N. Immig: Zwischen Partizipation und Emigration

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Titel
Zwischen Partizipation und Emigration. Muslime in Griechenland 1878–1897


Autor(en)
Immig, Nicole
Reihe
Balkanologische Veröffentlichungen 62
Erschienen
Wiesbaden 2016: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
459 S.
Preis
€ 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ioannis Zelepos, Ludwigs-Maximilians-Universität München

Diese Monographie liefert eine historische Untersuchung zur muslimischen Bevölkerung Thessaliens und Artas von der Angliederung dieser Gebiete an den griechischen Nationalstaat infolge des Berliner Kongresses von 1878 bis zum griechisch-osmanischen Krieg von 1897. Sie stützt sich auf ein breitgefächertes Quellenspektrum, das unveröffentlichte staatliche und diplomatische Archivakten, juristische und notarielle Dokumente sowie zeitgenössische lokale und überregionale griechische Presse umfasst, die eine umfangreiche, hinsichtlich der Fragestellung aber bislang nicht systematisch ausgewertete Materialquelle bietet.

Der Einleitungsteil enthält neben theoretisch-methodologischen Überlegungen und terminologischen Erläuterungen eine ausführliche Präsentation des bisherigen Forschungsstands. In einem Kapitel über die historischen Rahmenbedingungen wird daraufhin ein Überblick über die politischen Entwicklungen in Griechenland und Südosteuropa von 1876 bis 1897 gegeben, an den sich eine allgemeine Skizze zu Muslimen in Griechenland im 19. Jahrhundert anschließt, die auf den Aspekt der Staatsbürgerschaft fokussiert und Serbien und Bulgarien als Vergleichsfälle heranzieht. Die anschließende Darstellung der Angliederung der Gebiete an den griechischen Staat beginnt mit einer Rekonstruktion der in diesem Zeitraum (1878–1881) bestehenden demographischen und sozioökonomischen Verhältnisse, soweit dies anhand der fragmentarischen Quellenlage möglich ist. Unter Heranziehung griechischer Presse und europäischer Konsulatsberichte wird sodann das zeitgenössische öffentliche Echo auf die Angliederung untersucht und eine minutiöse Betrachtung des osmanisch-griechischen Herrschaftswechsels im Jahr 1881 vorgenommen, wobei neben den verwaltungstechnischen Aspekten auch den offiziellen symbolpolitischen Maßnahmen von griechischer Seite besondere Aufmerksamkeit gilt.

Die beiden folgenden Kapitel bilden den Kern der Studie. Zunächst geht es darin um die Präsenz thessalischer Muslime in Politik und Wirtschaft. Nach einer eingehenden Erörterung der Staatsbürgerschaftsfrage, des diesbezüglichen Optionsrechts und seiner verfassungsrechtlichen Implikationen, wird dabei die Teilnahme thessalischer Muslime an Wahlen, ihre Repräsentierung im griechischen Parlament sowie die Ausübung politischer Ämter und Funktionen durch Muslime auf Gemeindeebene bzw. im lokalen und regionalen Verwaltungsapparat untersucht, wo es oft zu personellen Kontinuitäten aus der osmanischen Zeit kam, die sich offenbar aus praktischen Gründen ergaben. Immig bündelt ihre Beobachtungen in der Feststellung, dass nach dem Herrschaftswechsel von 1881 Muslime auf allen Ebenen der Politik präsent waren und es keine Hinweise für eine Exklusionspolitik mittels restriktiver staatlicher Gesetzgebung gebe. Diese weise darauf hin, dass man im Gegenteil versuchte habe, „die Muslime von einem Verbleib im griechischen Königreich zu überzeugen“, was jedoch nicht ausgereicht habe, „um auch eine vollständige gesellschaftliche Inklusion der Muslime […] zu gewährleisten“ (S. 220). Dies erscheint angesichts der präsentierten Quellen plausibel, wenn auch offen bleiben muss, was unter „vollständiger Inklusion“ in die notorisch heterogene griechische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts konkret zu verstehen sein mag. Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass diese Befunde generalisierenden Verfolgungsnarrativen, die in der Forschung zu Muslimen in Südosteuropa im 19. Jahrhundert dominieren, widersprechen und zu einer differenzierteren Betrachtung Anlass geben.

Im Rahmen der Behandlung wirtschaftlicher Aspekte widmet sich die Arbeit sodann einer eingehenden Erörterung der komplizierten Eigentumsfragen, die sich nach dem Anschluss ergaben und durch die unterschiedlichen Definitionen von Besitz im osmanischen und im griechischen Recht verschärft wurden. Die Untersuchung liefert auch hier neue Erkenntnisse, indem sie zeigt, dass entgegen einer in der Literatur verbreiteten Annahme, wonach der Anschluss mit einem radikalen Wechsel der Grundbesitzverhältnisse insbesondere zugunsten finanzkräftiger Diaspora-Griechen einhergegangen sei, tatsächlich ein beachtlicher Teil in der Hand muslimischer Eigentümer verblieb, die noch 1906 mehr als 20% der thessalischen Çiftlik-Güter hielten. Ferner wird gezeigt, dass die wirtschaftlichen Aktivitäten thessalischer Muslime keineswegs auf die Landwirtschaft beschränkt waren, sondern sich neben dem vor allem von wohlhabenden Großgrundbesitzern weiterhin betriebenen Geldverleih auch auf Handel sowie auf ein breites Spektrum handwerklicher Berufe erstreckte.

Die nachfolgende Untersuchung der soziokulturellen Auswirkungen des Herrschaftswechsels auf muslimische Lebenswelten betrachtet die Stellung der muslimischen Glaubensgemeinden anhand des umstrittenen Autonomiestatus der Muftis, die als religiöse Repräsentanten auch weiterreichende Kompetenzen für sich beanspruchten, darunter etwa die Ausübung der Scharia-Gerichtsbarkeit. Die diesbezügliche Kontroverse wird unter Einbeziehung der Perspektive westeuropäischer diplomatischer Beobachter behandelt, jedoch hätte es sich hier vielleicht gelohnt, auch einen Blick auf die griechisch-orthodoxe Kirchenfrage zu werfen, die erst dreißig Jahre zuvor beigelegt worden war (1850/52) und deren Konfliktlage manche Affinitäten aufwies. Ein weiterer Abschnitt ist dem muslimischen Bildungswesen gewidmet, wobei neben Schulen auch Bildungscurricula, Lehrpersonal etc. untersucht und mit ihren christlichen Pendants verglichen werden. Es folgen Betrachtungen zur gesellschaftlichen Partizipation von Muslimen anhand verschiedener Fallbeispiele aus der staatlichen und privaten Alltagspraxis, deren Auswahl das Bemühen erkennen lässt, ein möglichst differenziertes und ausgeglichenes Gesamtbild zu erstellen. Immig kommt dabei zu dem Schluss, dass einerseits „die öffentlich immer wieder propagierte gesellschaftliche Einbindung der Muslime nicht nur leere Versprechung […] der Staatsführung“ war, dass jedoch andererseits „gegenüber den Muslimen ein grundsätzliches Misstrauen existierte“ (S. 299f.). Dieses heterogene, ja sogar widersprüchliche Bild findet auch in den nachfolgenden Betrachtungen zu den kulturellen Aspekten eine Fortsetzung, wo unter anderem gezeigt wird, dass in der griechischen Presse damals ganze Artikelserien erschienen, die der Wissensvermittlung über den Islam und seine Bräuche bei christlichen Leserschaften dienten, dass in eben dieser Presse aber gleichzeitig auch klassische Negativstereotype über islamischen Fanatismus etc. transportiert wurden. Der Umgang mit osmanischen Architekturdenkmälern im Rahmen staatlicher Stadtplanung erfährt ebenfalls eine detaillierte Betrachtung und wird dahingehend bewertet, dass die Umstrukturierung der thessalischen Städte unter Übernahme europäischer Modernitätskonzepte zwar allgemeiner Konsens war, eine „forcierte städtebauliche Deosmanisierungspolitik, [die] versuchte, osmanisch-muslimisches Kulturgut zu zerstören“ für den Untersuchungszeitraum jedoch nicht belegbar ist (S. 356).

Den Abschluss der Arbeit bildet eine ausführliche Untersuchung der Emigration von Muslimen aus Thessalien und Arta nach 1881, wobei neben der Ermittlung von Umfang, Formen, Wegen, Zielorten und Zeiträumen der Migration auch der diesbezüglichen Politik Griechenlands und des Osmanischen Reiches sowie den Abwanderungsmotiven der Betroffenen nachgegangen wird. Auch hier kommt die Arbeit zu einem differenzierten Bild, das generalisierenden Darstellungen widerspricht. Dazu gehört der Umstand, dass besonders in den ersten Jahren nach dem Herrschaftswechsel Emigration und Remigration einander oft abwechselten, wobei letztere von osmanischer Seite behindert, vom griechischen Staat aber aktiv gefördert wurde. Athen finanzierte Rückkehrwilligen nach Griechenland sogar die Reisekosten. Griechenland und das Osmanische Reich konkurrierten damals regelrecht um die thessalischen Muslime, was auf griechischer Seite teils wirtschaftliche Gründe hatte, abgesehen davon aber auch durch das Bestreben motiviert gewesen sein dürfte, den der Nationalideologie inhärenten Zivilisationsanspruch zu demonstrieren und sich nicht zuletzt wohl auch vor den europäischen Großmächten mit einer vorbildlichen Minderheitenpolitik für zukünftige Gebietserwerbungen in der Region zu qualifizieren. Das Ende einer „greifbaren muslimischen Präsenz in Arta und Thessalien“ (S. 399) wird auf den griechisch-osmanischen Krieg von 1897 und dessen Folgen datiert, was jedoch, da anhand der Quellenlage nicht ermittelt werden konnte, wie stark die muslimische Präsenz vor Kriegsbeginn noch war, eine zwar plausibel klingende, letztlich aber unbelegte Hypothese bleibt. Zu bemängeln sind einige kleinere inhaltliche und terminologische Ungenauigkeiten im historischen Einleitungskapitel sowie ein zuweilen etwas unkritischer Umgang mit dem Objektivitätsanspruch ethnischer Identitätskonzepte, obwohl im Theorieteil eigentlich eine hinreichende Sensibilisierung für deren Problematik signalisiert wurde. Zudem hätte ein gründliches Sprachlektorat dem Text sicherlich gutgetan.

Diese Kritikpunkte schmälern die Verdienste der Arbeit aber nur unwesentlich. Nicole Immig hat mit ihr eine akribische Grundlagenuntersuchung vorgelegt, die den Kenntnisstand zur Geschichte der Muslime Thessaliens im 19. Jahrhundert substantiell voranbringt, jedoch weit über den Rahmen einer bloßen Regionalstudie hinausreicht, da sie etablierte Forschungsmeinungen zur Minderheitenpolitik der christlichen Balkanstaaten in dieser Periode relativiert und dabei Einsichten in Mechanismen und Probleme gesellschaftlicher Integrationsprozesse eröffnet, die in vieler Hinsicht überraschend aktuelle Bezüge aufweisen.

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