A.B. Nikolaev: Die Staatsduma in der Februarrevolution

Cover
Titel
Die Staatsduma in der Februarrevolution. Skizzen zur Geschichte


Autor(en)
Nikolaev, A. B.
Reihe
Forschungen und Dokumente zur neuesten Geschichte Russlands 2
Anzahl Seiten
303 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Karsch, Institut für Geschichtswissenschaften, Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte, Humboldt-Universität zu Berlin

Als die russische Monarchie Ende Februar 1917 die Kontrolle über Petrograd zu verlieren begann, ordnete der Zar am 27. Februar die Auflösung der Staatsduma an. Doch diese widersetzte sich der Anweisung und tagte informell weiter. Noch am selben Tag gründete sie ein Provisorisches Komitee mit ihrem Vorsitzenden Rodzjanko an der Spitze. Am Morgen des 28. Februar erklärte sich dieses Komitee „verantwortlich für die Wiederherstellung der nationalen Ordnung und Sicherheit” und damit zur entscheidenden politischen Kraft. Vier Tage später, am 2. März, formte das Komitee nach Verhandlungen mit dem Sowjet eine neue Staatsführung, die Provisorische Regierung. Zwar existierte das Dumakomitee genauso wie die eher bedeutungslose Duma formal noch bis zum 6. Oktober 1917, doch trat es später kaum noch in Erscheinung.

So konzentriert sich Andrej Nikolaev auch in seiner Darstellung der Duma ausschließlich auf diese entscheidenden fünf Tage (beginnend mit dem 27. Februar verfolgt er einige Entwicklungen bis zum 3. März) und dabei vor allem auf das Provisorische Dumakomitee. Seine zentrale Frage ist dabei die nach der „Rolle der Duma in den Ereignissen der Februarrevolution” (S. 9), also ihr Anteil am Sturz der Monarchie und dem Aufbau einer neuen politischen Machtstruktur. Die bisher vorherrschenden Einschätzungen sprachen der Duma entweder keine entscheidende Rolle bei den Ereignissen zu oder verneinten ihre revolutionäre Grundhaltung, sie sei viel zu loyal gewesen.1 Beiden Behauptungen widerspricht Nikolaev energisch - mittels einer akribischen Rekonstruktion von Sitzungen, Entscheidungen und der ebenso detaillierten Beschreibung von neu gegründeten Gremien, ihrer Struktur und ihren Maßnahmen. Er stützt sich dabei auf eine breite Quellenbasis (Zeitungen, Sitzungsprotokolle und Erinnerungen), die bisher weder in diesem Umfang noch mit einer solchen Systematik ausgewertet wurde. Auf diese Weise kann er eine enorme Aktivität des Provisorischen Dumakomitees nachweisen, bringt Licht in viele unklare und umstrittene Details und kann über Kommissionen berichten, die der Forschung bislang weitgehend unbekannt waren.

Nikolaevs zentrale Aussage ist, dass die Duma ab dem 27. Februar bewusst und aktiv in die Revolution eingriff, dass sie erheblichen Anteil am Verlauf des Aufstandes an diesem Tag hatte, dass sie in den folgenden Tagen die wichtigsten politischen Entscheidungen traf und so Fragen des Militärs, der Polizei, der Finanzen und der Versorgung von Beginn an bewusst gestaltete. Mit dieser Aussage setzt sich Nikolaev deutlich von der gängigen Forschungsmeinung ab, die in den Februarereignissen viel mehr Planlosigkeit, Zufälligkeit und Spontaneität sieht.

Nikolaev rekonstruiert die Umstände, die zur Gründung des Provisorischen Dumakomitees führten (Kapitel 1) und zeigt, dass das entscheidende Treffen am 27. Februar schon am 26., also vor der Anordnung über die Auflösung der Duma, vorbereitet worden war (S. 28) und dass gerade die Kadetten für die Gründung eines Organs mit außerordentlichen Vollmachten plädierten (S. 29). Er weist nach, dass Dumavertreter, vor allem über die neu gegründete Militärkommission, sehr schnell Kontakte zu den aufständischen Soldaten herstellten, dass hinter dem Marsch von mehreren Tausend Aufständischen zum Taurischen Palais am Nachmittag des 27. durchaus Dumaabgeordnete gestanden haben und dass die neu gegründete Militärkommission mit zunehmender Zeit über immer mehr loyale militärische Kräfte verfügte, Bahnhöfe besetzte (allerdings beim Versuch scheiterte, die zentrale Telegrafenstation einzunehmen, S. 64) und in der Stadt Wachen aufstellte.

Die Militärkommission des Komitees hatte großen Anteil an der Zerschlagung des alten zarischen Milizapparates und war an der Überführung großer Teile der Armee auf die Seite der Aufständischen beteiligt (Kapitel 2 und 4). Durch die Entsendung von Kommissaren in Ministerien und wichtige Verwaltungen hatte das Provisorische Komitee faktisch die Funktion der Exekutive übernommen (Kapitel 3). Sehr aufschlussreich sind die Beobachtungen Nikolaevs zur Kooperation von Dumakomitee und Sowjet. Nicht nur unterstreicht er die Tatsache, dass einige Dumaabgeordnete (Cchejdze, Kerenskij) bei der Gründung des Sowjets entscheidend beteiligt waren (S. 32f.). Er zeigt auch, wie beide Institutionen bei den entscheidenden Problemen dieser Tage – Lebensmittelversorgung und Kontrolle über die rebellierenden Armee-Einheiten – zusammenarbeiten mussten (Kapitel 4 und 5). Dabei stellte sich heraus, dass die Initiative und größere Kompetenz beim Dumakomitee lag, das auf einen viel besser strukturierten Verwaltungsapparat zurückgreifen konnte als der erst im Entstehen befindliche Sowjet (S. 158f.).

Größtenteils neu in der Forschung sind die Ausführungen über die Untersuchungskommissionen (vysšaja und nizšaja sledstvennaja kommissija), mit denen die Duma versuchte, die verhafteten Repräsentanten des alten Regimes zu befragen. Dabei stellt sich heraus, dass die Dumaabgeordneten selbst Verhaftungen angeordnet haben (Kapitel 6). Nikolaev schildert weiter die Bemühungen des Dumakomitees und seiner Militärischen Kommission um die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Stadt (Kapitel 7). Im Schlussteil des Buches stellt er fest, dass mit der Gründung der Provisorische Regierung die Duma und ihr Provisorisches Komitee formaljuristisch nicht bedeutungslos wurden (Kapitel 8).

Im Drang, eine Neubewertung der Duma zu profilieren, vertritt Nikolaev allerdings auch Thesen, für das sein empirisches Material wenig Belege liefert. Nach seiner Auffassung rettete die Aktivität des Komitees die Struktur des alten politischen Apparats und sei die Duma am 27. Februar gar zum „Stab des Aufstandes” (S. 245) geworden. Die Bedeutung der Duma, ihre Durchsetzungsfähigkeit und ihr Gewicht in den Ereignissen, kann allerdings nicht allein durch einen Blick von innen, also durch eine Beschreibung der internen Ausdifferenzierung und ihrer einzelnen Beschlüsse, gemessen werden. Nikolaevs Angaben zu den praktischen Ausführungen der Anordnungen oder zur Stärke der verfügbaren militärischen Einheiten oder auch zur Autorität der Duma in der Bevölkerung sind sehr fragmentarisch. So bleibt die entscheidende Frage nach der Wirksamkeit der Duma letztlich unbeantwortet: In welchem Maße wurden die einzelnen Beschlüsse tatsächlich umgesetzt und wie groß war die Wirkung der eingeleiteten Maßnahmen?

Über die eigentliche Aktivität der Kommissare ist außer einigen wenigen Anordnungen offenbar nichts bekannt (S. 81-87). Auch bleibt offen, in welchem Umfang die aufgeführten Befehle zur Aufrechterhaltung der Ordnung tatsächlich wirksam wurden (S. 210-221). Ähnliches gilt für die Autorität der Duma unter den Aufständischen. Wie gut die Massen der Straße das Provisorische Dumakomitee überhaupt kannten, bleibt unklar, und dass allein seine Gründung ihr Handeln beeinflusste haben soll (S. 27), ist eher zweifelhaft. Nikolaev kann kaum belegen, dass die Militärkommission tatsächlich die große Masse der aufständischen Soldaten befehligen konnte. Er kann auch nur von einigen wenigen nachweisbaren Aktivitäten berichten. Ihre tatsächliche Schlagkraft bleibt damit im Unklaren.

Manchmal scheinen die von Nikolaev zitierten Quellen selbst nahe zulegen, dass die Duma eher hilflos und wenig erfolgreich versucht hat, auf die teils chaotischen Entwicklungen Einfluss zu nehmen, etwa bei ihren Bemühungen um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Die Beispiele von Kompetenzchaos, eigenmächtigen Verhaftungen durch Soldaten oder gar Lynchjustiz (S. 171-175) lassen keinen entscheidenden Einfluss der Duma erkennen, ihre Regulierungsversuche scheiterten (S. 175). Die Mitglieder der Duma haben zwar die Verhaftung der alten Minister angeordnet und im Taurischen Palais wurde ein provisorisches Gefängnis eingerichtet (S. 165ff.), die große Masse aller Arreste sind aber offenbar von selbsternannten Ordnungshütern durchgeführt worden. Dass Gefangene auf dem Weg in das Palais umgebracht wurden (S. 177), zeigt doch gerade, dass es der Duma bestenfalls nur sehr eingeschränkt gelang, die unübersichtliche Situation auf den Straßen Petrograds in geordnete Bahnen zu lenken. Dass, wie Nikolaev meint, die Soldaten besonders häufig gegen Vertreter des alten Systems vorgingen, weil die Duma Verhaftungen prinzipiell gebilligt hatte (S. 177, 200), bleibt eine Vermutung.

Einige der Thesen Nikolaevs über die Rolle der Duma leiden zudem an begrifflicher Unschärfe. Die These, die Duma hätte an der „Spitze der revolutionären Bewegung” gestanden (S. 31, 245) lässt die Frage nach der äußerst vielgestaltigen Natur dieser „Bewegung” (die eigentlich eine Summe sehr vieler heterogener Bewegungen mit ganz unterschiedlichen Zielen war) offen. Die Akteure der historischen Ereignisse waren so vielgestaltig (hungernde Frauen traten ebenso auf den Plan wie Berufsrevolutionäre oder freigelassene Verbrecher, Hochgebildete ebenso wie Analphabeten), dass die Behauptung, die Duma hätte mit „aktiver Unterstützung der Massen” (S. 68) oder „nicht isoliert von den aufständischen Massen” gehandelt (S. 128), wenig besagt. Da alle diese Akteure unter dem Terminus „Revolution” Unterschiedliches verstanden, hätte auch die These von der Duma als „Zentrum der Revolution” (S. 39) eine Präzisierung nötig.

Die unbestreitbaren Verdienste der Monografie Nikolaevs liegen auf dem Gebiet der politischen Verwaltungsgeschichte, bei der Rekonstruktion von Entstehung, Struktur, Funktionsweise und wichtigen Entscheidungen des Provisorischen Dumakomitees. Die noch ausstehende Einordnung des Komitees in den breiten sozialen und kulturellen Kontext der Russischen Revolution und ihr tatsächlicher Einfluss auf den Gang der Ereignisse ist nun viel besser möglich.

Anmerkung:
1 Während die westliche Forschung meist die These vertritt, die Dumaabgeordneten seien „Revolutionäre wider Willen” (Pipes, Richard, Die Russische Revolution, 3 Bde., Berlin 1992f.; Figes, Orlando, Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der Russischen Revolution, Berlin 1998; Acton, Edward; Cherniaev, Vladimir Iu.; Rosenberg, William G. (Hgg.), Critical Companion to the Russian Revolution 1914-1921, Bloomington 1997; Hasegawa, Tsuyoshi, February Revolution. Petrograd 1917, Seattle 1981), behaupteten sowjetische Forscher meist, die konterrevolutionäre Duma habe die Aufständischen bewusst getäuscht, um ihnen die Macht zu entreißen. (Minc, Isaak I., istorija velikogo oktjabrja, 3 Bde., Moskau 1977; Weniger radikal: Starcev, Vitalij I., revoljucija i vlast‘. petrogradskij sovet i vremennoe pravitel’stvo v marte-aprele 1917, Moskau 1978; ders., vnutrennjaja politika vremennogo pravitel’stva pervogo sostava, Leningrad 1980).

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