N. Grosch: Lied und Medienwechsel

Cover
Titel
Lied und Medienwechsel im 16. Jahrhundert.


Autor(en)
Grosch, Nils
Reihe
Populäre Kultur und Musik 6
Erschienen
Münster 2013: Waxmann Verlag
Anzahl Seiten
206 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hartmut Möller, Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik, Hochschule für Musik und Theater Rostock

„Gegen Ende des 15. Jahrhunderts war die süddeutsche Druckindustrie in eine Krise geraten [...]. Genau in diesem Moment entdecken die deutschen Buchdrucker das Lied als Marktsegment“ (S. 179). Mit dieser für die traditionelle Musikwissenschaft ungewohnt neuen Perspektive auf die frühneuzeitliche Ausgangslage geht es dem Verfasser der vorliegenden Arbeit um eine gründliche Umfärbung eingefahrener Geschichtsbilder in der Musikwissenschaft. Dabei setzt Nils Grosch den von Rolf Wilhelm Brednich seit 1974 geforderten medienwissenschaftlichen Paradigmenwechsel für den Bereich der Erforschung des Liedes im 15./16. Jahrhundert konsequent in die Tat um.1 Er thematisiert gleichzeitig eine Reihe grundsätzlicher Fragen der methodischen und theoretischen Grundlegung seines Faches. Aus diesem doppelten Anspruch heraus ist die Arbeit in ihrer stringenten, prägnant formulierten Gliederung in drei theoretische Kapitel, die gut die Hälfte der Arbeit ausmachen, und „Fünf Monographien zur Liedüberlieferung“ unterteilt. In der Durchführung seines Programms stellt Grosch unter Beweis, dass für ihn die Offenlegung seiner theoretischen Annahmen, die Verbindung fachspezifischer und kulturwissenschaftlicher Methoden sowie Stringenz und Plausibilität in der Argumentationsführung selbstverständlich sind.

Überzeugend argumentiert der Verfasser im ersten Kapitel („Über das Alter der Populären Musik, die Erfindung des ‚Volkslieds‘ und die Konstruktion von ‚Tenorliedern‘“) aus medientheoretischer Perspektive kritisch gegen die Gegenüberstellung von sogenanntem ‚echtem Volkslied‘ und massenmedial vermittelter populärer Musiken (in Absetzung von Konzepten der Popularmusikforscher Tagg und Wicke). Medientheoretisch auf Marshal McLuhan und Michael Giesecke zurückgreifend2, vermag er zu zeigen, dass es sehr wohl bereits vor der Zeit industrieller Produktion massenmediale Distribution populärer Musik gegeben hat: Bereits in der Frühen Neuzeit wurden unter anderem auch Lieder technischer Reproduktion, also industrieller Herstellung und kommerzieller Vermarktung, unterworfen. „Lieder, deren Verbreitung, Rezeption, ja überwiegend auch deren Entstehung geprägt war von der Medientechnologie ihrer Gegenwart und einer Verbreitungsstrategie, die marktwirtschaftlichen Gesetzen gehorchte, lassen sich sinnvoller mit dem Instrumentarium der Medienwissenschaft und der popular music studies als mit dem von Kunst und Volksliedforschung begreifen.“ (S. 35)

Ein weiterer wichtiger Beitrag zur Fachdiskussion gelingt im Hinblick auf die so genannte ‚Tenorliedtheorie‘. Bis heute als Terminus technicus sowie als Epochen- und Gattungsbegriff für das komplette mehrstimmige Liedrepertoire vom Lochamer Liederbuch bis zu Georg Forsters Fünftem Liederbuch allgemein angewandt, liegt ihm offenbar eine zirkelschlüssige Argumentation zugrunde, die in keiner Weise den medien- und kommunikationshistorischen Bedingungen der Zeit gerecht wird (S. 14–26). Denn Böhmes und Erks (Re-)Konstruktionsversuche von angeblichen Volksliedbelegen aus den Tenorstimmen mehrstimmiger Lieder werden überzeugend als Strategie der ‚invented traditions‘ (Hobsbawm) eingeordnet (S. 17f.). Darüber hinaus stellt Grosch überzeugend heraus, dass in jüngeren musikwissenschaftlichen Studien von Keyl und Schwindt zwar die stilistische und aufführungspraktische Dimension des Tenorlied-Konzepts vorsichtig kritisiert wird, nicht aber dessen ideologische Implikationen.3 Dabei kann er nachdrücklich den Ideologiecharakter dieses Konstrukts jenseits der musikalisch-satztechnischen Anlage belegen: „Die vorgebliche Theorie vom Tenorlied [das heißt aus mehrstimmigen Sätzen angeblich präexistente (Volks-)Liedweisen zu extrahieren], erweist sich als ein bereits im 19. Jahrhundert begonnenes, im ‚Dritten Reich‘ wissenschaftlich untermauertes ideologisch motiviertes Konstrukt, das in späteren Publikationen, wenngleich zumeist ohne Benennung jener Argumentation, weiterhin einflussreich vertreten wurde.“ (S. 31)

Im zweiten und dritten Kapitel überzeugen die umfassende, anschaulich und prägnant formulierte Darstellung von musikbezogener Kulturgeschichte: einerseits mit Blick auf die verschiedenen medialen Erscheinungsformen von Liedern der Frühen Neuzeit, andererseits bezogen auf deren Rezeption und Kommunikation. Dafür arbeitet der Autor im zweiten Kapitel („Das Lied in der Gutenberg-Galaxis: Druck, Handschrift, Mündlichkeit“) heraus, dass durch die Druckindustrie und vor allem durch den Wechsel vom Mehrphasen- zum Einphasendruck der 1530er-Jahre das Lied in ein neues Kommunikationsstadium gebracht wurde und dass die erschwinglichen Kleindrucke der Liedflugschriften mit ihrer extremen Marktbezogenheit zum Leitmedium der frühkapitalistischen Medienindustrie wurden. Die gedruckten Lautentabulaturen bestimmt Grosch als musikalischen Beleg für den von Giesecke konstatierten Funktionswandel von multi- zu monomedialer Kommunikation. Vokalpolyphonie wird im gedruckten Tabulaturbuch für Liebhaber und Anfänger lesbar gemacht, die instrumentale Bearbeitung ist Konsequenz. Entgegen traditioneller Argumentationen der Musikwissenschaft, die Musik von den Marktspezifika der typographischen Kommunikation freizusprechen überträgt Grosch im dritten Kapitel („Rezeption und Kommunikation frühneuzeitlicher Lieder“) gewinnbringend die Strukturanalyse des frühneuzeitlichen Buchmarkts durch die historisch ausgerichtete Medienforschung auf den Markt für Liederbücher. An Vorreden zu Musikdrucken und anderen Quellen belegt er, wie die gedruckten Liederbücher anders als handschriftliche Sammlungen nicht mehr auf bestimmte Individuen bzw. Gruppen beschränkt waren, und wie über das Lied versucht wurde, unter anderem Steuerungsfunktionen für die Freizeitgestaltung von Jugendlichen und die Annäherung der Geschlechter zu übernehmen.

Im letzten Kapitel („Fünf Monographien zur Liedüberlieferung“) werden exemplarisch fünf Lieder als Liedtypen medien- und überlieferungsgeschichtlich dokumentiert und analysiert. Hier verbindet Grosch souverän Methoden von Quellenforschung, Musik- und Textanalyse mit mediengeschichtlichen Fragestellungen, wobei er zu Recht keinen Anspruch auf für den Leser langweilige philologische Vollständigkeit und quellenheuristische Neuheit legt. Hervorgehoben seien an dieser Stelle drei Belege für diese disziplinenübergreifende und -integrierende Arbeitsweise am Beispiel des Lieds Ach Elslein, liebes Elslein: (1) die philologisch scharfsinnige Argumentation im Blick auf die frühe böhmische Überlieferung von angeblichen Vorlagen im Verhältnis zur Melodie des Glogauer Liederbuchs; (2) die Verschränkung von Analyse und medienhistorischer Einordnung der Orgeltabulatur-Fassung in Agricolas Musica instrumentalis; (3) der transdisziplinäre Zugriff bei der Verbindung von musikanalytischen Gesichtspunkten und Einsichten in die Drucktechnik beim Quodlibet. In allen Monographien präsentiert sich der Autor genauso versiert bei Quellenarbeit und musikanalytischen Detailuntersuchungen (z.B. zum Verhältnis von Othmayrs Fassung von Mir ist ein schöns brauns Maidelein zum Rhau’schen Bicinium und zur Newsidler-Tanzfassung wiederum auf der Basis eigener Transkriptionen) wie bei philologischer Diskussion von Fassungen und medientheoretischer Reflexion.

Insgesamt liegt die Stärke dieser Studie, die 2009 an der Universität Basel als Habilitationsschrift eingereicht wurde, darin, dass sie sich mit Gewinn eben nicht in einer romantisch auf ihren Gegenstand blickenden Musikwissenschaft verortet, sondern explizit die gängige Sichtweise, das Ästhetische unhinterfragt dominieren zu lassen, korrigiert. Dass dabei vielleicht manchem Traditionalisten zugespitzte Sätze wie „motiviert durch das Ziel, mithilfe des Buchdrucksystems […] ökonomisch verwertbare Objekte zu gewinnen“ (S. 186) wenig gefallen mögen, wäre kaum verwunderlich. Nils Grosch ist mit diesem Buch ein transdisziplinärer, innovativer Beitrag zur musikwissenschaftlichen Forschung gelungen, der sich über die Fachgrenzen hinweg zu lesen lohnt. Dies Buch ist auch ein erfreulicher Beleg dafür, dass auch eine kulturwissenschaftliche und medienhistorische Ausweitung der Musikwissenschaft keineswegs zur ‚Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften‘ führt – ganz im Gegenteil. Denn das innovative Potential dieser Schrift liegt in der Verklammerung von gediegener Quellenforschung, einer hervorragenden kritischen Aufarbeitung des engeren Fachdiskurses zur Liedkultur der Frühen Neuzeit und dessen Einbindung in die jüngere medientheoretische Diskussion.

Anmerkungen:
1 Rolf Wilhelm Brednich, Das Lied als Ware, in: Jahrbuch für Volksliedforschung 19 (1974), S. 11–20.
2 Marshall McLuhan, Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters, Bonn 1995; Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudien über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt am Main 1998; ders., Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft: Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie, Frankfurt am Main 2002.
3 Stephen Keyl, Tenorlied, Discantlied, Polyphonic Lied: Voices and Instruments in German Secular Polyphony of the Renaissance, in: Early Music 20 (1992), S. 434–442; Nicole Schwindt, Musikalische Lyrik in der Renaissance, in: Hermann Danuser (Hrsg.), Musikalische Lyrik, Bd.1, Laaber 2004, S. 137–254.