhandlungsort [des] kulturellen Gedächtnisses anbieten, zu einer Bühne gesellschaftspolitischer Projektionen werden“ (S. 21).

Der analytische Teil der Monographie besteht aus sechs, miteinander verkoppelten Teilen, wobei der Abstraktionsgrad, „dem Weg der Erkenntnis folgend“ (S. 21), schrittweise angehoben wird. Im ersten dieser fünf Teile, das heißt, dem zweiten Kapitel, legt die Autorin einige anleitende erkenntnistheoretische und methodologische Bemerkungen zum Projekt der ethnographischen Feldforschung vor (S. 38–41); dort führt sie den Begriff des Signems ein, der eine Beschreibung der Konstitution und Strukturierung ihres „Feldes“ liefern soll (S. 34–38) und Objekte sowie Akteure beschreibt, die je nach Betrachtung und diskursivem Kontext zwischen Signifikant und Signifikat oszillieren. Dadurch gelangt sie zu einer historischen wie gegenwartsbezogenen Diskussion der Werke des österreichischen Avantgardedichters Ernst Jandl, dessen Schatten bis heute die Wiener Literaturszene nicht nur auf institutionelle (zum Beispiel durch Preisverleihungen), sondern besonders auf politische Weise beherrscht, da sich in Jandls Werken die Spezifizität österreichischer Identitätspolitiken im Nachgang des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus auf herausragende Weise spiegeln. Bemerkenswert ist hier der Begründungszusammenhang, denn eine Untersuchung Jandls ergibt sich erst aus der ethnographischen Erfahrung selbst (S. 34–36).

Das dritte Kapitel der Untersuchung widmet sich der Auseinandersetzung der Beziehung von Raum, sozialem Gedächtnis und Identität: Inwiefern findet sich „Wien“ überhaupt als Knotenpunkt österreichischer Identität artikuliert? Bereits zu Anfang dieses Kapitels entfaltet die Autorin einen Kernaspekt ihrer Untersuchung, nämlich, dass österreichische Identitätspolitik ganz wesentlich auf der Stilisierung einer einstmals glorreichen Vergangenheit fußt (S. 71–77), die Wien als Drehscheibe eines multikulturellen Imperiums an der Schwelle zwischen Böhmen, den adriatischen Gefilden und dem kontinentalen Mitteleuropa verortet (S. 83–96). Im Grunde fällt Wien damit die Rolle eines Schwellenwesens zu, dem Anne Dippel im literarischen Schaffen Ingeborg Bachmanns folgt und dadurch ein wechselhaftes Verhältnis zur glorifizierten Geschichte insbesondere der deutschsprachigen Bevölkerung des ehemaligen Habsburgerreiches und der nationalsozialistischen Vergangenheit der zweiten Republik nachzeichnet (S. 103–104).

Dabei steht – als Brücke zum nächsten, vierten Kapitel – letztlich das Verhältnis von Sprache und Nation zur Disposition, das bekanntlich insbesondere in der in Zentraleuropa verbreiteten kulturnationalen, romantischen Tradition ihre durchschlagende politische Bedeutung erhalten sollte (S. 113–114). Der Autorin gelingt es die österreichische Identitätspolitik mit dem poetischen Verständnis der Schriftstellerin über Dichtung im Deutschen nach Auschwitz zu verschränken, und sie liefert den Beweis, dass für Bachmann die Sprache eine tiefgreifende politische Bedeutung besitzt, die letztlich nicht nur mit der Artikulation einer Differenz zwischen „dem Deutschen“ und „dem Österreichischen“, sondern vielmehr an die Erinnerung des Nationalsozialismus in einem Land gebunden ist, das sich als „erstes Opfer des Faschismus“ stilisierte (S. 158–168).

Sprachkultur und damit auch nationale Politik sind in der Kulturförderung der Zweiten Republik institutionalisiert und sedimentieren sich auch in den wirtschaftlichen Impulsen des Staates. Der Literaturbetrieb in Österreich bildet einen Gegenpol zur kollektiven Politik des Verdrängens. Die prekären Startbedingungen von österreichischen Schriftsteller/innen und ganz allgemein dem österreichischen Verlagswesen im deutschsprachigen Buchmarkt werden durch gezielte Kunstförderung abgefedert. Auch sie tragen zum überproportional hohen Erfolg österreichischer Schriftsteller/innen im Literaturbetrieb bei. Welche Optionen Schriftsteller/innen sich im Spannungsfeld zwischen „Kunst“ und „Markt“ eröffnen, versucht Dippel am Beispiel des Buches anhand der analytischen Unterscheidung von „Gabe“ und „Ware“ auszuloten und damit zugleich die Rahmenbedingungen zu beschreiben, die die staatliche Kulturpolitik und die marktwirtschaftlichen Entwicklungen des Buchhandels in Österreich bestimmen. Dabei nimmt die Autorin die Verwandlung des Buchmarktes in Österreich seit den medientechnologischen Innovationen in Druck und Distribution von den 1990er-Jahren an in den Blick.

Im sechsten Kapitel schließlich resümiert die Autorin ihre Einsichten über die Doppelbödigkeit von Sprachpraxis und -politik im Zusammenhang der Spezifika österreichischer Geschichte (S. 239–245): „Weder die Aussage ‚Österreicher sind keine Deutschen‘ noch ‚Österreicher sind Deutsche‘ ist richtig.“ (S. 244) Die Konstruktion einer nationalen Identität auf Grundlage einer sprachlichen zerbricht an der Vielstimmigkeit der Sprache, die damit zwar die Bemühung einer nationalen Sprachpolitik nicht selbsttätig zurückweist, wohl aber einen nationalistischen Reduktionsschluss (S. 244–245). Der Umgang mit Erinnerung und Geschichte veranlassen Dippel, im letzten Kapitel ihre eigenen politischen Geschichtlichkeit zu reflektieren – letztlich auch, um den dialektischen Erkenntnisprozess ethnographischen Schaffens überhaupt erst zu eröffnen (S. 256–282).

Bestimmt wird die vorliegende Arbeit wesentlich von dem Begriff des Signems, der im zweiten Kapitel knapp und in stark verdichteter Form als „ein instabiler Signifikant, hybrider Akteur, Mythos des Alltags, Mittler zwischen der Vergangenheit und Gegenwart, Schlüsselfigur und Rhizom des literarischen Diskurses“ (S. 37) vorgestellt wird. Dieser Begriff ist – das muss hier nochmals unterstrichen werden – aus der Erfahrung „im Feld“ gewonnen und wird somit als erkenntnistheoretische Figur mobilisiert, um die Konstitution dieses spezifischen „Feldes der Literatur“ zu beschreiben.

„Dichten und Denken in Österreich“ ist aber eben nicht nur eine Untersuchung (von vielen), die sich mit der Bildung nationaler Identität(en) oder der Subjektivierungsformen in Literatur und Kunstgewerbe befassen, sondern vielmehr ein „schriftgewordener Traum“ (S. 282). Ebenso wie die Dichtung versucht die Ethnographie das irrige Versprechen einer Scheidung von „Dichten“ und „Denken“ aufzulösen und so die Erfahrung von Welt, die ohnehin immer schon Verdichtung und Reflexion bedeutet, durch die Erinnerung neu zu ordnen (S. 280–282). Die Arbeit ist nicht nur als abgeschlossene Analyse dieser oder jener Identitätspolitiken einem entsprechenden Fachpublikum zugedacht worden, sondern versucht darüber hinaus, die erkenntnistheoretischen Möglichkeiten der ethnographischen Methode zu testen. Daher rührt auch der Doppelsinn ihres Untertitels, denn das konstitutive Paradox und damit die Pointe des Werkes besteht darin, zugleich eine „literarische“ Bestimmung der sozialen Bedingungen der Möglichkeit von „Literatur“ sein zu wollen.

Das methodische Werkzeug, das diesen Prozess ermöglichen soll, ist der sogenannte Erlebnisstrom, der von Dippel eigens in einem ausgekoppelten Aufsatz vorgestellt wird. Als vollständig durchkomponierte, literarische Erfahrung, die sich aus Interviews und Feldnotizen zusammensetzt, soll der Erlebnisstrom die Brücke zwischen der sozialwissenschaftlichen, erklärenden Darstellung und der subjektiven Erfahrung von Forschen und der lesenden Rekonstruktion schließen.1 Die Ethnographie soll so die Leserin nicht nur über die untersuchten sozialen Phänomene in Kenntnis setzen, sondern zum Nach-Denken bewegen und auf diese Weise die radikale Kontingenz nicht nur der Erfahrung der Forschung und also einer sozialen Realität, sondern auch der Präsentation der Ergebnisse nachvollziehbar machen, die Position Leser/in in diesem Erkenntnisakt stärken (S. 195).

Nun wäre einerseits kritisch anzumerken, dass der teils mäandernde und eklektische Stil der Autorin eine klare Einsicht auf ihre grundlegenden Hypothesen verstellt und die intendierte Tiefe der Arbeit dadurch zuweilen etwas künstlich wirkt. Andererseits ist dieser, durchaus streitbare Umgang mit der Bedeutung der Sprache als Instrument von Erkenntnis und ethnographischer Praxis hier dezidiert als Abkehr von systematisierenden und kolonisierenden Stilen ethnographischen Schreibens gewählt, das heißt, steht selbst in einem politischen Verhältnis zum Gegenstand ihrer Schrift: der Politiken der Sprache.

Anmerkung:
1 Anne Dippel, Der Erlebnisstrom: Ein Werkzeug ethnografischen Schreibens, in: Katrin Amelang / Silvy Chakkalakal (Hrsg.), Abseitiges: An den Rändern der Kulturanthropologie, Berliner Blätter 68 (2015), S. 72–83.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/