M. Lanzinger: Eheverbote, kirchliche und staatliche Dispenspraxis

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Titel
Verwaltete Verwandtschaft. Eheverbote, kirchliche und staatliche Dispenspraxis im 18. und 19. Jahrhundert


Autor(en)
Lanzinger, Margareth
Erschienen
Köln 2015: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
405 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lennart Pieper, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität in Münster

Über Jahrhunderte waren es vornehmlich Adlige, die ihre Heiratspartner innerhalb eng begrenzter Kreise suchten und dabei oftmals auch Verwandte ehelichten. Dass das Phänomen der Verwandtenehen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert auch in bürgerlichen und nicht zuletzt in bäuerlichen Schichten rasch an Bedeutung gewann, ist der Forschung zwar keineswegs verborgen geblieben1, wurde bislang aber kaum systematisch untersucht. Hier setzt die 2015 erschienene Habilitationsschrift der Wiener Historikerin Margareth Lanzinger an. Am Beispiel der vier Diözesen Brixen, Chur, Salzburg und Trient geht die Autorin dem Befund nach, dass seit dem Ausgang des Ancien Régime immer mehr Paare um Erlaubnis für nach kanonischem Recht untersagte Heiraten zwischen Verwandten nachsuchten. Im Zentrum steht also die Praxis der Dispensvergabe seitens der katholischen Kirche sowie staatlicher Stellen, die zunehmend miteinander in Konkurrenz gerieten. Der Zugang über die Verwaltungspraxis ist geschickt gewählt, da sich in den von Lanzinger in großer Zahl ausgewerteten Dispensakten die Argumentationsstrategien der beteiligten Parteien, die Verfahrenswege sowie die Entscheidungslogiken spiegeln. Grundsätzlich geht es der Verfasserin dabei um eine Abwägung des Stellenwerts von Verwandtschaft als strukturprägender Kraft am Beginn der Moderne.

Die Studie gliedert sich in fünf Hauptkapitel, die unterschiedliche inhaltliche Aspekte des Themas in den Blick nehmen, wodurch die historische Entwicklung tendenziell in den Hintergrund rückt. Das erste Kapitel widmet sich den Konzepten und Diskursen, die sich mit der Eheschließung von Verwandten verbanden. Lanzinger unterscheidet hier zwischen theologischen, juristischen, moralischen und physiologisch-medizinischen Sichtweisen sowie modernen Konzepten von Liebe und Emotionalität, die sie in erster Linie aus zeitgenössischen Abhandlungen rekonstruiert. Grundsätzlich blieben auch in der Neuzeit die seit dem vierten Laterankonzil von 1215 geltenden Eheverbote maßgeblich: Zwischen Verwandten bis zum vierten Grad war eine Heirat untersagt oder bedurfte einer päpstlichen Dispens. Dispensierbar waren etwa Verbindungen im zweiten Grad der Blutsverwandtschaft – also zwischen Cousin und Cousine, aber auch solche zwischen Schwager und Schwägerin. Die staatlichen Rechtskodifikationen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts folgten teilweise den kanonischen Prinzipien, urteilten aber meist liberaler, was zu Auseinandersetzungen um die Grenzen der Eheverbote führte. Besondere Bedeutung im Diskurs kam den um 1800 aufkommenden Veränderungen im Verhältnis von ökonomischen Interessen und Liebe innerhalb einer Ehe zu. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde schließlich zunehmend die von Medizinern geäußerte Warnung vor erblich bedingten Degenerationen diskutiert. Da diese jedoch ausschließlich Eheverbote innerhalb der nahen Blutsverwandtschaft begründete, jene in der Schwägerschaft hingegen als abwegig erscheinen ließ, griff die Kirche kaum darauf zurück.

Die Konkurrenz zwischen Kirche und Staat ist Gegenstand des zweiten Kapitels. Hier legt die Verfasserin den Fokus auf die josephinische Ära, in der der Staat erstmals versuchte, Einfluss auf die vormals kirchliche Domäne der Ehedispensen zu gewinnen. Von besonderer Bedeutung war das 1783 erlassene Ehepatent, dessen Bestimmungen darauf abzielten, den päpstlichen Einfluss zugunsten staatlicher Behörden zu reduzieren. So forderte es die Bischöfe auf, Dispensen im ersten und zweiten Grad selbst vorzunehmen, während es die Eheverbote für die dritten und vierten Grade gänzlich aufhob. Da die Kirche dies nicht akzeptierte, kam es zu Normenkonkurrenzen, parallelen Verfahrensstrukturen und erheblicher rechtlicher Unsicherheit für die Betroffenen. Lanzinger beurteilt die Reformen unter Joseph II. allerdings als letztlich gescheitert: Im 19. Jahrhundert hatte die Kirche die Hoheit über das Dispenswesen zurückerlangt.

Das dritte Kapitel beleuchtet den eigentlichen Verfahrensgang vom heiratswilligen Paar über den Dorfpfarrer, das fürstbischöfliche Konsistorium und die staatlichen Behörden bis zu den päpstlichen Institutionen in Rom. Angesichts der Vielzahl von Instanzen, zwischen denen rege Kommunikation herrschte, zogen sich die Verfahren oft über Monate hin. Notwendig waren neben dem durch den örtlichen Pfarrer verfassten Ansuchen diverse Zeugnisse und Bittschriften, zwei Zeugen sowie ab 1820 der sogenannte politische Ehekonsens, also die Zustimmung der kommunalen Behörden zur geplanten Eheschließung. Gerade letzterer zeigt, dass Kirche und Staat im 19. Jahrhundert gelegentlich eine machtvolle Allianz eingingen, die sich „mitunter massiv in innerhäusliche Gefüge und familiale Belange“ (S. 201) einmischte. Aus theologischer Sicht blieb die päpstlich erteilte Dispens eine Gnade, von der die Norm selbst unberührt blieb und auf die kein Rechtsanspruch bestand. Ein Dispensansuchen war also kein Selbstläufer, vielmehr musste der Antragsteller gute Gründe für die projektierte Eheschließung vorbringen können. Die in den Akten aufscheinenden Argumentationen tragen daher den „Charakter einer strategischen Kommunikation“ (S. 213), indem sie stets die Denkweise der Entscheidungsinstanzen zu antizipieren versuchten. Besonders häufig wurde auf die angustia loci, die Enge des Ortes, und den daraus resultierenden Mangel an geeigneten Heiratspartnern verwiesen, wobei die Pfarrer teils recht kreativ bei der Begründung vorgingen. Erst wenn das Dispensbreve aus Rom eintraf, welches bis 1850 zusätzlich landesfürstlich bestätigt werden musste, war der Weg frei.

Die beiden letzten Kapitel nehmen je eine spezifische Verwandtschaftskonstellation in den Blick, nämlich die Eheschließungen zwischen verschwägerten Personen sowie die zwischen Blutsverwandten. Während Witwen verboten war, einen Bruder ihres verstorbenen Gatten zu ehelichen, da die Vorstellung vom ‚gemeinsamen Fleisch‘ der Eheleute hier auch eine blutsverwandtschaftliche Beziehung suggerierte (die sich noch heute im englischen Begriff der sister-in-law für Schwägerin niederschlägt), war der umgekehrte Fall möglich, wenngleich dispenspflichtig. Dass Witwer ihre Schwägerin ehelichen wollten, kam seit Ende des 18. Jahrhunderts immer häufiger vor. Einen Grund dafür sieht Lanzinger in der oft gegebenen „räumlichen und sozialen Nähe“ (S. 255). Nicht selten nämlich zogen Schwägerinnen in den Haushalt ihrer verstorbenen Schwester ein, arbeiteten mit und kümmerten sich um die Kinder. Aus dieser Konstellation entwickelte sich mit der Zeit das in den Ansuchen aufscheinende Argument des ‚gemeinsamen Blutes‘, nach dem Schwägerinnen von Natur aus prädestiniert für die Übernahme der Mutterrolle seien. Das Gegenbild – die fremde bzw. böse Stiefmutter – prägte ebenfalls den Diskurs bis hinein in Grimms Märchen.

Der Fall der konsanguinen Eheschließung war demgegenüber zunächst keineswegs besonders prominent. Ihr Zustandekommen ist laut Lanzinger mit der stärkeren Betonung der horizontalen Verwandtschaft um 1800 zu erklären. Aus intensivierten Beziehungen zwischen Geschwistern ergaben sich häufig Eheprojekte in der kommenden Generation. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden solche Heiraten zunehmend negativ wahrgenommen. Gegen die drohende Ablehnung entsprechender Ansuchen konnten verwandte Paare seit 1868 auf die staatlich eingeführte Notzivilehe als Druckmittel zurückgreifen, ähnlich wie zuvor schon auf die Drohung mit einem Übertritt zum Protestantismus. Erst zum Ende des letzten Kapitels führt die Autorin auch einige wohldosierte Statistiken an, um die zuvor beschriebenen Befunde quantitativ einzuordnen. Dabei wird deutlich, dass Ehen in den nahen Verwandtschaftsgraden im Vergleich zu den übrigen Heiraten in der Diözese Brixen zwischen einem und zwei Prozent ausmachten, also in keinem Verhältnis zu ihrer diskursiven Prominenz standen. Zudem fällt eine regionale Ungleichverteilung der Ansuchen auf. Eine Erklärung der signifikant höheren Zahl in den westlichen Dekanaten um Bregenz mit der hier praktizierten Erbteilung lehnt Lanzinger jedoch als zu schematisch ab; vielmehr sei hier eine besondere politische Kultur der Hartnäckigkeit in der Verfahrensführung am Werke gewesen.

Ein großer Vorteil der Studie liegt in der Verknüpfung der durch die serielle Quellenart der Dispensakten ermöglichten statistischen Erhebung mit einer umfassenden qualitativen, akteurszentrierten Analyse. Alle inhaltlichen Ergebnisse werden anhand konkreter Quellenbeispiele veranschaulicht, und die ausführlich wiedergegebenen Zitate lassen die kommunikativen Strategien der Zeitgenossen zum Vorschein kommen. Es gelingt Lanzinger, anhand eines begrenzten Phänomens grundlegende gesellschaftliche Entwicklungen und Umbrüche – vor allem aber Kontinuitäten – von der ständisch geprägten Gesellschaft der Vormoderne zur bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zu beschreiben. Besonders aufschlussreich ist hier der Befund, dass trotz Säkularisierungstendenzen die Kirche ihre Deutungsmacht bis weit in die Moderne hinein bewahren konnte. Angesichts der regionalen Unterschiede und der Fülle des Materials leuchtet es zwar ein, dass die Verfasserin auf „eine ‚große‘ Erklärung“ (S. 349) verzichtet, allerdings hätte man sich als Leser hier und da eine pointiertere Thesenbildung gewünscht, die Schneisen durch das Dickicht der komplexen historischen Wirklichkeit zu schlagen vermocht hätte. Nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit der neueren Verwandtschaftsforschung bleibt mitunter etwas zurückhaltend. Ungeachtet dessen stellt die gut lesbare Arbeit eine bedeutsame Ergänzung der bisherigen Forschung im Schnittpunkt von Verwandtschaft, Religion und Politik dar.

Anmerkung:
1 Vgl. etwa David W. Sabean / Simon Teuscher, Kinship in Europe. A New Approach to Long-Term Development, in: David W. Sabean / Simon Teuscher / John Mathieu (Hrsg.), Kinship in Europe. Approaches to Long-Term Development (1300–1900), New York 2007, S. 3–32, hier S. 19-22.