D. Lehnert (Hrsg.): Vom Linksliberalismus zur Sozialdemokratie

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Titel
Vom Linksliberalismus zur Sozialdemokratie. Politische Lebenswege in historischen Richtungskonflikten 1890–1945


Herausgeber
Lehnert, Detlef
Reihe
Historische Demokratieforschung 8
Erschienen
Köln 2015: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
319 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Jacob, Nord University, Norwegen

In dem von Detlef Lehnert herausgegebenen Sammelband werden insgesamt elf Biographien männlicher Politiker vorgestellt, die, so der verbindende Ansatz, ihren „politische[n] Standort“ in der Zeit des Deutschen Kaiserreiches bzw. während der Weimarer Republik wechselten, allerdings „lediglich organisationsbezogen oder meist mit zumindest einigen Akzentverschiebungen“ und zwar „von der Liberal- zur Sozialdemokratie“ (Einleitung, S. 7, Hervorhebung im Original). Anders ausgedrückt werden elf Politikerbiographien geliefert, die durch den Umstand verbunden sind, dass die entsprechenden Akteure irgendwann zwischen 1871 und 1933 in die SPD eingetreten waren. Die Übertritte selbst werden im Sammelband allerdings oft unterschiedlich gewichtet und deshalb gelegentlich ausführlicher diskutiert, an anderer Stelle jedoch recht kurz abgehandelt. Daher fehlt dem Sammelband ein wenig der Zuschnitt auf das eigentlich zu diskutierende Thema, nämlich eben besagtem Übertritt von der Links- zur Sozialdemokratie. Wurde dieser in Zeiten des Kaiserreichs vor allem von der Entwicklung der SPD bedingt, die seit den 1890er-Jahren als etablierte Partei auftreten konnte und damit nun auch „bürgerlichen Demokraten neue Wirkungs- und sogar Berufsperspektiven“ (S. 13) eröffnete, war es in der Weimarer Republik vor allem die Kursverschiebung der DDP hin zur rechtsliberalen DVP, die die linksliberalen Kräfte dazu veranlasste, sich der SPD zuzuwenden.

Im Einzelnen liefern die Beiträge vor allem Studien zu Vertretern der Sozialdemokratie des Kaiserreiches und der Weimarer Republik, die nicht zwingend zur ersten Riege derselben zählten und deshalb bisweilen in Vergessenheit geraten waren. Monika Krammes Kapitel zu Franz Mehring (1846–1919) beschreibt die zunehmende Politisierung des Journalisten, der versuchte, durch seine Pressearbeit, eine demokratisch bzw. sozialliberale Ausrichtung der deutschen Politik zu erreichen: „Mehring sah die journalistische Tätigkeit als Aufklärung im Prozess der Meinungsbildung und als Beitrag zur politischen Willensbildung im liberal-demokratischen Milieu“ (S. 40). Seine Haltung gegenüber der Sozialdemokratie wurde durch deren eigene Entwicklung bedingt und erfuhr 1890, aufgrund der politischen Erfolge der SPD, eine „letzte große [und] entscheidende Justierung“, nämlich durch „die Neubestimmung der sozialen Führungsrolle für den gesellschaftlichen Transformationsprozess“, für die Mehring „das Bürgertum in der Rolle des Treibers und des sozialen Trägers der Veränderung abgelöst sieht durch […] [einen] Arbeitertypus, der aus seiner sozialen Lage die Erkenntnis und die organisatorische Kraft zur Veränderung in Staat und Gesellschaft bezieht“ (S. 50).

Anschließend widmet sich Karl Heinrich Pohl Kurt Eisner (1867–1919), der ebenfalls durch seine journalistische Tätigkeit in das direkte Umfeld der SPD und schließlich zum Parteieintritt gelangte. „Eisners Engagement für soziale und demokratische Reformen“ (S. 68), welche Pohl als Leitlinie für das Leben des späteren ersten Ministerpräsidenten des bayerischen Freistaates vorschlägt, brachte ihn schließlich in Kontakt mit dem sozialdemokratischen Milieu, wobei Eisner stets „auf der Basis einer revolutionären, zwischen Kant und Marx schwankenden Theorie [handelte]. Dieser Ansatz erlaubte es ihm, einerseits an eine mögliche Revolution zu glauben und auf diese hinzuarbeiten, andererseits aber auch pragmatische Reformpolitik zu betreiben“ (S. 68). Als Konstante der Eisnerschen Biographie identifiziert Pohl die Tatsache, „dass er (Eisner, F.J.) mehr soziale Demokratie einforderte und dabei zugleich nach neuen Formen suchte, wie diese konkret verwirklicht werden könne. In erster Linie ging es ihm dabei um die Emanzipation der Unterschichten und vor allem der Arbeiterklasse“, wie er sie beispielsweise durch die Publikation seines Arbeiter-Feuilletons (1909–1917) zu erreichen suchte. Eisners Eintritt in die Partei (Dezember 1898) im Zuge seiner Tätigkeit für den Vorwärts war deshalb auch nur logische Konsequenz seines bisherigen Wirkens; auch nach seinem „Wechsel“ verfolgte er die gleichen Ziele.

Ein dritter Journalist, der im ersten Abschnitt zum Kaiserreich von Rainer Behring vorgestellt wird, ist Rudolf Breitscheid (1874–1944). Diesem Beitrag gelingt es besonders gut, „die parteipolitische Entwicklung und das politische Denken Rudolf Breitscheids zu skizzieren und behutsam in einen Interpretationsrahmen einzufügen“, wobei die „Organisations- und Richtungswechsel“ eingehend diskutiert und im historischen Kontext verortet werden (S. 96). So wandte sich Breitscheid zu Beginn des 20. Jahrhunderts „von eher national-liberalen Ursprüngen“ dem Linksliberalismus zu und wurde schließlich Mitglied der „Demokratischen Vereinigung“ (DV), die er nach den Reichstagswahlen von 1912 – die DV hatte hier lediglich 29.400 Stimmen erhalten – jedoch aufgrund ihrer politischen Bedeutungslosigkeit wegen in Richtung SPD verließ (S. 100).

Ebenfalls über die DV gelangte der von Günter Lange besprochene Siegfried Aufhäuser (1884–1969) zur SPD, nachdem er zuvor als Mitglied des Vereins der Deutschen Kaufleute (VdDK) aktiv gewesen war. In der DV setzte sich Aufhäuser für „eine parlamentarische Demokratie in einer konstitutionellen Monarchie“ ein (S. 130). Der nach den Wahlen von 1912 einsetzende Erosionsprozess innerhalb der DV ließ aber solche Hoffnungen kaum zu, weshalb Aufhäuser schließlich zum hauptberuflichen Gewerkschafter beim Bund der technisch-industriellen Beamten wurde, bevor er während des Ersten Weltkrieges 1917 der USPD beitrat. In der Zeit von Revolution und Räterepublik war er als „linker Sozialdemokrat“ beteiligt, wobei er kein Radikaler war: „Vermutlich waren es seine Lehrjahre bei der Demokratischen Vereinigung, die ihn vor Dogmatismus bewahrt haben“ (S. 138). Für die politischen Richtungswechsel Aufhäusers macht Lange vor allem dessen „Wahrnehmung der sozioökonomischen Verhältnisse“ verantwortlich, so dass die Wechsel per se wohl „kaum auf singuläre Ereignisse zu reduzieren“ sind (S. 140).

Hugo Sinzheimer (1875–1945), der „als Vater des deutschen Arbeitsrechts“ gelten könnte (S. 145) und dessen Biographie im vorliegenden Band von Christoph Müller abgehandelt wird, war ebenfalls erst in der DV aktiv gewesen, wechselte jedoch nicht wie andere bereits nach den Wahlen zur SPD, sondern erst aufgrund des Ersten Weltkrieges, an dessen Ende Sinzheimer, als sich die „utopische Linke […] in […] Räte-Illusionen“ verrannte, die Weimarer Verfassung favorisierte (S. 168). Im Kaiserreich waren es folglich die parteipolitische Stärke der SPD bei gleichzeitiger Schwäche des Linksliberalismus sowie der Erste Weltkrieg, die die Übertritte zur Sozialdemokratie zu bedingen schienen.

Der zweite Teil des Bandes widmet sich im Anschluss daran dem Phänomen des Parteiwechsels zur SPD in der folgenden Periode der Weimarer Republik. Diesen Abschnitt eröffnet Detlef Lehnert mit seinem Kapitel zu Paul Nathan (1857–1927), einem ebenfalls eher unbekannten – „Wer ist denn Paul Nathan?“ (S. 177) – Sozialdemokraten. Im November 1921 war dieser von der DDP zur SPD übergetreten, nachdem sich erstere seit ihrer genuin linksliberalen Gründung 1918 zunehmend nach rechts orientiert hatte. Diese Entwicklung und das zunehmend schwierige Verhältnis der DDP zur Deutschen Friedensgesellschaft veranlassten den von Volker Stalmann vorgestellten Georg Schümer (1873–1945), seines Zeichens preußischer Landtagsabgeordneter der DDP, aber auch Magdeburger Schuldirektor, Reformpädagoge und Pazifist, sich von der ehemals linksliberalen Partei abzuwenden. 1918 war er der DDP beigetreten, weil sie es in der Frühphase der Weimarer Republik „vermochte […], von der Schwäche der rechtsliberalen DVP profitierend, die Hoffnungen breiter bürgerlicher Schichten auf einen politischen Neuanfang zu bündeln und […] gleichzeitig auch die Rolle eines bürgerlichen Bollwerks gegen eine sozialdemokratische Alleinherrschaft spielen“ konnte (S. 215). Als Pazifist zwang der „Rechtsruck“ der DDP Schümer letztendlich dazu, 1923 sein politisches Heil in der SPD zu suchen.

Ähnliche Beweggründe nennt Andreas Pehnke in seiner vergleichenden Untersuchung der Biographien des sächsischen Volksschullehrers Max Kosler (1882–1966) und des letzten preußischen Kultusministers (1930–1932) Adolf Grimme (1889–1963). Während Grimme vor allem durch die Ermordung Walter Rathenaus (24. Juni 1922) zum erneuten politischen Bekenntnis, im Gegensatz zu linksliberalen Vergangenheit in der DDP (1918–1920) diesmal in der SPD, bewegt wurde, war es im Falle Koslers vor allem sein Engagement gegen den grassierenden Antisemitismus, der zur Sozialdemokratie führte, denn die SPD war „von den etablierten Parteien bis zum Ende der ersten Republik praktisch […] [die] einzige[ ] politische[ ] Kraft, die auch für die Interessen von Juden eintrat“ (S. 237). Anton Erkelanz (1878–1945), dessen Biographie Katharina Kellmann analysiert, war wohl einer der prominentesten „Übertrittler“ von der DDP, in der Erkelanz immerhin stellvertretender Vorsitzender gewesen war. Zum einen war das Vertrauen in die DDP erschüttert, da diese „zu einer rein bürgerlichen Partei geworden [wäre], in der Vertreter von Arbeitnehmerinteressen keinen Platz mehr fänden“ (S. 263), zum anderen war Erkelanz’ Vertrauen in die SPD, als „Partei der Arbeitnehmer und der Demokratie“ jenseits einer marxistischen Bedrohung gestiegen. Der Übertritt zur SPD ist folglich als ein Schritt zu verstehen, der der Entwicklung beider Parteien geschuldet war, zumal Erkelanz der DDP „keine Überlebenschance als sozialliberale Partei“ (S. 281) mehr geben wollte.

Den Band rundet schließlich der Beitrag von Stephanie Zibell ab, der sich mit Ludwig Bergsträsser (1883–1960) auseinandersetzt. Der Historiker und Hochschullehrer war nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in der DDP aktiv. Wie in den zuvor diskutierten Fallbeispielen wollte auch Bergsträsser den von der Partei vollzogenen Rechtsschwenk der Partei nicht hinnehmen und trat 1930/31 schließlich der SPD bei, wobei er sich dazu entschlossen hatte, „weil die Sozialdemokratie in ihrer Eigenschaft als Interessenvertretung der Arbeitnehmerschaft […] eine wichtige Stütze des demokratischen Staates darstellte“ (S. 313).

Insgesamt betrachtet stellt der Sammelband ein wichtiges Kompendium dar, das sich mit den Lebensläufen oft nur wenig beachteter Sozialdemokraten und ihrem Weg hin zur Sozialdemokratie auseinandersetzt. Man hätte den Zuschnitt der Beiträge noch etwas schärfen können, denn der eigentliche Wechsel und dessen Motivation geht in einigen Fällen in der umfangreichen biographischen Betrachtung der Einzelfälle etwas unter. Dessen ungeachtet werden die großen Entscheidungslinien sichtbar, selbst wenn die jeweilige Motivation der Handelnden bisweilen variieren mag. Ungeachtet dieser kleinen Kritik ist der Sammelband ein wichtiger Beitrag zur Geschichte des Linksliberalismus und der Sozialdemokratie, welcher ebenfalls darauf hinweist, dass politische Lebenswege mitunter nur wenig gradlinig verlaufen können und dass es Aufgabe der Geschichtswissenschaften ist, die Ursachen für derartige Richtungswechsel genauestens zu prüfen, um etwaige Gemeinsamkeiten und damit historische Determinanten zu erkennen und entsprechend bewerten zu können.