S. Schwarz: Despoten – Barbaren – Wirtschaftspartner

Cover
Titel
Despoten – Barbaren – Wirtschaftspartner. Die Allgemeine Zeitung und der Diskurs über das Osmanische Reich 1821–1840


Autor(en)
Schwarz, Steffen L.
Erschienen
Köln 2016: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
332 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Korinna Schönhärl, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Die Allgemeine Zeitung (AZ) aus dem Hause Cotta war im Untersuchungszeitraum (der früher beginnt, als der Titel glauben macht) von 1810 bis zur Julirevolution eine der einflussreichsten deutschsprachigen Tageszeitungen und wurde auch im europäischen Ausland rezipiert. Welche Vorstellungen vom Osmanischen Reich transportierte bzw. konstruierte die AZ? Dieser Frage geht die vorliegende Dissertation anhand von fünf chronologisch aufeinander folgenden Krisensituationen nach: dem griechischen Unabhängigkeitskrieg 1821–27, dem russisch-osmanischen Krieg 1828–29, der französischen Expansion nach Algerien 1830, sowie der ersten und der zweiten orientalischen Krise bis 1840. Im Fokus des Interesses steht dabei die Frage nach den Akteuren, ihren Vorstellungen, Informations- und Wissensquellen. Dabei werden (Chef-)Redakteure und Kommentatoren ebenso in den Blick genommen wie Auslandskorrespondenten und die Vertreter verschiedener Regierungen. Welche Interessen verfolgten sie? Wie versuchten Sie die AZ zu beeinflussen? Wie veränderten sich Situationen und Strategien im Laufe der Zeit? Schwarz will ein Stück Pressegeschichte beleuchten, indem er nach Wegen und Möglichkeiten öffentlicher Diskussion im Vormärz fragt.

Als Quellen nutzt er zum einen die vielen tausende von Artikeln, die in der AZ in der Rubrik „Türkei“ erschienen; zum anderen Korrespondenzen der Akteure vor allem im Archiv des Cotta-Verlages in Marbach. Überwiegend chronologisch (Said, Koselleck und Co. finden nur in Nebensätzen Erwähnung) rekonstruiert Schwarz aus diesem Material, ergänzt um gründlich ausgewertete Forschungsliteratur, in beeindruckender Gründlichkeit die „osmanische“ Berichterstattung der AZ.

Zum einen geht es ihm um die Auslandskorrespondenten. Er kann zeigen, wie sehr die AZ in der untersuchten Zeit ihre osmanische Berichterstattung quantitativ und qualitativ verbesserte. Stammten anfangs die meisten Informationen aus Mangel an Alternativen noch aus offiziösen österreichischen Quellen, so suchte die AZ sich bereits kurz nach Ausbruch des griechischen Unabhängigkeitskrieges 1821 einen eigenen Korrespondenten in Wien. Da dieser stark von den Informationen der griechischen Handelshäuser abhing, hatte die Berichterstattung der AZ zunächst einen deutlich philhellenischen Einschlag, ja sie kann als griechische Propaganda bezeichnet werden. Intellektuelle Kommentatoren wie Friedrich Thiersch oder Hans Christoph von Gagern verstärkten diese Tendenz, sodass die AZ sich „innerhalb weniger Monate zum wichtigsten philhellenisch gesinnten Informationsmedium der deutschen Presse“ (s: 130) entwickelte. Die philhellenische Prägung der deutschen Öffentlichkeit wurde so entscheidend vorangetrieben, was zugleich wiederum einen Marktvorteil für die AZ bedeutete. Die Zeitung schuf sich so den Markt für ihre osmanische Berichterstattung selbst, indem sie den Raum auf die politische Agenda des deutschen Liberalismus setzte. Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass die deutsche Öffentlichkeit sich die Intervention der Großmächte zugunsten der Griechen 1827 als Erfolg auf die Fahnen schrieb, obgleich sie de facto aus anderen Interessen erfolgte.

Anfangs war die AZ so sehr von einem einzelnen Korrespondenten abhängig, dass man ihm aufgrund seiner Monopolstellung neben einseitigen Informationen und Kooperation mit der Konkurrenz selbst Fehltritte wie unglückliche Börsenspekulationen mit Cotta’schem Geld oder das Anschwärzen potentieller Konkurrenten bei der Zensur zähneknirschend verzeihen musste. Cotta baute das Korrespondentennetz jedoch ständig weiter aus und diversifizierte die Informationsquellen.

Im Laufe der Zeit wurde es immer breiter und besser: Zusätzlich zu Zitaten aus anderen Zeitungen, Reiseberichten und dem Abdruck diplomatischer Dokumente konnte die AZ 1829 bereits einen eigenen Korrespondenten in Ägypten vorweisen. Nach der französischen Okkupation Algeriens durch Frankreich diversifizierte sie die Berichterstattung aus dem Osmanischen Reich durch mehrere eigene Berichterstatter vor Ort. So emanzipierte sich die Zeitung im Hinblick auf Algerien immer mehr von den französischen Blättern, sodass die französische „Zivilisierungsmission im Dienste Europas“ (S. 242) zunehmend kritisch gesehen wurde. Ab 1840 hatte die AZ dann sogar einen eigenen Korrespondenten direkt in Konstantinopel, und auch die einzelnen Nationalitäten des Balkans kamen zu Wort. Schwarz untersucht jeden einzelnen Korrespondenten und liefert umfangreiches biografisches Material. Er dechiffriert auch die Signaturen bzw. ordnet den Korrespondenten Nachrichtenorte (z.B. Odessa, Triest, Wien) zu, was für die weitere Forschung die Arbeit mit den Artikeln stark vereinfachen dürfte.

Das besondere Interesse des Autors gilt dem Einfluss der Politik bzw. bestimmter Regierungen. Der Einfluss direkter Zensur wirkte teilweise ganz anders als von dieser beabsichtigt: Je mehr die AZ z.B. in ihrer kritischen Berichterstattung über die Lage im Deutschen Bund oder in bestimmten europäischen Staaten beschnitten wurde, desto intensiver wandte sie sich dem Osmanischen Reich zu, wo die Freiheit der Berichterstattung kaum beschränkt war. Interessant ist auch der Befund, dass wirtschaftlicher Druck zuweilen mehr bewirkte als politischer: Die Drohung, die Zeitung für ihre große österreichische Leserschaft zu verbieten, half Metternich mehr als eine Intervention bei der bayerischen Regierung. Regierungseinfluss wurde auch ausgeübt, indem etwa die österreichische oder russische Regierung der AZ über bestimmte Korrespondenten (Schwarz spricht dann zuweilen von „Agenten“) Nachrichten oder diplomatische Dokumente zuspielten. Russland benutzte die AZ so phasenweise erfolgreich als „Propagandainstrument“. Nach 1836 dagegen waren es dann vor allem Frankreich und England, die sich um Einfluss bemühten und damit faktisch auch die wachsende Macht der Öffentlichkeit anerkannten. Den österreichischen Einfluss auf die Zeitung hält Schwarz jedoch durchgehend für weniger stark als bisher in der Literatur angenommen.

Er arbeitet heraus, wie sehr die sich stetig wandelnden Sym- und Antipathien der deutschen Liberalen für das Osmanische Reich, aber auch für Russland oder Großbritannien, die sich in der AZ widerspiegeln, von solcher gezielten Einflussnahme der Großmächte abhängig waren. Das Bild des Osmanischen Reichs blieb keineswegs durchgehend düster. Nach 1830 gewann die Idee viele Anhänger, es als Gegengewicht gegen Russland zu erhalten, und die Chancen der inneren Reformen wurden betont. Je stärker sich die Informationsquellen diversifizierten, desto vielstimmiger wurde die Diskussion in der AZ. Gleichzeitig schwand aufgrund der wachsenden Vielfalt der Informationen und Perspektiven die Möglichkeit, sie zu instrumentalisieren. Am Ende des Untersuchungszeitraums entwickelte die Zeitung sogar eine eigene süddeutsche Perspektive auf das Osmanische Reich, in der die wirtschaftlichen Interessen an der Donauschifffahrt eine wichtige Rolle spielten. Ob dies die Bezeichnung der Osmanen als „Wirtschaftspartner“ im Titel der Arbeit voll rechtfertigt, sei dahin gestellt.

Schwarz geht auch auf die technischen Voraussetzungen für diese starke Verbreiterung und Verbesserung der osmanischen Berichterstattung ein, deren Tempo wahrlich atemberaubend genannt werden muss. War der Informationsfluss zu Beginn noch streng an die Handelsrouten über den Balkan gebunden (und die Nähe zu Wien deshalb ein wichtiger Marktvorteil der AZ), so ermöglichten am Ende neue Infrastrukturen wie die regelmäßigen Dampfschifffahrtslinien nach Alexandria eine rasche Berichterstattung von dort. Die Schnelligkeit der Informationen war den Chefredakteuren im Wettlauf mit der Konkurrenz zuweilen wichtiger als deren Richtigkeit. Auf Grund des hohen Tempos ihrer osmanischen Berichterstattung wurde die AZ von anderen Zeitungen in ganz Europa zitiert. Sie trug auf diese Weise entscheidend zur Konstruktion eines medialen Bildes des Osmanischen Reiches in der Öffentlichkeit bei, aber auch zur Entfaltung dieser Öffentlichkeit an sich, die die Machtverhältnisse im Vormärz im Deutschen Bund in Frage stellte.

Die sorgfältige Erschließung der Quellen und die genaue Recherche des Materials sind die großen Stärken des vorliegenden Buches: Die Entdeckerfreude und manchmal geradezu kriminalistische Begeisterung für die Details merkt man ihm über weite Passagen an. Die Betrachtung der institutionellen Rahmenbedingungen der journalistischen Arbeit kommt darüber etwas kurz, mehr noch die methodische Reflexion. Eine entsprechende Vertiefung hätte die unstrittige Bedeutung der Arbeit für die Mediengeschichtsschreibung sowie für die Forschungen zur Orientrezeption in Europa noch erhöhen können.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch