J. Fleischhack: Eine Welt im Datenrausch

Cover
Titel
Eine Welt im Datenrausch. Computeranlagen und Datenmengen als gesellschaftliche Herausforderung in der Bundesrepublik Deutschland (1965–1975)


Autor(en)
Fleischhack, Julia
Reihe
Zürcher Beiträge zur Alltagskultur 22
Erschienen
Zürich 2016: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
178 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wiebke Wiede, Fachbereich III, Neuere und Neueste Geschichte, Universität Trier

Anfang der 1970er-Jahre waren computertechnische Großanlagen der Stolz der bundesdeutschen Landesväter: Sowohl Helmut Kohl (CDU) als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz wie auch der hessische Ministerpräsident Albert Osswald (SPD) posierten technikaffin vor den schrankgroßen Geräten ihrer landeseigenen Rechenzentren, scheinbar sachkundig an der Bedienungskonsole hantierend. Abbildungen dieser gewissermaßen technisch informierten Machtinszenierungen (S. 54f.) bilden im Grunde das Kernstück der ethnologischen Dissertationsschrift von Julia Fleischhack, die 2012 von der Universität Zürich angenommen wurde. Die Arbeit befasst sich mit der Expansion von Personendaten als Folge der Automation öffentlicher Verwaltungen und des privaten Sektors in der Bundesrepublik Deutschland um 1970 sowie mit der daraus folgenden gesellschaftlichen Problematisierung von Personendaten, ihrer technischen Verfügbarkeit und ihrer Verbreitung.

Fleischhack begreift Daten „als kulturelles Phänomen“ (S. 17), das sie in sechs Forschungsperspektiven auffächert, die man als Historisierung des Datenbegriffs bezeichnen könnte. Es geht der Verfasserin vor allem darum, die Abhängigkeit der Daten von ihrer sozialen und semantischen Verwendung zu betonen. Wichtig für das Verständnis der Arbeit ist daneben, dass die Autorin im Sinn der Akteur-Netzwerk-Theorie „Daten als Akteure“ begreift, „die Beziehungen und Handlungen bestimmen“ (S. 22). Den titelgebenden Begriff des „Datenrausches“ verwendet Fleischhack leider nicht in Assoziation zum zeitgenössischen „Drogenrausch“, sondern vielmehr als einen instrumentellen Begriff. Bezeichnen soll dieser „das gesellschaftliche Spannungsfeld […] um die Nutzung, Speicherung, den Austausch und Verkauf von Personendaten“ und gleichermaßen das „Extensive, Euphorische und auch Unkontrollierbare“, aber auch „das Streben nach Kontrolle einer Technik und Entwicklung, die ausser [sic] Kontrolle zu geraten scheint“ (S. 14). Quellengrundlagen der Arbeit sind zum einen publizierte rechts-, sozial- und politikwissenschaftliche Studien, Medienberichte, Fach- und Firmenzeitschriften sowie populärwissenschaftliche Werke des Untersuchungszeitraums 1965–1975, die sich mit der Computerisierung und deren gesellschaftlichen Wirkungen befassen. Daneben wurden Archivunterlagen des Hessischen Hauptstaatsarchivs Wiesbaden herangezogen, da Hessen bereits Ende der 1960er-Jahre zügig mit der Verwaltungsautomation begann. Die Verfasserin nimmt mit dieser Quellenauswahl überzeugend die Perspektiven von Verwaltungsexperten, politisch Verantwortlichen sowie Rechts- und Sozialwissenschaftlern ohne technikwissenschaftlichen Hintergrund ein, die laienhaft, aber nachdrücklich den Automatisierungsprozess förderten (S. 13), um den vorgeblich wachsenden Anforderungen an „die Leistungs- und Funktionsfähigkeit der staatlichen Informationsverarbeitung“ (S. 33) gerecht werden zu können.

In drei übersichtlichen Großkapiteln widmet sich Fleischhack der Entstehung und Ausbreitung eines Netzes von Personendaten sowie im Schlusskapitel den medialen und populärwissenschaftlichen Debatten darüber. Als „Datenfabriken“ werden die Orte und Räume der Datenproduktion der öffentlichen Verwaltung untersucht (S. 31–67): besagte Rechenzentren, die seit den späten 1960er-Jahren auf kommunaler Ebene und seit den frühen 1970er-Jahren auf Länderebene eingerichtet wurden und „Verwaltungsautomation“ zentralisieren sollten. Sie stellten Fixpunkte dar, von denen die „Verschaltung der Daten“ (S. 69–99), der Datenaustausch, seinen Anfang nehmen konnte. Die Möglichkeiten und Visionen, durch den Austausch von Daten die Informationslage öffentlicher Verwaltungen zu optimieren, versetzten die Planungsverantwortlichen in den „Datenrausch“ (S. 79), der dem Buch seinen Titel gab. Teilweise in den EDV-Gesetzen der Länder niedergelegt, nahmen die Ansprüche und Erwartungen an den Datenaustausch „fast ideologische Formen“ einer „Informationseuphorie“ (S. 78) an. Das Kapitel „Der globale Datenhandel im Ausbau“ schildert schließlich den kommerziellen Handel mit Personendaten vor allem durch Adressverlage und Kreditagenturen (S. 101–122), der Anfang der 1970er-Jahre „gewaltig expandierte“ (S. 105), wenngleich der von der Verfasserin formulierte „globale“ Maßstab im Handelsraum der Bundesrepublik, der USA und Großbritanniens verblieb. Die medialen Debatten um Speicherung und Austausch von Personendaten diskutiert Fleischhack unter dem Stichwort „Menschliche Anschlussstellen“ (S. 123–155). Die öffentliche Aufmerksamkeit für datenbezogene Probleme wuchs im Laufe der 1970er-Jahre stetig und wurde, der Autorin zufolge, vorwiegend von technikskeptischen Publikationen befeuert, die Bedrohungsszenarien totaler Datenüberwachung entwarfen. Die Debatte zeigte auch, dass die rechtlichen Grundlagen des Umgangs mit Personendaten neu ausgehandelt werden mussten. Die Einsetzung eines Bundesbeauftragten für den Datenschutz 1978 kann hier als Markstein der Entwicklung und Endpunkt der Ausführungen betrachtet werden.

Julia Fleischhack gelingt es, für den Zeitraum 1965–1975 einen konzisen Problemaufriss zur Neuorganisation von Datenverarbeitung in der bundesdeutschen Verwaltung zu liefern. Überzeugend kann sie zeigen, wie der Umgang mit Personendaten in dieser Umbruchszeit zu einem Thema wurde, das auf breite mediale Resonanz stieß, lange bevor der Personalcomputer zur allgemeinen Haushaltsausstattung gehörte. Historiker mag der knappe Umfang der Dissertation (knapp 180 Seiten) erstaunen. An der einen oder anderen Stelle hätte man sich gewiss eine vertiefende Kontextualisierung vorstellen und wünschen können. So bleibt unklar, ob die Verwaltungsautomation eine eigene expansive Dynamik aufwies oder ob sie im Kontext allgemeiner Verwaltungsmodernisierung und Verwaltungsplanung gelesen werden kann. Gleichfalls sind die Debatten um den technokratischen Überwachungsstaat wohl im Zusammenhang allgemein zunehmender Fortschrittsskepsis und Wachstumskritik zu verorten. Eine drängendere Frage ist allerdings, warum die Autorin die Datenverarbeitung in der Sozial- und Rentenversicherung nicht behandelt hat, die doch, spätestens mit der Vergabe von Versicherungsnummern in der Rentenversicherung seit 1971, die Erfassung, Speicherung und Aufbereitung von Personendaten unmittelbar betraf und nicht zuletzt für die Versicherten erfahrbar machte.1

Der Stichhaltigkeit der Hauptargumente, die auf dem knappen Raum stringent entfaltet werden, tut dies aber grundsätzlich keinen Abbruch. Dank einer zumeist theoretisch angemessenen, aber schnörkellosen Sprache liegt hier eine gut lesbare Arbeit vor, die auch unterstreicht, dass Dissertationen keine mehrere hundert Seiten umfassenden Monumentalwerke sein müssen, um analytisch zu überzeugen. Nicht zuletzt verdeutlicht das Buch, dass zeithistorische Forschungen in diesem hochaktuellen Themenfeld der Computer- und Digitalgeschichte2 durch interdisziplinäre Arbeitsperspektiven nur gewinnen können.

Anmerkungen:
1 Vgl. hierzu Annette Schuhmann, Der Traum vom perfekten Unternehmen. Die Computerisierung der Arbeitswelt in der Bundesrepublik Deutschland (1950er- bis 1980er-Jahre), in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 9 (2012), S. 231–256, hier S. 251, http://www.zeithistorische-forschungen.de/2-2012/id=4697 (19.10.2016).
2 Vgl. etwa das am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam laufende Projekt „Aufbrüche in die digitale Gesellschaft. Computerisierung und soziale Ordnungen in der Bundesrepublik und DDR“: http://www.computerisierung.com (19.10.2016).