S. Levsen u.a. (Hrsg.): Wo liegt die Bundesrepublik?

Cover
Titel
Wo liegt die Bundesrepublik?. Vergleichende Perspektiven auf die westdeutsche Geschichte


Herausgeber
Levsen, Sonja; Torp, Cornelius
Erschienen
Göttingen 2016: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
362 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Isabel Richter, Deutsches Historisches Institut, Washington D.C.

Geschichtsschreibung ohne die methodische und intellektuelle Operation des Vergleichens ist unmöglich, denn, so heißt es in Sonja Levsens und Cornelius Torps einleitendem Statement, „der vergleichende Blick [ist] jeder historischen Darstellung und zumal jeder Nationalgeschichte stets eingeschrieben“ (S. 9). Der aus einer Konferenz 2014 in Freiburg hervorgegangene Band dokumentiert in 14 Aufsätzen (die hier nicht alle vorgestellt werden können) das Spektrum der Auseinandersetzung einer überwiegend jüngeren Generation deutscher Historiker/innen mit der Methode des Vergleichs für die Geschichte der Bundesrepublik.

Die Aufsatzsammlung lässt sich drei neueren Entwicklungen zuordnen: den Reflexionen aus den letzten etwa 30 Jahren, Geschichte über die Grenzen von Nationalstaaten hinaus zu denken, etwa in der Vorstellung einer Histoire Croiseé oder Weltgeschichte. Sie knüpft ferner an die aktuellen Debatten um den historischen Vergleich als Methode und um transnationale Geschichte als Perspektive an.1 Und nicht zuletzt lässt sie sich dem jüngsten Trend zuordnen, die transnationalen Dimensionen der Geschichte der Bundesrepublik expliziter in den Blick zu nehmen.2 Die Herausgeberin und der Herausgeber verfolgen das Ziel, die Geschichte der Bundesrepublik neu zu verorten und traditionelle Referenzräume wie die Geschichte des Nationalsozialismus und des „Westens“ zu revalidieren – mit der Absicht, ein differenziertes Koordinatensystem zu entwickeln, das sich durch empirisch gesättigte Fallstudien entfalten soll (S. 17). Als zentrales Element gilt dabei zum einen, sich von der Vorstellung „des Westens“ als eines homogenen Referenzraums zu verabschieden. Ferner sollen zentrale Narrative wie „Demokratisierung“, „Amerikanisierung“, „Wertewandel“ und „Strukturwandel“ als Narrative historisiert werden. Nicht zuletzt sehen Levsen und Torp einen zentralen Aspekt für die Neuverortung darin, traditionelle Kausalketten zu hinterfragen, etwa die Interpretation der westdeutschen Geschichte aus dem Erbe der NS-Vergangenheit (S. 20f.). Sie versprechen sich davon ein Bild der Bundesrepublik mit präziseren Konturen und farbigeren Nuancen.

Bei diesem methodischen Programm wundert es nicht, dass keine/r der Autor/innen einen systematischen Vergleich mit einer strengen Orientierung an der Frage nach Ähnlichkeiten und Unterschieden sowie einem Tertium Comparationis vorlegt, wie Vertreter der vergleichenden Geschichte es in Veröffentlichungen der 1990er-Jahre vorschlugen.3 Das empirische Vorgehen der Autor/innen macht vielmehr ein heterogenes Feld sichtbar, das von der Historisierung und Gegenüberstellung von Deutungsmustern, der Beleuchtung transnationaler Bezugspunkte, Kontakte und Beziehungen auf der Akteursebene, vergleichenden Ansätzen ohne systematischen Anspruch bis zur Hervorhebung von transnationalen Netzwerken der Wissensproduktion reicht.

So historisiert Silja Behre Deutungsmuster, mit denen westdeutsche und französische Historiker/innen die Bedeutung der „68er“-Bewegung in der Bundesrepublik und Frankreich analysiert haben. Die gängige Interpretation vom politischen Scheitern, aber kulturellen Erfolg von „1968“ führt Behre darauf zurück, dass französische wie westdeutsche Historiker/innen Scheitern und Erfolg an einem traditionellen Politikbegriff messen, der die politische Dimension eines Ereignisses ausschließlich anhand der Relevanz für den Staat, dessen Institutionen sowie für Parteipolitik bewertet. Behre arbeitet heraus, dass in dieser Dichotomisierung von politischem Scheitern und kulturellem Erfolg das Bemühen von Akteuren der Protestbewegung, die traditionelle Vorstellung von Politik zu erweitern, keine Berücksichtigung erfährt. Gerade die Studentenbewegung und die Neue Frauenbewegung der späten 1960er-Jahre stellten das staatliche Monopol auf Politik jedoch radikal in Frage und engagierten sich für eine politische Praxis jenseits von Parteien und Parlamenten – eine Vorstellung, die seither nicht nur die französische und westdeutsche Gesellschaft nachhaltig beeinflusst hat, sondern auch die Forschung zu den europäischen Neuen Sozialen Bewegungen.

Andere Texte des Bandes legen noch größeren Wert auf transnationale Bezugspunkte, weniger auf eine systematische und dichte Beziehungsgeschichte. So formuliert Rüdiger Graf die naheliegende These, dass sich die Energiekrise der Bundesrepublik in den 1970er-Jahren nicht in einem nationalen Rahmen verstehen lasse. Bezüge zum zentralen Referenzraum USA dienen ihm dazu, die Energiepolitik der Bundesrepublik zu interpretieren, die sich von einem pragmatischen Krisenmanagement zu einem strategisch wichtigen, dauerhaften Handlungsfeld entwickelte.

Weitere Aufsätze des Bandes lese ich als durchaus einer klassischen vergleichenden Perspektive verpflichtet, ohne allerdings einen systematisch-vergleichenden Anspruch zu formulieren. So untersucht Christine G. Krüger bürgergesellschaftliches Engagement am Beispiel der Jugendfreiwilligendienste in der Bundesrepublik und in Großbritannien. Sie vergleicht Leitvorstellungen und Geschlechterideale, Klientelpolitik und zentrale Motive solcher Dienste mit dem Ziel, nationale Spezifika deutlicher herausarbeiten zu können. In ihrer Analyse der 1958 gegründeten britischen Organisationen „Voluntary Service Overseas“ bzw. der 1962 ins Leben gerufenen „Community Service Volunteers“ sowie für die Bundesrepublik der seit 1954 aktiven freiwilligen Sozialdienste und der seit 1958 engagierten „Aktion Sühnezeichen“ zeigt sie die geschlechterpolitisch unterschiedlichen Strategien und Effekte des bürgergesellschaftlichen Engagements von den 1950er-Jahren bis in die 1970er: Während in Großbritannien das Bemühen im Vordergrund gestanden habe, traditionelle Geschlechterrollen durchlässiger zu machen, blieben die Freiwilligendienste in der Bundesrepublik eine weibliche Domäne und dem klassischen Ideal der Hausfrau verpflichtet. Krüger macht zudem auf einen sowohl für die Geschichte der Jugend als auch für die Geschichte der Erwerbsarbeit in der Nachkriegszeit interessanten Befund aufmerksam, wenn sie die gängige These der skeptischen, unpolitischen Jugend der Zeit um 1960 für nicht mehr haltbar erklärt. Denn die von der Forschung vielfach übernommene Kritik am Privatismus und dem mangelnden bürgergesellschaftlichen Engagement der Jugend unterstützte vor allem die politischen Ziele konservativer und kirchlicher Milieus, die das freiwillige Sozialjahr für junge Frauen auch als Mittel im Kampf gegen die zunehmende Frauenerwerbstätigkeit nutzten.

Wie unterschiedlich komparatistische Perspektiven verstanden werden können, macht beispielsweise Christiane Reineckes Beitrag deutlich, der vor allem die Bedeutung von Netzwerken für die Wissensproduktion hervorhebt. Sie untersucht die Wissenszirkulation zum Phänomen der Entstehung einer „Vierten Welt“ in den 1960er-Jahren in französischen und westdeutschen Großstädten. Reinecke betrachtet damit eine spezifische Form von Armut in industrialisierten Ländern, die damals gemeinhin als Wohlstandsgesellschaften galten. Im Unterschied zur Situation in den Notunterkünften für Flüchtlinge und Bombenopfer der Nachkriegszeit machten französische humanitäre Organisationen wie „Aide à toute détresse“ (später „ATD Quart Monde“) seit den späten 1950er-Jahren auf die zunehmende Zahl wohnungsloser, einkommensschwacher, meist kinderreicher Familien im Osten von Paris aufmerksam. Wissen um die sogenannten „bidonvilles“ kursierte in Netzwerken humanitärer Aktivisten und Sozialwissenschaftler, die vor allem durch Untersuchungen zur Ghettoisierung in den USA inspiriert waren. Trotz einer staatlichen Wohnungspolitik in der Bundesrepublik wurden Obdachlosenunterkünfte und wohnungslose Familien auch hier in den 1960er-Jahren zu einem öffentlich diskutierten Thema. Reinecke hebt besonders die Gemeinsamkeiten im Umgang mit marginalisierter Armut in Frankreich und der Bundesrepublik hervor.

Die Aufsatzsammlung löst das formulierte Programm, traditionelle Referenzräume wie die Geschichte des Nationalsozialismus und „des Westens“ zu revalidieren, nur in Ansätzen ein. Zwar wird deutlich, dass „der Westen“ kein homogener Referenzraum war. Dennoch fokussiert die deutliche Mehrheit der Aufsätze die Geschichte der Bundesrepublik im Kontext der französischen, britischen und US-amerikanischen Geschichte, und für viele Themen des Bandes bleibt die NS-Geschichte ein wesentlicher Anknüpfungspunkt. Komparatistische Perspektiven zur Bundesrepublik und Polen oder Skandinavien bleiben marginal. Das mag empirisch dem aktuellen Forschungsstand entsprechen. Trotzdem beantworten viele Aufsätze die Frage nach der konkreten Länderauswahl der Fallstudien nur unbefriedigend. Darüber hinaus steht die „alte“ Bundesrepublik im Zentrum des Aufsatzbandes, obwohl das vereinigte Deutschland mit seiner veränderten europäischen und globalen Rolle bereits eine gut 25-jährige Geschichte hat, aus der sich neue Vergleichsbezüge ergeben.

Methodisch bleibt der Band einer erweiterten Sozialgeschichte verpflichtet. Konkrete Akteure, Aneignungen, eigensinnige Prozesse, die Frage nach einem Wandel von Mentalitäten, von populärer Kultur, die Auseinandersetzung mit visuellen Quellen, Sound und materieller Kultur in vergleichenden Perspektiven auf die Bundesrepublik habe ich vermisst. Dass die Autor/innen die Frage, was auf die bisherigen Meistererzählungen zur Geschichte der Bundesrepublik folgen mag, nicht beantworten, ist dagegen keineswegs enttäuschend. Denn die gängigen Periodisierungen und Deutungsmuster in der Geschichte der Bundesrepublik zu problematisieren und mit einem Patchwork aus Fallstudien zu reagieren, ist für mich durchaus überzeugend. Produktiv ist zweifellos auch der Weg, vergleichende Geschichte nicht anderen Ansätzen gegenüberzustellen, sondern auszuloten, wie sich komparatistische Perspektiven kreativ mit anderen Zugängen wie der Entangled History, der Globalgeschichte und der transnationalen Geschichte verbinden lassen. Insgesamt habe ich die Textsammlung auch deshalb mit Gewinn gelesen, weil sie überwiegend empirisch gesättigte Werkstücke aus aktuellen Forschungsarbeiten dokumentiert.

Anmerkungen:
1 Angelika Epple / Walter Erhart (Hrsg.), Die Welt beobachten. Praktiken des Vergleichens, Frankfurt am Main 2015; Madeleine Herren / Martin Rüesch / Christiane Sibille, Transcultural History. Theories, Methods, Sources, Heidelberg 2012.
2 Alexander Gallus / Axel Schildt / Detlef Siegfried (Hrsg.), Deutsche Zeitgeschichte – transnational, Göttingen 2015.
3 Vgl. etwa Heinz-Gerhard Haupt / Jürgen Kocka, Historischer Vergleich. Methoden, Aufgaben, Probleme. Eine Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main 1996, S. 9–45, oder Hartmut Kaelble, Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1999.