D. A. Bell: Shadows of a Revolution

Cover
Titel
Shadows of Revolution. Reflections on France, Past and Present


Autor(en)
Bell, David A.
Erschienen
Anzahl Seiten
456 S.
Preis
€ 28,67
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Middell, Global and European Studies Institute, Universität Leipzig

Der Autor dieses Essaybandes ist „Amerikas führender Historiker zur französischen Revolution“, so sein akademischer Lehrer, Patrice Higonnet, und außerdem „weiß möglicherweise niemand auf diesem Planeten mehr über die Geschichte Frankreichs als David Bell“, wie Paul Friedland auf dem Rücken des Umschlages urteilt. Nun ist solcherart Anpreisung üblich geworden, auch wenn man aus sehr guten Gründen bezweifeln kann, dass dieser Band sich ohne solche Marktschreierei nicht auch verkaufen würde. Bell ist nach Stationen in Yale und Johns Hopkins nun Professor in Princeton und hat zahlreiche hochgelehrte Abhandlungen zur französischen Geschichte veröffentlicht, darunter eine Analyse der Advokaten des Ancien Régime1, eine Studie zum Verhältnis von Nationalismus und Christentum im Frankreich des späten 18. Jahrhundert2 und eine Militärgeschichte des Wandels von aristokratischer Kriegführung zur Entgrenzung des Krieges in Richtung eines „totalen Krieg“ 1792–1815, für die er den Louis Gottschalk Preis gewann.3 Hinzu kommt eine Napoleon-Biografie.4 Doch neben dieser für einen professionellen Historiker dieses Kalibers durchaus normalen Bibliographie, ist Bell einer der engagiertesten Publizisten seines Faches und war insgesamt elf Jahre lang Beiträger und Editor der Zeitschrift The New Republic. Daneben hat er u.a. für die London Review of Books, The Nation, die New York Times Sunday Book Review, das New York Times Magazine, die New York Review of Books, den Guardian, The National Interest, Foreign Policy und das Dissent Magazine geschrieben.

Der vorliegende Band vereinigt 42 Stücke aus dieser Publizistik, die zwischen 1988 und 2015 veröffentlicht wurden – eine jetzt zugänglich gemachte Rezension blieb bislang ungedruckt und einige Stücke sind online verbreitet worden. Statt einer Ordnung in der Reihenfolge der Veröffentlichungen hat sich der Verfasser für eine thematische-chronologische Gliederung entschieden. Die ersten vier Stücke lassen sich einer allgemeinen Auseinandersetzung mit der französischen Geschichte zuordnen, darauf folgt der Hauptteil des Bandes mit je sieben Beiträgen zum Ancien Régime und zur Revolutionsperiode, sechs zum napoleonischen Empire, während zwei weitere Abschnitte dem 19. Jahrhundert und der Vichy-Episode gewidmet sind und im letzten Teil nach den möglichen Bezügen zwischen Gegenwart und französischer Geschichte gefragt wird. Faktisch handelt es sich bei der Mehrzahl der Artikel um Buchbesprechungen, die allerdings insofern über das akademische Interesse an der Einschätzung von Kollegenleistung hinausreichen, als Bell einen spezifischen Rezensionsstil pflegt: Bevor er sich mit dem Buch genauer auseinandersetzt, entwickelt er sein eigenes Konzept von der Sache, die zur Verhandlung ansteht und misst anschließend das Besprechungsexemplar an diesem Maßstab. Was man als eine faire Offenlegung der eigenen Kriterien lesen kann, mag bei anderen eine gewisse Unzufriedenheit hinsichtlich der Informationen hinterlassen, die man bezüglich des Buches, das zu rezensieren war, erhält. Ein trockenes Referat des bereits Publizierten ist jedenfalls des Verfassers Sache nicht – dies lädt zu einem Vergleich der Rezensionsstile hierzulande und in englischsprachigen Zeitschriften ein. Um es ins Extrem zu überzeichnen: Pedantische Wiedergabe des Inhalts vs. essayistisches Umspielen eines gemeinsamen Gegenstandes. Wie der vorliegende Band belegt, sichert die letztere Methode jedenfalls das Überleben eines so manchen Essays sogar über den Tag hinaus, an dem das eigentlich besprochene Buch längst seine Bedeutung in der Historiographieentwicklung eingebüßt haben mag.

Dies meint nun in keiner Weise, dass Bells Rezensionen nicht auch die Hochkaräter des Faches betreffen. Der Einzugsbereich dieser Prominenz hat allerdings einen klaren Schwerpunkt im angelsächsischen Raum: neben einigen wenigen französischen Autoren wie Jean Guéhenno, Maurice Lever, Antoine Lilti und den Italienern Benedetta Craveri sowie Umberto Eco dominieren Bells Kollegen in den USA, England und Australien darunter L.W.B. Brockliss, Frederick Brown, Carmen Callil, Leo Damrosch, Robert Gildea, Ruth Harris, Carla Hesse, Olwen Hufton, Lynn Hunt, Colin Jones, Alice Kaplan, Peter McPhee, Roger Pearson, Graham Robb, Sophia Rosenfeld, Philip Short, Jacob Soll und Richard Vinen.

Den Auftakt bildet allerdings eine Besprechung der englischen (Auswahl-)Übersetzung von Pierre Noras „Lieux de Mémoire“, wobei die zentrale These Bells ist, dass das vielgerühmte, in den USA aber lange übersehene Werk vor allem für den Niedergang Frankreichs stehe, der mit der Erinnerung an eine glorreiche Vergangenheit kompensiert wird. Entsprechend habe der Gedanke (oder die Wirklichkeit?) dieses Niedergangs einerseits eine kraftvolle Geschichtsschreibung des Erinnerns inspiriert, die inzwischen an vielen anderen Orten ausprobiert worden ist, aber andererseits das vordem so starke Interesse an den Produkten französischer Philosophie und Historiographie z.B. in den USA schrumpfen lassen.

Blättert man ans andere Ende des Bandes, findet sich dort die jüngste Auseinandersetzung Bells mit der Bedeutung französischer Geschichte, diesmal veranlasst durch politischen Reaktionen auf die Terroranschläge vom Januar 2015. Sehr energisch wendet er sich dagegen, es bedürfe intensiver Lehren aus der französischen Geschichte, um die Gefahr des Terrorismus zu bannen. Gegen die Idee, eine bessere Sozial- und Bildungspolitik für die Einwanderer in den Banlieues werde es richten, wendet Bell ein, dass diese zwar sicherlich notwendig sei, aber gegen die terroristische Bedrohung kaum helfe, denn diese existiere in anderen Ländern auch, obwohl es dort keine solch eklatanten Folgen der Kolonialzeit zu bewältigen gäbe. Frankreich, so sein Rat, solle sich weniger obsessiv allein mit seiner nationalen Geschichte, sondern mit den zunehmenden globalen Verflechtungen beschäftigen.

An anderer Stelle hatte David Bell allerdings durchaus erhebliche Skepsis gegenüber zu viel global turn zum Ausdruck gebracht, als er gegen neue Tendenzen in der Geschichtsschreibung zur französischen Revolution polemisierte und darauf bestand, dass bei aller vergessenen Bedeutung Haitis die französische Revolution eben doch in Frankreich entschieden wurde und die dort hervorgebrachten neuen politischen Formen eben zuerst in Paris und der französischen Provinz ausprobiert wurden.5 Man möchte dem Argument gleichermaßen zustimmen wie widersprechen, denn selbstverständlich ist es richtig, dass die Gesetzgebung sukzessive Sache der Konstituante, der Legislative und des Konvents waren, und die versammelten sich ab Herbst 1789 in Paris. Aber unleugbar hatte das Problem der Menschenrechte und der postulierten Gleichheit aller Menschen eben auch eine seiner wichtigsten Dimensionen in der Sklavenfrage. Natürlich weiß David Bell das alles. Es scheint aber so, als lade die Form des knappen Essays, wenn er sich in Form einer Rezension an einer starken Gegenthese abarbeitet, zur Übertreibung in die andere Richtung ein.

Dies paart sich im Falle von David Bell mit einem unleugbaren polemischen Talent, das seine stimulierende Wirkung an verschiedenen Stellen des Bandes offeriert. Insbesondere Jonathan Israel, der sich nach einer Geschichte der Aufklärung an einer intellectual history der Revolution mit allzu einseitiger Sympathie für die Brissotins versucht hat6, wird zum Ziel gleich zweier scharfer Verrisse, die hier wieder abgedruckt sind und zum Nachvollzug auch der Erwiderungen von Israel einladen. Verschwörungstheorien, das macht der Rezensent sehr deutlich, sind Bells Sache nicht und er lässt immer wieder seine Sympathien für die empirische gesättigte Kulturgeschichte in der Folge Robert Darntons anklingen, die zuerst einmal zählt, wieviele Menschen lesen konnten, was sie hauptsächlich lasen, was den Zufälligkeiten ihres Alltags Struktur gab. Hier vermutet Bell ein Potential für Antworten auf das Warum historischer Entwicklung. Es ist ein wahres Lesevergnügen, der geschliffenen Prosa Bells zu folgen, wenn er Unzulänglichkeiten in den Arbeiten seiner Kollegen aufspürt und zugleich seine eigenen geschichtstheoretischen Positionen markiert.

Im letzten Teil ändert sich dies insofern, als er nun nicht aktuelle Veröffentlichungen, sondern das aktuelle Weltgeschehen kommentiert. Französische Revolutionsgeschichte dient ihm als Vergleichsfolie für die Perestrojka der späten 1980er-Jahre ebenso wie für die Arabellion 2010. Nicht ohne Schadenfreude verweist Bell darauf, dass ihn der Vergleich mit der vorrevolutionären Krise in Frankreich zu einer präziseren Voraussage des Gorbatschowschen Scheiterns geführt hat als große Teile der amerikanischen Soviet Studies. Ähnlichen Anlass zu Weitsicht bot ihm der Vergleich mit der revolutionären Militärgeschichte: wer sich auf einen Kampf bis zur völligen Vernichtung seines Gegners einlässt, riskiert die herbeigeredete Apokalypse tatsächlich – dies nicht nur das Credo eines Artikels von 2005 über die französische Assimilationspolitik, sondern ebenso eines zehn Jahre später, das heißt nach den Attacken auf das Charlie Hebdo-Büro, geschriebenen Stückes, in dem vor der Falle eines „Krieges gegen den Terror“ gewarnt wird. Weniger überzeugend erscheint mir dagegen der Versuch, Ägyptens Revolution an den Ereignissen 220 Jahre zuvor in Frankreich zu messen. Hier bleibt der Verfasser zu einseitig auf eine Variante der Revolution fixiert. Erfüllt sich die Erwartung einer eindeutigen Entsprechung nicht, taugt gleich der Revolutionsbegriff als solcher nicht mehr.7 Bei aller Hochachtung vor Condorcet und Danton: die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts hält einen breiteren Erfahrungsschatz an Revolutionsverläufen bereit, als immer nur das Modell von 1789 und 1793 zu wiederholen.

Anmerkungen:
1 David A. Bell, Lawyers and Citizens. The making of a political elite in Old Regime France, New York 1994.
2 Ders., The Cult of the Nation in France. Inventing nationalism, 1680–1800, Cambridge, Mass. 2001.
3 Ders., The First Total War. Napoleon's Europe and the birth of warfare as we know it, Boston 2007.
4 Ders., Napoleon. A concise biography, Oxford 2015.
5 Ders., Questioning the Global Turn. The Case of the French Revolution, in: French Historical Studies 37 (2014) 1, S. 1–24.
6 Jonathan Israel, Revolutionary Ideas. An Intellectual History of the French Revolution from the Rights of Man to Robespierre, Princeton 2014.
7 Siehe dazu auch sein nach Veröffentlichung dieses Bandes erschienenes Interview: Booked: Is It Time to Retire the Term “Revolution”? Interview with Timothy Shenk, in: Dissent (2016), 7. April. <https://www.dissentmagazine.org/blog/booked-is-it-time-to-retire-the-term-revolution-david-bell> (27.10.2017).

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