E. Hartmann: Ordnung in Unordnung

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Titel
Ordnung in Unordnung. Kommunikation, Konsum und Konkurrenz in der stadtrömischen Gesellschaft der frühen Kaiserzeit


Autor(en)
Hartmann, Elke
Reihe
Alte Geschichte
Erschienen
Stuttgart 2016: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
255 S.
Preis
€ 52,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Isabelle Künzer, Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Für die römische Gesellschaft ist ein ausgeprägtes Leistungsdenken und das besondere Bewusstsein für die Wahrnehmung sozialer Hierarchien kennzeichnend. Rang- und Statusfragen sowie damit unmittelbar zusammenhängende Probleme der gesellschaftlichen Differenzierung hatten eine immense Bedeutung.1 Mit dem Beginn der römischen Kaiserzeit kamen im Bereich soziopolitischer Hierarchien massive Neuordnungsprozesse in Gang. Infolgedessen entstanden nicht nur Schwierigkeiten bei der Differenzierung generell, sondern es war zudem erforderlich, nach neuen oder veränderten Kriterien zur sozialen Stratifikation zu suchen, nicht zuletzt um für individuelles Agieren wieder Handlungssicherheit zu schaffen. Solche modifizierten Merkmale zur Hierarchisierung hatten ihrerseits aber sowohl erhebliche Auswirkungen auf das Verhältnis des Individuums zu Staat und Gesellschaft als auch auf die Beziehung des staatlich-politischen Systems zu einzelnen Individuen. Dabei waren Anpassungsreaktionen unterschiedlicher Beteiligter vonnöten. Nicht zuletzt die Urheber und Veränderungspotentiale gesellschaftlicher Praktiken sowie deren Bewertung durch andere Zeitgenossen sind daher in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse.

Diesem insgesamt vielfältigen Themenkomplex widmet Elke Hartmann ihre neue Monographie, in der sie nach dem „Spannungsverhältnis zwischen individuellen / kollektiven Handlungs- bzw. Orientierungsmustern und sozialen Strukturmustern“ (S. 14) fragt. Sie behandelt diese Thematik in erster Linie auf der Grundlage der Epigramme Martials und der Satiren Juvenals in Form von sieben exemplarischen Fallstudien, die verdeutlichen sollen, inwiefern bekannte und neue Distinktionsmerkmale Differenzierungspotentiale erschlossen oder aber die bestehende Ordnung womöglich destabilisierten. Aus dieser notwendigen Unterscheidung ergeben sich für Hartmann zwei Analyseebenen. Zum einen betrachtet sie die Selbstwahrnehmung der historischen Akteure, zum anderen setzt sie diese in Bezug zum sozialgeschichtlichen Kontext, um letztlich den Versuch zu unternehmen, sozialen Wandel zu erklären. Auf diese Weise verbindet Hartmann Struktur- und Kulturgeschichte mit der phänomenologischen Untersuchung individueller Praktiken.

Hartmanns erste Fallstudie wendet sich der Genese gesellschaftlicher Hierarchien im Theater zu. Sie behandelt hier Belege für die widerrechtliche Einnahme eines privilegierten Sitzplatzes durch bestimmte Personen. Recht schlüssig erklärt Hartmann dies mit dem Selbstverständnis der Akteure, das sich aus ihrer Position oder Potenz in einem anderen Gesellschaftsbereich und der dort etablierten Partikularhierarchie speiste und sie mithin dazu berechtigte, sich zu einer sozial privilegierten Gruppierung zu zählen. Hier ist beispielsweise an Freigelassene zu denken, die unter Umständen zu einem Vermögen gelangt waren, das weit über dem Mindestzensus für den Ritterstand lag, oder an Freigelassene, die ihre Statuserhöhung dem Kaiser verdankten, jedoch nicht über das römische Bürgerrecht verfügten. Im Theater seien somit unterschiedliche Ansichten und Kriterien zur Herstellung einer sozialen Ordnung aufeinandergetroffen. Gleichzeitig habe sich in diesem Bereich ebenso die Langlebigkeit wie auch die Innovationskraft von Mustern der gesellschaftlichen Hierarchisierung dokumentiert, die zuweilen als unvereinbar erscheinen mussten.

Ihr zweites Fallbeispiel widmet Hartmann der Performanz und Inszenierung von Hierarchien durch Küsse, die als demonstrativer Gestus besonders im öffentlichen Raum ein Vertrauensverhältnis dokumentierten. Unter diesen Bedingungen habe daher der Verzicht auf einen Kuss als ein Verhaltensmuster eine besondere Qualität zum Ausdruck eines hierarchischen Gefälles und der Distanz entfaltet. Ferner thematisiert Hartmann Beispiele, in denen mittels Schmeichelei gezielt Küsse seitens bestimmter Persönlichkeiten angestrebt wurden, um vor der Öffentlichkeit zeigen zu können, dass man sich in einem Nahverhältnis zu einem bestimmten bedeutenden Zeitgenossen befand.

Die dritte Fallstudie präsentiert sich als geringfügige Erweiterung eines von der Verfasserin bereits 2009 publizierten Aufsatzes zum Wandel der Klientenrolle im Laufe der römischen Kaiserzeit.2 Hartmann behandelt verschiedene Ebenen des Klientendienstes sowie die von den Patronen ausgehenden beneficia. Sie konstatiert eine sich verschärfende Konkurrenz in der Klientel mächtiger Patrone, da zusehends auch Elitenangehörige beabsichtigten, in eine Patronatsbeziehung zu derartigen Zeitgenossen einzutreten. Oberschichtsmitglieder seien zuweilen sogar zur Selbsterniedrigung bereit gewesen, wenn sie sich von solchen Patronen eine Förderung der eigenen Karriere oder materielle Vorteile erhofften. Infolge dieser strukturellen Veränderung der Klientel, die Hartmann treffend als „Klientelisierung der Elite“ (S. 100) bezeichnet, wurden ärmere Klienten mehr und mehr verdrängt, weil diese für Patrone eine wesentlich geringere Attraktivität besaßen. Dies hatte zudem zur Folge, dass Leistungen durch die Patrone immer seltener eine sozial integrierende Funktion ausübten, sondern bewusst Statusdifferenzen visualisierten.

Ebenfalls überzeugen kann Hartmanns Fallstudie zur Erbfängerei. Sie versteht es, die Versuche solcher in der Regel als moralisch depraviert geltender Personen signifikant herauszuarbeiten, die Erbschleicherei als Weg zu nutzen, eine gesellschaftliche Integration zu erreichen. Es seien nämlich immer mehr geschäftige Außenstehende gewesen, die durch den Aufbau eines Nahverhältnisses zu einem potentiellen Erblasser, für das es auch Gegenleistungen zu erbringen galt, einen gesellschaftlichen Aufstieg zu realisieren suchten. Von Angehörigen der traditionellen Eliten wurden solche Personen scharf kritisiert, was auch in der pauschal negativen literarischen Stilisierung von Erbfängern als raffgierigen Zeitgenossen seinen Niederschlag fand und darauf zurückzuführen gewesen sei, dass die Oberschichtsmitglieder eine Bedrohung ihrer innerelitären Netzwerke befürchteten.

Dem demonstrativen Konsum3 als gesellschaftlicher Integrationsstrategie bei römischen Freigelassenen gilt ein weiteres Kapitel der Untersuchung. Hartmann differenziert zwischen verschiedenen Dimensionen des Konsums und kann zeigen, dass Reichtum geradezu notwendig durch ostentative Gesten des Konsums und des euergetischen Engagements demonstriert werden musste, um so das eigene Sozialprestige allgemein sichtbar zu präsentieren und für die eigene Person eine entsprechende Position in der Gesellschaft zu reklamieren, die aus Sicht der traditionellen Eliten allerdings in deutlichem Widerspruch zum Status als Freigelassenem stand und daher als Störung der herkömmlichen Ordnung empfunden wurde. Gleichzeitig seien die Kreise der Oberschicht unter solchen Umständen umso mehr gezwungen gewesen, Reichtum und eigene Freigebigkeit zur Schau zu stellen, wobei die alten Eliten mitunter kaum in der Lage gewesen seien, die hierzu nötigen finanziellen Mittel aufzubringen.

In der vorletzten Fallstudie konzentriert sich Hartmann auf Thermenanlagen, die in der Forschung als Orte betrachtet wurden, die soziale Unterschiede nivelliert und stattdessen einen Ausgleich von Statusdiskrepanzen betrieben hätten.4 Wohl zu Recht bezieht Hartmann gegenüber einer solchen Position Distanz. Sie zeigt zum einen Beispiele für die bewusste Inszenierung von Statuskennzeichen und Reichtum in diesem Bereich auf und sieht zum anderen in den Badegästen nur ein bestimmtes Segment der Gesellschaft, aber eben in der Regel nicht die besonders Wohlhabenden und Angehörigen der Oberschicht, repräsentiert, welche deutliche moralische Vorbehalte gegenüber der dort üblichen Inszenierung des eigenen Körpers hatten und daher die großen Bäderkomplexe mieden. Auf diese Weise entwickelten sich die Thermenanlagen zu Repräsentationsräumen für ganz bestimmte Personenkreise.

Zuletzt thematisiert Hartmann Denunziationen in zwei unterschiedlichen Bereichen: im Zusammenhang mit Verstößen gegen die Ehegesetzgebung und am Beispiel von Majestätsverbrechen. Hartmann macht für diese Felder jeweils verschiedene Initiatoren aus. Innerhalb der Senatsaristokratie seien Verstöße gegen die Ehegesetze so häufig gewesen, dass aus diesen Kreisen kaum Anzeigen gegen Standeskollegen hervorgegangen seien, zumal sich die betreffenden Gesetze in den Augen der Senatoren gegen das ihnen gebührende Recht auf einen selbstbestimmten Lebensstil gerichtet hätten. Es waren also vornehmlich Personen niederen Ranges, auf die Verfahren in diesem Bereich meist zurückzuführen waren. Anders sah es im Vergleich dazu bei Majestätsverbrechen aus. Im Zusammenhang mit dem senatorischen Konkurrenzaustrag seien diesbezügliche Vorwürfe gegenüber Mitsenatoren immer wieder funktionalisiert worden, um Kontrahenten zu eliminieren oder um sich selbst in der senatorischen Binnenhierarchie oder in der Nähe des Kaisers vorteilhaft zu positionieren.5

Hartmann geht für ihre Untersuchung in der Regel vom bestehenden Forschungsstand zu einem bestimmten Problem aus und erarbeitet daran gezielt offene Fragen oder Widersprüche. Ihre Lösungsvorschläge erweitern und ergänzen dabei die Forschung um wichtige und vor allem überzeugende Ein- und Ansichten; zuweilen gelingt es ihr auch, den Forschungsstand deutlich zurechtzurücken. Die Verfasserin bündelt ihre Ergebnisse am Ende eines jeden Kapitels und nochmals zum Abschluss ihrer Studie, indem sie diese in unterschiedliche Kategorien und Kontexte einordnet. Auf diese Weise ist gewährleistet, dass die einzelnen Fallstudien keinesfalls isoliert stehen, sondern eng miteinander verzahnt sind und dadurch facettenreich die untersuchte Problematik zu den Mechanismen gesellschaftlicher Interaktion und Hierarchisierung beleuchten.

Anmerkungen:
1 Die in der Forschung bekannten Modelle zur römischen Gesellschaftsordnung behandelt im Wesentlichen Aloys Winterling. Er verdeutlicht auch, dass diese Konzeptionen letztlich Aporien produzieren und nicht in der Lage sind, Fragen der Gleichheit bei gleichzeitig bestehenden Ungleichheiten sowie Probleme der Ungleichheit bei zugleich vorhandenen Aspekten der Gleichheit in eine gesellschaftliche Hierarchiebildung umzusetzen; vgl. Aloys Winterling, ‚Staat‘, ‚Gesellschaft‘ und politische Integration in der römischen Kaiserzeit, in: Klio 83, 2001, S. 93–112, besonders S. 99–112. Ferner ist festzustellen, dass die Schwächen der entsprechenden Strukturmodelle im Bereich der gesellschaftlichen Binnendifferenzierung liegen, beispielsweise der Senatorenschaft. Für dieses Problem bietet bislang kein Modell der römischen Sozialordnung eine Lösung.
2 Vgl. Elke Hartmann, „Euer Purpur hat unsere Togen aus dem Dienst entlassen“. Zum Wandel des städtischen Klientelwesens im Rom der frühen Kaiserzeit, in: Millennium 6, 2009, S. 1–37; zur Statusproblematik im Zusammenhang mit dem römischen Bindungswesen in der Prinzipatszeit vgl. jetzt auch: Angela Ganter, Was die römische Welt zusammenhält. Patron-Klient-Verhältnisse zwischen Cicero und Cyprian, Berlin 2015 (Klio-Beihefte, N. F. 26), S. 203–250.
3 Vgl. Thorstein Veblen, Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen, aus dem Amerikanischen von Suzanne Heintz und Peter von Haselberg, 2. Aufl. des ND der Ausgabe von 1899, Frankfurt am Main 2011, S. 84f.
4 So die bei Stephen L. Dyson:,Community and Society in Roman Italy, Baltimore 1992, S. 174, und von Fikret Yegül, Bathing in the Roman World, Cambridge, Mass. 2010, S. 34–39, vertretene Meinung.
5 Vgl. dazu auch Isabelle Künzer, Kulturen der Konkurrenz. Untersuchungen zu einem senatorischen Interaktionsmodus an der Wende vom ersten zum zweiten Jahrhundert n. Chr., Bonn 2016 (Antiquitas I 68), S. 262, 290; ferner Egon Flaig, Den Kaiser herausfordern. Die Usurpation im Römischen Reich, Frankfurt am Main 1992 (Historische Studien 7), S. 114–116. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Überlegungen bei Künzer, S. 254–269, zur Funktionalisierung der Redekunst für die senatorische Konkurrenzpraxis.