Y. Kuiper u.a. (Hrsg.): Nobilities in Europe in the Twentieth Century

Cover
Titel
Nobilities in Europe in the Twentieth Century. Reconversion Strategies, Memory Culture, and Elite Formation


Herausgeber
Kuiper, Yme; Bijleveld, Nikolaj; Dronkers, Jaap
Reihe
Groningen Studies in Cultural Change L
Erschienen
Anzahl Seiten
VIII, 357 S.
Preis
€ 67,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Monika Wienfort, Historisches Seminar, Bergische Universität Wuppertal

Während sich der Aufschwung der Adelsgeschichte in der Moderne in Deutschland bis auf wenige Ausnahmen auf das 19. Jahrhundert konzentriert, stellt die Forschung in anderen europäischen Ländern, namentlich in Frankreich und den Niederlanden, schon seit längerem die Frage, ob und wie die Geschichte des Adels im 20. Jahrhundert, im Kontext von Elitengeschichte einerseits und Identitäts- und Erinnerungskulturgeschichte andererseits, die Perspektiven einer transnationalen europäischen Zeitgeschichte ergänzen kann. Die niederländischen Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes gehen dabei vor allem von den Überlegungen aus, die Monique de Saint Martin im Anschluss an Pierre Bourdieu zum symbolischen Kapital des ehemaligen Herrschaftsstandes angestellt hat.1 Sie versammeln Beiträge über neun kontinental- und nordeuropäische Länder, ergänzt durch zwei transnationale Studien zu adligen Juden (Hubert Schijf) und zum Begriff der Rekonversion, also des Austausches der Bourdieuschen Kapitalsorten, als Leitperspektive auf verschiedene europäische Adelsformationen, die allesamt als Kollektiv nicht mehr zu den nationalen Eliten gehören (Monique de Saint Martin).

Angesichts des sehr disparaten Forschungsstandes verwundert es nicht, dass die Beiträge heterogen ausfallen und insgesamt eher als Bausteine einer zukünftigen transnationalen europäischen Adelsgeschichte bewertet werden können. Dabei reichen einige Beiträge (Viktor Karady über adlige ungarische Studenten, Nikolaj Bijleveld über den niederländischen Adel um 1900 und Philipp Korom / Jaap Dronkers über adlige Unternehmer und Manager im Habsburgerreich) in das lange 19. Jahrhundert zurück. Thematisch liegt der Schwerpunkt weniger auf der Politik (Maria Malatesta über die Haltung italienischer Adliger zum Faschismus) als auf Aspekten der kulturellen Identität (Göran Norrby über die standesgemäße Berufswahl schwedischer Adliger; Anna Maria Äström über finnische Gutshäuser; Michael Seelig über den geflüchteten und vertriebenen ostelbischen Adel in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik; Silke Marburg über die Wettiner in Sachsen 1989, Paul Janssens über die Wohnsitzentscheidungen für Brüssel im kulturell geteilten Belgien).

Von einer Bilanz der historischen Adelsforschung zum 20. Jahrhundert ist man naturgemäß noch weit entfernt. In sämtlichen europäischen Ländern, die hier thematisiert werden, lassen sich Spuren von Adel finden, in der Pariser mondänen Welt vor dem Zweiten Weltkrieg (Alice Bravard) und selbst im sozialistischen Polen, wo sich die Szlachta oder genauer: einige ihrer Angehörigen als Teil der patriotischen Intelligenz neu erfand (Longina Jakubowska). Über die gesellschaftliche Relevanz der Befunde kann allerdings gestritten werden. Angesichts der Bedeutung der Revolutionen von 1917 bis 1919 in Russland, Deutschland und Österreich-Ungarn für die Stellung des Adels scheint die Einbeziehung der Welt vor 1914 für eine Geschichte des 20. Jahrhunderts zunächst schwierig. Für Belgien, die Niederlande, Frankreich und die skandinavischen Länder fällt dagegen die Prüfung auf Kontinuitäten positiver aus. Möglicherweise ließe sich die These vertreten, dass der Adel in den europäischen Monarchien durch seine historische Bindung an diese zumindest über einige Jahrzehnte eine relativ größere gesellschaftliche Rolle spielen konnte, wobei es sich von selbst versteht, dass hier nur von einzelnen Adligen bzw. adligen Familien die Rede sein kann, nicht von einem definierten Adel als Stand. In einem verhältnismäßig kleinen Land wie den Niederlanden, in Belgien, Finnland oder Schweden lässt sich Adel besser auch als Face-to-Face-Community vorstellen als in Frankreich oder Deutschland. In Großbritannien und den Niederlanden könnten darüber hinaus bestimmte Schulen und Universitäten als Sozialisationsorte der Eliten eine Rolle spielen.

Übrigens kommt eine geschlechtergeschichtliche Perspektive trotz mancher Einzelbefunde insgesamt zu kurz, die sich etwa an den vorliegenden Arbeiten zu adligen Frauen und Berufstätigkeit oder an der Männlichkeitsforschung der letzten Jahrzehnte orientieren könnte. Interessant erscheint die Beobachtung, dass in den letzten beiden Jahrzehnten eine verstärkte Tendenz zur Formulierung eines adligen Selbstverständnisses im privaten Vereinswesen nachweisbar ist. Der schwindenden Sichtbarkeit des Adels als Gruppe jenseits des immer noch wachsenden Celebrity-Status der königlichen Familien korrespondiert offenbar ein Bedürfnis nach Vergemeinschaftung nach innen. Allerdings dürfte dieses Verlangen kaum adelsspezifisch sein, sondern dem generellen Trend der Suche nach Identität in einer globalisierten Welt entspringen. Damit wäre der europäische Adel im 21. Jahrhundert dann endgültig in der Welt der Commoners angekommen.

Anmerkung:
1 Monique de Saint Martin, Der Adel. Soziologie eines Standes, Konstanz 2003.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension