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Titel
Entwicklung im Konflikt. Die EWG und der Senegal, 1957–1975


Autor(en)
Rempe, Martin
Reihe
Industrielle Welt – Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte 81
Erschienen
Köln 2012: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
375 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Reinfeldt, Historisches Seminar, Arbeitsbereich Europäische Geschichte, Universität Hamburg

Im Fokus der geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Europa und Afrika, zumal im Kontext der westeuropäischen Integration, standen bislang zumeist Vorstellungen eines Eurafrique sowie die Assoziierung der überseeischen Gebiete bzw. ehemaligen Kolonien in Afrika mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Hierbei wurden vor allem die politischen Entscheidungsprozesse untersucht, die zum Abschluss der Assoziierungsverträge von Yaoundé und Lomé führten. Die konkrete Zusammenarbeit zwischen den an der Entwicklungspolitik beteiligten europäischen und afrikanischen Akteuren und die Rückwirkungen dieser Zusammenarbeit auch auf die europäischen Akteure, politischen Prozesse und Strukturen fanden dabei weniger Beachtung.

In diese Lücke stößt Martin Rempe mit seiner Studie zur Entwicklungszusammenarbeit der EWG und ihrer Mitgliedstaaten mit dem Senegal von 1957 bis in die Mitte der 1970er-Jahre, die auf der Dissertation des Autors aus dem Jahr 2010 basiert. Rempes erklärtes Ziel ist es „eine transnationale Beziehungsgeschichte zu schreiben“, die „mehr sein [möchte] als die klassische Geschichte internationaler Beziehungen“ (S. 23). Rempe verortet seine Untersuchung „an der Schnittstelle zwischen europäischer Integrationsgeschichte, senegalesischer Zeitgeschichte und […] der Geschichte der Entwicklungszusammenarbeit“ (S. 24).

Rempe untersucht Konzeption, Umsetzung und Wandel der Entwicklungspolitik und Entwicklungszusammenarbeit der senegalesischen Regierung, der EWG-Kommission, der französischen und der bundesdeutschen Regierung sowie verschiedener nichtstaatlicher Akteure wie Forschungsinstitute, Unternehmen oder Entwicklungsgesellschaften. Konkret geht es ihm um die „Funktionsweisen, Praktiken und Folgen der entwicklungspolitischen Beziehungen zwischen der EWG und dem Senegal“ (S. 13) und um die Frage, „welche politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen die Zusammenarbeit im Senegal und, zumindest in politischer Hinsicht, auch in Europa hatten“ (S. 13). Auf europäischer Seite nimmt Rempe diesbezüglich das Verhältnis zwischen der EWG-Kommission und den Mitgliedstaaten sowie die Frage nach Ausmaß und Grenzen des französischen Einflusses auf die gemeinschaftliche Entwicklungspolitik im Senegal in den Blick.

Seinen Untersuchungszeitraum setzt Rempe von der Gründung der EWG bis in die Mitte der 1970er-Jahre an, die er als eine Zäsur infolge der Veränderungen durch die erste Erweiterung der Europäischen Gemeinschaften (EG), durch das Ende der development era in Afrika und durch die weltweiten ökonomischen Verwerfungen nach Ausbruch der Ölkrise 1973 betrachtet.

Für seine Analyse hat Rempe neben publizierten Quellen und Memoiren sowie zeitgenössischer und wissenschaftlicher Literatur zum einen senegalesische sowie französische und bundesdeutsche staatliche Archive konsultiert – namentlich die Archives Nationales du Sénégal, Dakar; die Archives du ministère des Affaires étrangères français, Paris; das Centre d’accueil et de recherche des Archives nationales, Paris; das Centre des Archives diplomatiques, Nantes und das Politische Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin. Zum anderen hat Rempe Bestände aus dem Archiv der Delegation der Europäischen Union im Senegal in Dakar und dem Historischen Archiv der Europäischen Union in Florenz zur Bearbeitung herangezogen. Der Zugang zu den senegalesischen Quellen erwies sich laut Rempe mitunter als schwierig und resultierte in einer teilweisen „asymmetrische[n] Quellenlage“ (S. 28). Den damit verbundenen Problemen ist sich Rempe vollauf bewusst. Dem Autor ist aber unbedingt zuzustimmen, wenn er hierzu pragmatisch bemerkt: „Mangels gangbarer Alternativen verspricht jedoch dieses Vorgehen bei behutsamer und reflektierter Anwendung allemal mehr Einsichten als eine Kapitulation vor der ungünstigen Quellenlage.“ (S. 28) Die Auswahl der Quellen ermöglicht es dem Autor jedenfalls, dem Ziel seiner Untersuchung gerecht zu werden, „die außenpolitische und die materielle, mithin innerstaatliche Dimension von Entwicklungspolitik integriert [zu] betrachten und dadurch zugleich eine Brücke zwischen europäischer und afrikanischer Geschichtsschreibung [zu] schlagen.“ (S. 12)

Bezogen auf die Entwicklungspolitik und Entwicklungszusammenarbeit der beteiligten Akteure im Senegal und in Europa unterscheidet Rempe zwischen vier Analysedimensionen: „den Handlungsspielräumen der verschiedenen Akteure in der Zusammenarbeit; der Herkunft, Bedeutung und Funktion von wissenschaftlichem Wissen; den Mentalitätslagen in der Zusammenarbeit; schließlich den Auswirkungen dieser Politik im Senegal und in Europa.“ (S. 16f.) Hierbei nimmt Rempe auch etwaige Europäisierungsprozesse in den Blick, die er als „Aneignung und Veränderung verschiedener Verwaltungspraktiken, Wissensbestände und Methoden auf europäischer Ebene einschließlich möglicher Rückwirkungsprozesse auf nationale Vorgehensweisen“ (S. 23) versteht.

Das Buch gliedert sich – neben Einleitung und Schluss sowie dem aus Abkürzungs-, Quellen- und Literaturverzeichnis sowie jeweils einem umfassenden Personen-, Orts- und Sachregister bestehenden Anhang – in drei inhaltliche Abschnitte, denen ein Prolog vorangestellt ist.

Im Prolog „Koloniale Entwicklungspolitik, Assoziierung und Dekolonisation“ verortet Rempe seine Fragestellung im Spannungsfeld der Tradition kolonialer Entwicklungspolitik, neueren Formen der Assoziierung und dem Prozess der Dekolonisation. Er arbeitet heraus, dass die gemeinschaftliche Entwicklungspolitik wie auch die EWG-Assoziierung der afrikanischen Staaten zunächst in der Tradition des Spätkolonialismus stand und weniger auf die Emanzipation der afrikanischen Staaten zielte. Die französische Regierung sah in der EWG-Assoziierungspolitik zunächst vor allem ein probates Mittel, wirtschaftliche bzw. finanzielle Belastungen, die sich aus der kolonialen Vergangenheit Frankreichs ergaben, mit den europäischen Partnern zu teilen, ohne ihren Einfluss auf die Entwicklungen in den afrikanischen Staaten zu verlieren. Die Vorstellungen der politischen Eliten in Afrika waren ihrerseits heterogen und zielten keineswegs immer auf die vollständige Unabhängigkeit von der Kolonialmacht, sondern umfassten zunächst auch „eine Transformation des Kolonialreiches in eine gleichberechtigte föderative Ordnung“ (S. 52). Das gilt auch und im Besonderen für den Senegal. So konstatiert Rempe: „Die seit Januar 1958 wirksame Assoziierung des Senegal an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft spielte für den konkreten Unabhängigkeitsprozess kaum eine Rolle – weder für Paris noch für Dakar.“ (S. 51) Innerhalb weniger Jahre jedoch dynamisierte die EWG-Assoziierung dann die europäisch-afrikanischen Beziehungen.

Im ersten Hauptabschnitt „Eurafrika, Emanzipation und Expertise: Die Grundlegung gemeinschaftlicher Entwicklungspolitik“, in dem Rempe die Entwicklung der Konzepte und Strategien gemeinschaftlicher Entwicklungspolitik im Senegal im Spannungsfeld von EWG-Kommission und den Mitgliedstaaten, vor allem Frankreichs untersucht, wird deutlich, dass die EWG-Kommission bzw. deren zuständige Generaldirektion VIII (DG VIII) alsbald zum eigenständigen entwicklungspolitischen Akteur avancierte und sich bewusst von französischen Positionen abgrenzte. Die DG VIII verfolgte im Grundsatz einen zunehmend wissensbasierten Entwicklungsansatz, „mit dem die Zusammenarbeit stärker entlang wissenschaftlicher Expertise und ökonomischer Effizienz und nicht mehr so sehr auf der Grundlage tradierter Klientelbeziehungen ausgerichtet wurde“ (S. 89).

Im zweiten Abschnitt „Entwicklung im Konflikt: Die Zusammenarbeit in den 1960er Jahren“ analysiert Rempe die Umsetzung und sukzessive Anpassung der entwicklungspolitischen Konzepte und Strategien seitens der beteiligten Akteure. Einen Schwerpunkt setzt Rempe dabei auf die für den Senegal ökonomisch bedeutsame Erdnusswirtschaft und die diesbezügliche Zusammenarbeit im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der EWG; ferner untersucht er exemplarisch Pläne zur landwirtschaftlichen Diversifizierung im Senegal, ein Projekt zum Ausbau der Wasserversorgung in Dakar, Maßnahmen zur Förderung der Industrialisierung sowie die Ausbildungsprogramme der EWG. Auch hier wird deutlich, dass die EWG-Kommission bzw. die DG VIII zu einem eigenständigen Akteur in der Entwicklungszusammenarbeit wurde, dem gegenüber die senegalesische Regierung zunehmend an Handlungsspielraum verlor. Rempe spricht hier von „asymmetrischen Machtbeziehungen“ (S. 243). Doch auch der französische Einfluss auf die ökonomische Entwicklung im Senegal wurde, wenn auch nicht ersetzt, so doch durch das Agieren der DG VIII zunehmend überlagert. Auch wenn die Konzeption und Planung der entwicklungspolitischen Maßnahmen in der DG VIII erkennbar wissensbasierten Kriterien folgte und Ausdruck der Bedeutung von Expertise für die gemeinschaftliche Entwicklungspolitik war, spielten insbesondere für die Umsetzung dieser Maßnahmen im Rahmen der gemeinschaftlichen Entwicklungszusammenarbeit persönliche Netzwerke und Klientelbeziehungen in den 1960er-Jahren nach wie vor eine Rolle. Interessant in diesem Kontext ist auch Rempes Befund, wonach die zunehmende Bedeutung von wissenschaftlicher Expertise nur bedingt Prozesse einer Europäisierung gemeinschaftlicher Entwicklungspolitiken ausgelöst habe.

Im dritten Abschnitt „Entwicklung in der Krise: Die 1970er Jahre“ widmet sich Rempe den Kontinuitäten und Veränderungen in den Beziehungen zwischen der EWG und dem Senegal infolge des zweiten Abkommens von Yaoundé seit dem Ende der 1960er-Jahre. Die teilweise Dezentralisierung der Entwicklungszusammenarbeit sowie die „verbesserten Koordinations- und Kommunikationsstrukturen“ (S. 311) zwischen der EWG und der senegalesischen Regierung vergrößerten deren Handlungsspielräume, „ohne dass es jedoch zu einer Partnerschaft auf Augenhöhe gekommen wäre“ (ebd.). Gleichzeitig verlor in dieser Phase die EG-Kommission an Gestaltungsmöglichkeiten in der Entwicklungszusammenarbeit mit dem Senegal, was sich etwa an der „Dominanz nationaler Interessen“ (S. 314), insbesondere durch Frankreich und die Bundesrepublik, bei der Planung und Errichtung der Dakarer Freihandelszone zeigte.

Insgesamt zeichnet Rempe ein nuanciertes Bild vom Beziehungsgefüge der entwicklungspolitischen Akteure, deren Einfluss auf die Konzeption und Umsetzung der Entwicklungszusammenarbeit keineswegs einer linearen Entwicklung unterlag. Ebenso arbeitet er heraus, dass kein Konsens über die entwicklungspolitische Strategie der gemeinschaftlichen Entwicklungszusammenarbeit oder gar ein weitergehender „globaler Konsens über die ‚richtige‘ entwicklungspolitische Strategie“ (S. 330) entstand. Rempe macht deutlich, „dass Entwicklungspolitik kein domaine réservé der Außenpolitik respektive der internationalen Diplomatie war, sondern ebenso maßgeblich von wissenschaftlichen Experten, Unternehmen sowie weiteren nichtstaatlichen Akteuren mitgestaltet wurde“ (S. 11). Damit lässt sich der Band im Kontext neuerer Forschungstrends in der Internationalen Geschichte verorten. Das gilt eben zum einen für die systematische konzeptuelle Öffnung der Analysen hin zu nicht-staatlichen Akteuren, insbesondere Experten, und deren Interaktion mit staatlichen und supranationalen Institutionen. Das gilt zum anderen für die Herauslösung der Geschichte der europäischen Integration aus einer institutionengeschichtlichen Binnenperspektive und die Öffnung der Analysegegenstände in Richtung einer umfassenderen Perspektive auf globale und außereuropäische Prozesse, auch im Kontext des Kalten Krieges. Rempe hat eine äußerst lesenswerte und reflektierte „Beziehungsgeschichte der Entwicklungszusammenarbeit“ (S. 30) zwischen der EWG, den EG-Mitgliedstaaten und dem Senegal vorgelegt.