P. Prodi: Das Sakrament der Herrschaft

Titel
Das Sakrament der Herrschaft. Der politische Eid in der Verfassungsgeschichte des Okzidents


Autor(en)
Prodi, Paolo
Erschienen
Anzahl Seiten
455 S.
Preis
€ 88,00
Gerd Schwerhoff, Institut für Geschichte Geschichte der Frühen Neuzeit, Technische Universität Dresden

Das hier vorzustellende Buch ist nicht mehr brandneu. Der 1997 erschienenen deutschen Übersetzung liegt eine italienische Originalausgabe von 1992 zugrunde, deren Literatur- und Quellenverzeichnis bedauerlicherweise nicht übernommen wurde; überdies wurde die seither erschiene Sekundärliteratur nicht mehr berücksichtigt.[1] Gleichwohl ist die Arbeit so originell und grundlegend, daß sie bereits jetzt als ‘Klassiker’ angesprochen werden darf und als solcher eine breite Rezeption verdient.

Versuchen wir zunächst, den Gegenstand des Buches vom Untertitel her zu erschließen. Es geht dem Autor nicht um ‘den’ Eid schlechthin, sondern um den „politischen Eid“. Darunter versteht er allerdings nicht einen bestimmten, von anderen Schwurformen abgrenzbaren Typus, sondern eher die „politische Valenz“ (S. 14) des Eides, die ihn zur Grundlage des politischen Vertragswesens im Abendland schlechthin gemacht habe. Traditionelle typologische Unterscheidungen wie die zwischen assertorischem (Wahrheits-) Eid und promissorischem, in die Zukunft gerichteten Eid hält Prodi deshalb für problematisch, wenn er ihnen auch einen gewissen heuristischen Wert zugesteht.[2] „Verfassungsgeschichte“, eine Geschichte der politischen Ordnung(en) also, ist Prodis Buch in einem denkbar weiten Sinne; es beschäftigt sich mit Kirche, Theologie und Religion ebenso wie mit Recht und Gesellschaft. Gegenüber neueren historiographischen Strömungen (namentlich der Annales-Schule), die die Politik als Gegenstand der Geschichtswissenschaft abgewertet hätten, ist es das ausdrückliche Anliegen des Autors, einen neuen Brückenschlag von Politikgeschichte und Sozialgeschichte zu versuchen. Was seine Quellengrundlage angeht, so konzentriert er sich, um einen zentralen Leseeindruck vorwegzunehmen, vorwiegend auf die zeitgenössischen Theoretikern des Eides in den jeweiligen theologischen, juristischen und politischen Diskursen. Man könnte also von einer konventionell angelegten Ideengeschichte des Eides sprechen, freilich von einer sozialhistorisch außerordentlich informierten Ideengeschichte. Dabei schreitet Prodi vornehmlich die bekannten Höhenkämme ab, die von den zentralen und vieldiskutierten Theoretikern des jeweiligen Zeitalters gebildet werden; bisweilen kommen aber auch aussagekräftige Autoren der zweiten und dritten Reihe zur Sprache, z.B. jene zahlreichen Dissertationen zur Eidesproblematik, die im 17. und 18. Jahrhundert an deutschen Universitäten verteidigt wurden (z.B. S. 386ff.). Noch beeindruckender als die Breite der herangezogenen Quellen und Literatur ist der ins Auge gefasste Zeitraum: Er reicht schlicht „von der Antike bis in unsere Tage“ (S. 15), von Plato bis Carl Schmitt, von der griechischen Polis bis zum Treueid des deutschen Heeres auf Adolf Hitler - einem zentralen Fluchtpunkt der gesamten Untersuchung. Der weiten Spanne der behandelten Autoren und Probleme entspricht die Vielzahl historiographischer Diskurse, in denen Prodi zu Hause sein mußte, um jene angemessen beurteilen zu können. Wenig andere Autoren dürften die verzweigte internationale Forschung so überblicken, wie es der langjährige ehemalige Direktor des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient vermochte. Neben den französischen, den anglo-amerikanischen und - notabene - den italienischen Stimmen kommen auch die deutschen ausführlich zu Wort; vielleicht kann man sogar sagen, daß Prodi der deutschen „Verfassungsgeschichte“ (der italienische Orginalbegriff ‘storia constituzionale’ dürfte seinerseits ein deutsches Lehnwort sein) besonders verpflichtet ist.

Auch der Verweis auf den „Okzident“ deutet in diese Richtung. Denn damit ist ja nicht nur eine räumliche Bestimmung vorgenommen, sondern auch die Weber’sche Frage nach den welthistorischen Besonderheiten eben jener okzidentalen Entwicklung berührt. Und dazu gehörte, so Prodis These, eben ganz wesentlich der Eid. Seine Schlußfolgerungen über dessen Geschichte liegen ganz auf der Linie von Max Weber, wenn er die welthistorische Bedeutung der christlichen Kirche in diesem Zusammenhang hervorhebt. Die Geschichte des Eides sei nicht etwa diejenige einer Emanzipation weltlicher Verfassung und Politik von ihren (vormodernen) christlich-religiösen Grundlagen. Vielmehr sei es die christliche Kirche selbst, die als Garantin des Eides „den Weg für die Verweltlichung der Politik geebnet hat“ (S. 23). Ebenso wie bei dem vom Heidelberger Soziologen postulierten Zusammenhang von ‘protestantischem Geist’ und ‘kapitalistischer Ethik’ handelt es sich hier offenbar um eine paradoxe, nicht-intentionale Verknüpfung.

Aber der Reihe nach. Bereits in der Antike zeichnet sich ab, was den gewissermaßen zivilisatorischen Charakter des Eides im Okzident auszeichnen sollte. Während in den alten Hochkulturen Mesopotamiens und Ägyptens der jeweilige Herrscher mit Gott identifiziert wurde, erlaubte „die Nicht-Identifikation der Göttlichkeit mit den konkreten Machthabern den Beginn eines langen Entwicklungsprozesses der politischen Bedeutung des Eides“ (S. 26). Erst aufgrund dieser Voraussetzung kann die Gottheit zum metapolitischen Garanten des Eides als politischen Vertrages werden. Der Schwur bedeutete also nicht nur die Bindung der Eidleistenden an den jeweiligen weltlichen Herrscher, sondern zugleich an Gott. Dieser ‘Dualismus’ beinhaltete von Beginn an ein Potential zur Relativierung und Domestizierung der säkularen Herrschaftsgewalt.

Klarer zeichnen sich die bereits in der Antike angedeuteten Tatbestände dann im europäischen Frühmittelalter ab. Jetzt wurde der Eid zu dem im Haupttitel angesprochenen christlichen Sakrament (zeitweilig waren „iuramentum“ und „sacramentum“ Synonyme, S. 57). Damit erlangte die Kirche zugleich die Kontrolle über den Eid, indem sie zum Beispiel jemanden von einem sündhaften Eid entbinden konnte oder indem sie Bußleistungen für Eidbruch festsetzte. Zugleich gewinnt mit dem Eid die innere Haltung eines Akteurs, modern gesprochen sein Gewissen, Relevanz. Herrschafts- und Gewaltverhältnisse transformieren sich damit durch den Eid, zumindest potentiell, zu Rechtsverhältnissen. „Jeder Mann wurde durch das sacramentum juris in gewisser Weise zu einem aktiven Subjekt (...) Die Kirche hatte durch ihre sakrale Macht mittels der sakramentalen Formel die Möglichkeit, Tatsachen und Beziehungen, die sich zwischen den Menschen bildeten, in Recht zu verwandeln, ganz gleich, ob es sich um Abhängigkeits- oder Treuebeziehungen (...) oder ob es sich um (...) Beziehungen zwischen Gleichberechtigten handelte“ (S.67). Es handelt sich also nicht um eine (nachträgliche) Sakralisierung politischer Verträge, gleichsam um die plumpe religiöse Legitimation politischer Herrschaft im Sinne einers vulgärmarxistischen Basis-Überbau-Schemas, sondern es ist das Sakrament der Herrschaft, das Recht herstellt und damit Herrschaft hervorbringt, zugleich aber deren Totalität Zügel anzulegen versteht. Denn die weltliche Herrschaft, vor allem in Gestalt der Karolinger, versucht zwar, die Kontrolle und das Monopol über den Eid zu erlangen, scheitert aber letztlich daran. Mit der gregorianischen Reform und anschließenden Blütephase päpstlicher Macht wird den weltlichen Machthabern endgültig die Gewalt über den Eid entzogen und eine systematische Eidestheologie entworfen, die als institutionelle Grundlage für die „Desakralisierung der Politik“ (S. 106) dienen kann. Die Kehrseite der sich verfestigenden kirchlichen Souveränität über den Eid war die Tatsache, daß er bald nicht mehr im engeren Sinn als unantastbares sacramentum, wenn auch noch als res sacra angesehen wurde.

In einem der beeindruckendsten Kapitel des Buches beschreibt Prodi die „geschworene“ Gesellschaft des Spätmittelalters gleichsam als historischen Gipfelpunkt für die Bedeutung des Eides. Der politische Eidesvertrag wird gleichsam ubiquitär und prägt gesellschaftliche Verhältnisse auf allen Ebenen, ob es die ‘internationale Politik’, die ritterlichen, gemeindlichen oder städtischen Schwurverbände, die Universitäten oder die Kirche selbst angeht. Ein gemeinsamer Grundzug liegt im Bestreben, die Macht durch eine möglichst weitgehende Selbstbindung des Herrschers - etwa durch eine Wahlkapitulation - zu begrenzen. Das wird z.B. im Versuch der Konziliaristen in Basel deutlich, dem Papst selbst einen Amtseid abzufordern. Dieser Versuch scheitert, und bereits während der spätmittelalterlichen Blütezeit des dualistisch begründeten Vertragseides arbeiteten monistische und monarchistische Kräfte (zuerst die Kurie) daran, einen rein hierarchischen Eid zu schaffen, der einzig unter der Kontrolle des weltlichen Machthabers stand (S. 143). Noch aber blieb dieser Eid in Theorie und Praxis „die Grundlage aller Versuche vertraglicher, repräsentativer und körperschaftlicher Problemlösungen“ in Kirche und Gesellschaften, stellte er eine „Brücke zwischen Recht und Theologie, zwischen Weltlichem und Geistlichem“ dar, auf die von beiden Seiten Kontroll- und Monopolansprüche erhoben wurden, die jedoch gerade deshalb „Niemandsland oder, besser gesagt, gemeinsames Land und Begegnungsstätte“ war (S. 199f.).

Das änderte sich nach den Beobachtungen von Prodi zwischen der Mitte des 15. und des 17. Jahrhunderts. Die Obrigkeit erlangte jetzt ein Monopol über den Eid als Instrument für die Durchsetzung der eigenen Macht. Theoretiker wie Bodin entwickelten eine neue Auffassung vom Eid als Vorrecht der Souveränität, wobei der Herrscher seinerseits immer weniger durch einen Schwur gebunden werden konnte, der seine Souveränität einzuschränken drohte. So wurde der Eid zu einem mächtigen, weil das Gewissen der Untertanen zwingenden Disziplinierungsinstitut des enstehenden Staates und zum Kern dessen, was Prodi als „Sakralisierung der Politik“ bezeichnet. Komplementär dazu kam es im Zuge der Konfessionalisierung zu einer „Politisierung der Religion“. Das iuramentum religionis, so sollte schon Christian Thomasius beklagen, stellte damit das schrecklichste Instrument zur Unterdrückung der Gewissensfreiheit dar (S. 248). Dieser Zangenangriff auf die alteuropäische Vertragskultur wurde jedoch nicht überall widerspruchslos akzeptiert. Würdigt Prodi ausführlich schon Thomas Morus als einen heroischen Verteidiger des institutionellen Dualismus gegen den „monistischen“ Heinrich VIII. und sein Verlangen, ihm als König und Kirchenoberhaupt einen Treueid zu schwören (S. 238ff.), so widmet er den radikalen Eidverweigerern ein ganzes Kapitel. Schon manche spätmittelalterlichen Ketzer, vor allem aber die Wiedertäufer und Mennoniten seien „konsequente Vertreter des christlichen Dualismus und somit Revolutionäre gegenüber dem System der Macht“, Rebellen gegen die monokratische Allianz zwischen der geistlichen und der weltlichen Macht gewesen (S. 291). Sie hielten damit eine Tradition lebendig, die für eine Vertragstheorie des 17. Jahrhunderts bestimmend wurde, wie sie von den englischen Puritanern, von der katholischen Spätscholastik und den Monarchomachen entwickelt wurde. Diese war letztlich dafür verantwortlich, daß es im frühneuzeitlichen Europa „keine Wiedergeburt eines Cäsaropapismus gegeben hat, der doch als Möglichkeit politisch-religiöser Konformität Ausdruck des erzwungenen Konfessionalisierungsprozesses hätte sein können“ (S. 355f.).

Aber es war doch ein anderer Dualismus, der in den modernen Diskursen dominant wurde, nämlich der zwischen forum internum und forum externum, zwischen Gewissen und Recht, zwischen Moral und Macht. Der Eid, ursprünglich als Brücke zwischen diesen Sphären angelegt, mußte angesichts einer immer strikteren Trennung zwischen einer äußeren Legalität, die mit einem Gelübte dokumentiert wurde, und einer inneren Einstellung, einem Gewissen, das von diesen Äußerlichkeiten nicht unbedingt tangiert wurde, zur leeren Hülle werden. Von daher war es nur folgerichtig, daß in der aufklärerischen Debatte der Eid als konstitutives Element für den Abschluß eines Vertrages entfiel. Hobbes sah in ihm eine dem eigentlichen Versprechen ‘hinzutretende sprachliche Formel’, die den Akteur aus Furcht vor dem göttlichen Zorn zur Einhaltung seines Wortes nötige. Rousseau vollendete dann die Metamorphose des Eides als ein rein weltliches, politisches Glaubensbekenntnis. Damit war auch jener Prozeß der „Sakralisierung der Politik“ prinzipiell abgeschlossen, der in ds ‘pro patria mori’ des 20. Jahrhunderts mündete und im Treueid auf Hitler seinen negativen Höhepunkt fand.

Die vorstehende knappe Zusammenfassung gibt sicher nur eine sehr unzureichende Idee von den dichten, und bisweilen aber auch sehr verwickelten und nur für den Spezialisten völlig zu durchblickenden Argumentationssträngen des Buches. Es verbindet eine stupende Gelehrsamkeit und einen Kenntnisreichtum im Detail mit dem Willen zur entschlossenen Historisierung des Eides und mit der Fähigkeit zur Formulierung großer Thesen. Viele bekannte Stränge der europäischen Verfassungsgeschichte gewinnen in der Betrachtung sub specie iuramenti neue Konturen, zu ebensovielen Forschungskontroversen trägt Prodi unbekannte Aspekte bei. Die Tragfähigkeit der einzelnen Argumente wird vermutlich kontrovers diskutiert werden. So ist Prodis Perspektive z. B. durchaus nützlich, um über die in der Gierke’schen Tradition immer wieder beschworene Dichotomie von Herrschaft und Genossenschaft hinauszugelangen (S. 180ff.). Fragwürdig dagegen erscheint mir seine Fundamentalkritik an der Kommunalismus-These Peter Blickles (S. 246f., 257f.), weil in diesem Kontext die „eigentliche“ Frontstellung (Konfessionskirchen vs. radikales, eidkritisches Christentum) nicht angemessen zur Kenntnis genommen werde. Der Blick vom Höhenkamm eröffnet sicher viele neue Perspektiven, aber vom Gipfel aus scheint doch so manches klar, was bei sich weiterer Annäherung sehr viel komplizierter darstellt. Seine - in einem Exkurs angesiedelte - Interpretation blasphemischer Schwüre und Flüche als Akt politischer Verweigerung, als „Ausdruck der Ablehnung der Sakralisierung der Herrschaft“ (S. 328f.), entspringt logisch der von ihm skizzierten frühneuzeitlichen Frontlinie zwischen Widerstand und Anpassung; mit der neuerdings gut untersuchten Realität der Blasphemie in jener Zeit hat das alles jedoch wenig zu tun. [3] Daß ein breit angelegtes ‘opus magnum’ viele kritische Anmerkungen im Detail proviziert, ist unvermeidlich. Jenseits der kritischen Diskussion der Einzelpunkte wird das Buch von Paolo Prodi jedoch seinen Wert als Inspirationsquelle für alle, die sich mit der Geschichte des Eides bzw. mit Verfassungsgeschichte überhaupt beschäftigen, behalten.

Anmerkungen:
(1) Hinzuweisen ist etwa auf den Sammelband von Peter Blickle (Hg.): Der Fluch und der Eid. Die metaphysische Begründung gesellschaftlichen Zusammenlebens und politischer Ordnung in der ständischen Gesellschaft (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 15), Berlin 1993, dort vor allem auf den grundlegenden Aufsatz von André Holenstein. Auch Prodi selbst hat 1993 einen Sammelband vorgelegt, vgl. Paolo Prodi (Hg.): Glaube und Eid. Treueformeln, Glaubensbekenntnisse und Sozialdisziplinierung zwischen Mittelalter und Neuzeit (Schriften des Historischen Kollegs 28), München 1993. Für einen Teilaspekt wichtig der jüngst erschienene Band von Stefan Esders/ Thomas Scharff (Hg.): Eid und Wahrheitssuche. Studien zu rechtlichen Befragungspraktiken in Mittelalter und früher Neuzeit (Gesellschaft, Kultur und Schrift. Mediävistische Beiträge 7), Frankfurt/M. 1999.
(2) Hier bezieht er sich insbesondere auf das Kompendium von Lothar Kolmer: Promissorische Eide im Mittelalter, Kallmünz 1989.
(3) Vgl. z.B. Alain Cabantous: Geschichte der Blasphemie, Weimar 1999.

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