Titel
Die Friedensmacher. Wie der Versailler Vertrag die Welt veränderte


Autor(en)
MacMillan, Margaret
Erschienen
Berlin 2015: Ullstein Verlag
Anzahl Seiten
733 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Friedrich Kießling, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt

Die Jahrestage im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg reißen nicht ab und ebenso wenig die Buchproduktion zum Thema. Nach Kriegsausbruch und dem Gedenken an wichtige Schlachten des Krieges steht nun langsam aber sicher die Beschäftigung mit dem Kriegsende und der anschließenden Pariser Friedensordnung an. Eine der ersten Arbeiten, die bereits jetzt erschienen sind, ist „Die Friedensmacher“ der Oxforder Historikerin Margaret MacMillan. Es handelt sich um die deutsche Übersetzung ihres bereits 2001 erschienenen Buches „Peacemakers. Six Months that Changed the World“. Neue Erkenntnisse sind also weniger zu erwarten, aber doch die Gelegenheit, sich den Stand der Forschung zum Kriegsende bzw. dem Pariser Friedensschluss zu vergegenwärtigen, bevor das Gros der Neuerscheinungen zum Thema auf den Markt kommt.

Der erste Eindruck der deutschen Ausgabe bestätigt den der Originalfassung: Das Buch ist eine gelungene Mischung aus publikumsorientierter Darstellung und solider wissenschaftlicher Arbeit, wie es sich für einen englischsprachigen Titel gehört und wie er als Erfolgsrezept auch für den deutschen Buchmarkt regelmäßig funktioniert. Dazu gehört ebenso eine Prise Provokation. Bei MacMillan findet sie sich vor allem in den vielen zugespitzten Urteilen zu einzelnen Personen, aber auch zu Nationen bzw. Staaten und deren Verhalten. Da erscheint der australische Premierminister William Hughes schon einmal „boshaft wie ein kleiner Kobold“ (S. 142), besteht die Leistung des serbischer Ministerpräsidenten Nikola Pašić nicht zuletzt darin, „in der turbulenten Welt der serbischen Politik zu überleben“ („Verschwörungen, Attentate, Autounfälle: er überstand sie alle“ [S.165]) oder überzeugte erst ein österreichischer Professor mit einem albanischen Wörterbuch „gebildete Albaner davon […], dass sie in der Tat ein Volk sein könnten“ (S. 474). Bei all der damit verbundenen Freude an Rhetorik darf nicht vergessen werden, dass MacMillans Darstellung auf einer Fülle von Sekundärliteratur und auch erheblicher Archivarbeit beruht.

Wichtiger für die Bestandsaufnahme ist allerdings der konzeptionelle Ansatz des Buches. Wie schreibt man eine Geschichte der Pariser Friedensordnung? Die erste Antwort, die MacMillan entsprechend dem Titel des Buches gibt, lautet: Als Geschichte der handelnden Hauptpersonen. Das Buch lässt die Friedenschlüsse vor allem als Entscheidungen des Rats der Vier erscheinen. Man schaut den in Paris versammelten Staatsmännern bei ihren endlosen Verhandlungen im kleinen Kreis oder bei den Besprechungen mit ihren wichtigsten Beratern gleichsam über die Schulter. Das ist methodisch-konzeptionell natürlich kritisch, gab es gerade nach 1918 viele Bedingungen, die den Handlungsspielraum der Personen vorgaben. Dies wird von MacMillan aber zumindest dadurch aufgefangen, dass innenpolitische Zwänge, der Druck der jeweiligen Öffentlichkeiten, von Militärs oder der ökonomischen Interessen regelmäßig, wenn auch nicht sehr ausführlich, einbezogen werden. Unabhängig von solchen Verweisen hat die Konzentration auf die Hauptpersonen dennoch etwas Bedenkenswertes: In Paris trafen sich vier, in bestimmten Phasen auch nur drei verantwortliche Staatsmänner über einen Zeitraum von beinahe sechs Monaten regelmäßig, meist mehrmals täglich und verhandelten stundenlang. Natürlich gab es die Berater, gab es die vielen Kommissionen zu den unterschiedlichsten Fragen, aber am Ende spielten die Dynamiken des kleinen Kreises tatsächlich eine wichtige Rolle, vielleicht taten sie es so sehr wie selten in der Neuesten Geschichte. Abgesehen von der Länge der Pariser Konferenz, standen die Ergebnisse bei der Ankunft, anders als bei vielen anderen Gipfeltreffen, eben nicht fest. Angesichts der Vielzahl der Probleme, die zur Entscheidung anstanden, konnten sie es gar nicht. Die Delegationen bestanden aus Hunderten von Mitgliedern und versammelten Expertise wie nie zuvor, am Ende, so MacMillans Botschaft, entschieden dennoch weniger als eine Handvoll Personen über das Schicksal von vielen Millionen Menschen.

Aber nach welchen Kriterien wurde entschieden? Wie ernst soll man den Streit zwischen Methoden, zwischen „new diplomacy“ und alter Macht- und Interessenpolitik, nehmen? Inwiefern ging es in Paris um die jeweilige Sachfrage, inwiefern um Prinzipien? Es gehört zu den stärksten Aspekten des Buches, dass es trotz der Konzentration auf Personen bei der Darstellung der Entscheidungen grundsätzlich mit der Schilderung der Sachprobleme und deren Ausgangslage beginnt. Egal ob beim deutsch-polnischen, österreichisch-italienischen oder österreichisch-slowenischen Grenzverlauf, bei der Frage der Zukunft der deutschen Kolonie in China oder dem griechisch-türkischen Konflikt, MacMillan gibt zunächst einen Überblick über die Vorgeschichte und den Stand der Dinge. Dann erst „greifen“ in ihrer Darstellung Georges Clemenceau, David Lloyd George, Vittorio Orlando und Woodrow Wilson ein. Diese Vorgehensweise lässt etwaige Prinzipien, neue oder alte Handlungsmaximen nicht völlig verschwinden, sie relativiert deren Bedeutung dennoch. Prinzipien oder die verschiedenartigen Ordnungsvorstellungen mochten im Vorfeld eine Rolle spielen oder nachträglich diskutiert werden, im Entscheidungsprozess waren sie vor allem eines: Ein Faktor unter vielen anderen.

Mit der Frage nach den historischen „Umständen“ hängt auch zusammen, wie viel Nachgeschichte in die Interpretation des Friedensschlusses einbezogen werden soll. Entgegen des Untertitels des Buches („Wie der Versailler Vertrag die Welt veränderte“) ist MacMillan hier zurückhaltender als man annehmen könnte. Die Folgen der getroffenen Entscheidungen bilden jedenfalls nicht das überwältigende Kriterium, an dem alles zu messen wäre. Der Beurteilungsmaßstab ist eher situativ zu nennen. Die Problemlagen, wie sie 1919 oder 1920 vorlagen, in Verbindung mit dem Handeln der Personen stellen die wichtigsten Ausgangspunkte auch der Beurteilung dar.

Ernster zu nehmen ist das Wort „Welt“ im Untertitel. MacMillans Buch hat acht Hauptkapitel. Zwei davon, etwa 90 der über 600 Seiten der Darstellung, konzentrieren sich eindeutig auf die deutsche Frage. Ansonsten geht es um die Schilderung von Paris zu Zeiten der Friedenskonferenz, um den Völkerbund und das Mandatssystem, um den Balkan, Osteuropa, die Situation in Ostasien sowie die Zukunft des Osmanischen Reichs. Letztere wird sogar in einem deutlich längeren Kapitel dargestellt als das Problem mit Deutschland. Mit dem Titel „Der Nahe Osten wird in Brand gesteckt“ (im englischen Original: „Setting the Middle East Alight“) macht MacMillan in diesem Kapitel im Übrigen die Folgen der Entscheidungen am stärksten zum Ausgangspunkt der Deutung. Insgesamt wird bereits mit dieser Kapiteleinteilung die ganze geografische Dimension des Pariser Friedens deutlich. Es ging um eine Neuordnung weiter Teile der Welt, nicht einfach Deutschlands oder Mittel- und Osteuropas. Angesichts dieser Schwerpunktbildung bei MacMillan sage niemand im Zusammenhang mit den bevorstehenden Neuerscheinungen zu den Jahrestagen der Pariser Ordnung, die globale Dimension sei bisher unbeachtet geblieben. Es wird vermutlich trotzdem geschehen.

Und die Interpretation? Hier ist MacMillan bei aller Lust zur Provokation bei Einzelurteilen sehr ausgewogen. Der Frieden war natürlich nicht ideal, aber die Friedensmacher hatten es auch schwer. Zwar war die französische Haltung deutlich unversöhnlicher als die amerikanische oder die britische, man sollte aber nicht den Fehler begehen, erstere für alle Härten der Pariser Verträge, letztere für alle Abmilderungen der Friedensbedingungen verantwortlich zu machen. Nie zu unterschätzen ist laut MacMillan die Rolle der Akteure vor Ort. Während die Hauptsiegermächte in Paris tagten, liefen die Ereignisse in den umstrittenen Regionen weiter und schufen Fakten, an denen die in der französischen Hauptstadt versammelten Staatsmänner häufig nicht mehr vorbeikamen. Das Hauptproblem des Versailler Vertrages lag nicht im Text selbst, sondern in den unrealistischen Erwartungshaltungen in Deutschland. Die Regelung der Reparationen mochte zwar formal für Deutschland schwer sein, es war aber schon bald abzusehen, dass die konkrete Umsetzung ganz anders verlaufen würde. All das sind Einschätzungen, die mit bestehenden Interpretationen gut in Einklang zu bringen sind. MacMillans Darstellung bietet damit weiterhin einen guten Überblick über bestehende Deutungen. Man wird gespannt sein, was und wie viel die bevorstehenden Jahrestage hier in Bewegung bringen werden.

Fazit: Die Entscheidung des Verlages, eine deutsche Version von „Peacemakers“ auf den Markt zu bringen, ist sehr zu begrüßen. Margaret MacMillans Arbeit bedeutet einen guten Start in die auch in Deutschland zu erwartende Flut an Neuerscheinungen zum Kriegsende 1918 und den anschließenden Friedensschlüssen von Paris.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/