A. Engelberg: Wolf Jobst Siedler und Ernst Engelberg

Cover
Titel
»Es tut mir leid: Ich bin wieder ganz Deiner Meinung«. Wolf Jobst Siedler und Ernst Engelberg: Eine unwahrscheinliche Freundschaft


Autor(en)
Engelberg, Achim
Erschienen
Berlin 2015: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 24,99
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Wolfgang Elz, Neuste Geschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Manches hat der Rezensent aus diesem Buch erfahren. So etwa, warum sein eigenes Exemplar des ersten Bandes der zweibändigen und schließlich über 1.500 Seiten umfassenden Bismarck-Biographie Ernst Engelbergs von 1985, das doch laut Impressum im Siedler-Verlag in (West-)Berlin erschienen war, auf Papier gedruckt ist, das einen schon damals optisch und taktil stark an die gleichzeitigen Buch- und Zeitungspublikationen in der DDR erinnerte: Das Buch wurde in zu dieser Zeit noch ganz seltener Kooperation des (Ost-)Berliner Akademie-Verlags und des Verlages von Wolf Jobst Siedler in (West-)Berlin verlegt; Herstellung und somit auch Papiergestellung oblagen dem Akademie-Verlag, der angesichts des nicht ganz unerwarteten Verkaufserfolges dafür die „Frage möglicher Probleme der Papierbeschaffung“ lösen musste, wie Siedler rechtzeitig beim Verlag angemahnt hatte (S. 63). Der Drucker drängte übrigens auf die zügige Bereitstellung des Manuskripts für den zweiten Band – wer wisse, wie lange die Druckmaschine noch aushalten werde? Letzteres erhellt, was auch der Rezensent aus eigener Anschauung und den mehrwöchigen Archivaufenthalten in Merseburg in seinen verschiedenen Aspekten kannte, nämlich dass es sich um die (im Rückblick betrachtet: letzten) Jahre des fortschreitenden Niedergangs der DDR handelte.

Ebenso hat sich dem Rezensenten durch die Lektüre erschlossen, warum in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre bei einem Vortrag des prominenten DDR-Historikers Ernst Engelberg an der westlichen Universität und noch stärker beim anschließenden Umtrunk die Fronten plötzlich umgedreht wirkten: hier der an sich orthodoxe marxistische Historiker, der Bismarck gegen die vor allem auf dessen Person zielende Kritik verteidigte, die dort seine „bürgerlichen“ Kontrahenten äußerten. Auch dafür lässt sich nun mit hinreichender Sicherheit der Grund benennen: Wenn Engelberg 1988 in einem Brief an Siedler über seine ihm vielfach zuarbeitende Frau schrieb, sie wechsele „ständig zwischen Ent- und Verlieben in den Otto“ (S. 102), so formulierte er offensichtlich etwas, das er auch für seine eigene Person gut kannte.

Offenbar beruhte der damalige große Erfolg der Bismarck-Biographie in Ost und West vor allem auch darauf, dass man hier einen marxistischen DDR-Neuzeithistoriker entdeckte, der den Leser weder in der Diktion noch in der Betrachtungsweise mit der sonst in der DDR-Historiographie vorherrschenden starren und formelhaften Wiederholung von vermeintlich allzeit gültigen Glaubenssätzen einschläferte, und schließlich lernt man auch dafür den Grund kennen: Diese Gefahr hatte Siedler, der jeden Passus des Manuskripts penibel lektorierte, gründlich ausgeräumt, indem er Engelberg auf den Verzicht zu solchen „Pflichtübungen“ drängte: „Das Vokabular, mittels dessen Sie argumentieren, die Terminologie, in der sie sich bewegen, lässt Sie viel enger erscheinen als Sie in Wirklichkeit sind“, schrieb er ihm 1983 (S. 49) und stellte ihm den Historiker Soboul als leuchtendes Beispiel vor, wie man auch unter Verzicht auf solche Phraseologie marxistische Geschichtsschreibung betreiben könne. Ganz offensichtlich hat Engelberg auf diesen Hinweis reagiert.

Tatsächlich ist „der Bismarck“ Dreh- und Angelpunkt der anfangs vorsichtig-zurückhaltenden, bald aber über die Mauer hinweg in eine intensivere und schließlich in eine tatsächlich zur Freundschaft sich entwickelnde Beziehung zwischen Autor und Verleger gewesen, die der Publizist und Sohn Ernst Engelbergs in die Geschichte der damaligen Zeit einbettet und mit zahlreichen Stücken aus der Korrespondenz der beiden erhellt. Wolf Jobst Siedler (1927–2013) und Ernst Engelberg (1909–2010), wenn auch nicht im gleichen Alter, hatten doch beide prägende Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus gemacht: Ersterer, aus bildungsbürgerlichem Berliner Elternhaus, wurde als Flakhelfer der „Wehrkraftzersetzung“ angeklagt und entging einem schlimmeren Urteil als der „Frontbewährung“ wohl nur aufgrund der Verwendung wichtiger Personen. Engelberg, dessen unmittelbare Vorfahren sich in Haslach im Schwarzwald auf demokratische und revolutionäre Traditionen von 1848 beriefen und in der Arbeiterbewegung für die SPD engagierten, war bereits in jungen Jahren der KPD beigetreten; dies zwang ihn nach 1933 ins Exil, das ihn schließlich als Lektor nach Istanbul führte. Beide zogen daraus jedoch unterschiedliche Konsequenzen: Siedler wurde der konservative Preuße, dem die Reichsgründung nie so ganz geheuer war, weil sie, so jedenfalls seine Schlussfolgerung, im Ergebnis zum Verlust großer Teile Preußens geführt habe. Engelberg ging 1948 als Rückkehrer aus dem Exil in den Osten des geteilten Landes, wo er Karriere machte als Historiker der Arbeiterbewegung, der von der in den 1970er-Jahren geführten „Erbediskussion“ aus auf die von politischer Seite an sich positiv beurteilte Nationalstaatsgründung und damit zwangsläufig auf Bismarck stieß und sich zu einer Biographie ermuntern ließ, als seine DDR-Kollegin Ingrid Mittenzwei 1979 mit ihrem Lebensbild Friedrichs II. von Preußen großen Erfolg hatte.

Siedler, der zuvor beim Propyläen-Verlag etliche erfolgreiche Publikationen zur Geschichte betreut hatte und gerade dabei war, seinen eigenen Verlag zu etablieren, müssen diese Pläne bekannt geworden sein; jedenfalls nahm er Kontakt auf und bemühte sich seit 1980, trotz Eiszeit in den politischen Beziehungen das sich leicht erwärmende bilaterale kulturelle Verhältnis zu nutzen und Engelberg von dem Plan zu überzeugen, die geplante Bismarck-Biographie als Gemeinschaftsprojekt seines und des Akademie-Verlags zu veröffentlichen. Die Schwierigkeiten, die sich dem entgegenstellten, waren vielfältig, wurden aber schließlich bewältigt, und über die gemeinsame Arbeit an dieser Biographie kamen sich die beiden näher, wohl auch, weil sie einen gemeinsamen kulturellen „bildungsbürgerlichen“ Horizont besaßen, dessen Niedergang sie wohl auch gemeinsam beklagten.

Dieses Gemeinsame trug auch darüber hinweg, dass sich beide vor und nach dem Mauerbau nicht gegenseitig mit konträren Positionen vor allem zum „realen Sozialismus“ und zum Kapitalismus verschonten, aber eben dem Gegenüber diese entgegengesetzte Meinung nicht übelnahmen. Vielleicht war es die von beiden geteilte Wahrnehmung vom ‚Verlust des alten Europa‘, wie ihn Siedler in einem seiner zahlreichen Essay-Bände konstatierte, die sie verband und die damit die Freundschaft nicht so unwahrscheinlich machte, wie der Untertitel es nahelegt. Gravierender als Meinungsverschiedenheiten in der Sache konnte da schon mangelnde Sensibilität für den anderen wirken, etwa wenn Siedler Ende 1987 einen üppigen Delikatessen-Korb über die Mauer nach Osten schickte und man auf Seiten der Engelbergs diese Aufmerksamkeit offenbar als Hinweis auf die desolate Versorgungslage in der DDR interpretierte; aber auch dieser Fauxpas, den vermutlich etliche Bundesbürger im Umgang mit Verwandten oder Freunden in der DDR begingen, konnte ausgeräumt werden.

Engelberg war, wie sein Sohn bezeugt, schon vor 1989 wohl desillusioniert über den „realen Sozialismus“ und blieb allenfalls noch in der paradoxen Vorstellung, dass die Theorie an sich gut, deren Realisierung aber schlecht sei, dessen Anhänger, bewegte sich aber auch nicht auf die Opposition zu. Nach der Vereinigung zeigte er sich einigermaßen verbittert über die Abwicklung der DDR-Historiographie (darunter seines eigenen Instituts) und überhaupt über den Umgang mit der vormaligen DDR. Gegen den Strich gelesen, ist allerdings eine Passage des Buches aufschlussreich: Siedler trug sich im von Krankheit gezeichneten Alter in der Weihnachtszeit 1998/99 mit dem Gedanken, eher aus Gemütsgründen wieder in die evangelische Kirche einzutreten, wobei er den Engelbergs diese Überlegung, aber auch seine Vorbehalte mitteilte. Die Antwort aus dem Osten der Stadt war ein vorsichtiger Hinweis, es doch vielleicht besser zu lassen: „Wenn Du nicht eintrittst, kannst Du frei das Maß Deiner Annäherung bestimmen.“ (S. 210) Engelberg selbst war dagegen bereits 1990 Mitglied der PDS, der umbenannten SED, geworden.

Im Anhang der für die Geschichte der beiden Protagonisten und damit für einen Aspekt der vergangenen Jahrzehnte deutsch-deutscher Beziehungen äußerst instruktiven und gut lesbaren Veröffentlichung finden sich zwei Beiträge, die den Kern dessen enthalten, was sie zusammengeführt hatte: Siedlers Dankesrede für die ihm 1997 in Berlin verliehene Ehrenpromotion, in der er sein Verständnis von den Aufgaben des Verlegers darstellt, und Engelbergs hier erstveröffentlichter Hamburger Vortrag anlässlich des 100. Todestages Bismarcks, der zu einer komprimierten Darstellung der Leistung und Bedeutung des Reichskanzlers geriet.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/