Cover
Titel
Soziale Bewegungen. Entstehung und Stabilisierung am Beispiel der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR


Autor(en)
Leistner, Alexander
Erschienen
Konstanz 2016: UVK Verlag
Anzahl Seiten
412 S.
Preis
54,00 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Richard Rohrmoser, Historisches Institut, Universität Mannheim

„Schwerter zu Pflugscharen“ – dieses dem Propheten Micha aus der Bibel entlehnte Teilzitat machte die Friedensbewegung der DDR zu Beginn der 1980er-Jahre zu ihrem Leitspruch.1 Zwar gingen dort – anders als in der Bundesrepublik – nicht Hunderttausende Menschen auf die Straßen, um gegen die Umsetzung des „NATO-Doppelbeschlusses“ zu demonstrieren, allerdings formierte sich auch im SED-Staat eine unabhängige Friedens- und Bürger(rechts)bewegung, die sowohl die Stationierung der sowjetischen SS-20-Mittelstreckenraketen als auch die offizielle „Friedenspolitik“ der DDR stark kritisierte.2 Mit seiner 2014 an der Fakultät für Sozialwissenschaften und Philosophie der Universität Leipzig eingereichten und 2016 veröffentlichten Dissertationsschrift verfasst Alexander Leistner eine scharfsinnige historische Fallstudie zur Entstehung und Entwicklung der staatsunabhängigen DDR-Friedensbewegung. „Als familienbiographisch in die Geschichte dieser Bewegung verstrickter Forscher“ versucht er wissenschaftlich aufzuarbeiten, „was Menschen über Jahrzehnte dazu motivierte, einigermaßen aussichtslos den (kriegs)gesellschaftlichen Verhältnissen die Stirn zu bieten“ (S. 11). Er liefert dabei mit scholastischer Hingabe ein soziologisch-zeitgeschichtliches Werk, das durch einen hohen Grad an Eigenständigkeit besticht und somit eine Leerstelle in der Bewegungsforschung schließt.

Leistner konzentriert sich zunächst auf die mit hohen persönlichen Risiken verbundene Genese sozialer Bewegungen in der DDR in den 1970er-Jahren, entwickelt differenzierte Erklärungsansätze für die Stabilität und Langlebigkeit des Engagements in den 1980er-Jahren und resümiert mit einer Beschreibung der Konservierung und Fortexistenz diverser Zerfallsprodukte der ostdeutschen Friedensbewegung nach 1989. Sowohl auf Mikro- als auch auf Makro-Ebene bleibt die aufgeworfene Forschungsfrage relevant, wie sich die Bildung einer sozialen Bewegung „unter den Bedingungen eines repressiven politischen Systems“ wie der DDR gestaltete, wo „die politischen Gelegenheitsstrukturen alles andere als günstig, sondern im Gegenteil vor allem furchteinflößend und wenig Erfolg versprechend waren?“ (S. 34) Leistners Beitrag zu diesem Forschungsdesiderat liegt im Wesentlichen in seinem biographietheoretischen Ansatz3, in dem er die Werdegänge zentraler Aktivisten der staatsunabhängigen Friedens- und Bürger(rechts)bewegung untersucht und die gewonnenen Erkenntnisse als analytisches Instrumentarium verwendet, um dadurch die Entstehung, Stabilisierung und eventuelle Transformation sozialer Bewegungen zu erklären. Zwischen 2003 und 2010 führte er deshalb selbst 20 narrativ-biographische Interviews mit Akteuren der unabhängigen DDR-Friedensbewegung durch und ergänzte diesen Fundus durch die Sekundäranalyse von zehn zusätzlichen Zeitzeugeninterviews.

Mit Hilfe der qualitativen Analyse der anonymisierten Zeitzeugeninterviews stellt Leistner sodann eine Kernthese des Buches auf, wonach insbesondere die biographischen Prozesse und sozialen Konstellationen bei den Aktivisten zu einer identitären Bindung an das Engagement und dadurch zur Struktur einer sozialen Bewegung führen. Er bezeichnet dieses Phänomen – „die selbstverstärkende Stabilisierung von Entscheidungen im Laufe eines Lebens“ – als biographische Pfadabhängigkeit und ergänzt somit die Rucht‘sche Definition von sozialen Bewegungen als „Handlungssystem mobilisierter Netzwerke von Gruppen und Organisationen“ (S. 108f.) substantiell um die Relevanz von deren Binnendynamiken. In anderen Worten: Leistner widerspricht den in der klassischen Bewegungsforschung dominierenden Erklärungsparadigmata zum Strukturaufbau von sozialen Bewegungen, wonach sich deren Akteuren allein rational an gesellschaftlichen Unzufriedenheitspotenzialen und politischen Gelegenheitsstrukturen orientieren. Stattdessen misst er den subjektiven Politisierungsprozessen sowie den Wechselwirkungen im sozialen Umfeld individueller Aktivisten zur Strukturbildung und Konsolidierung des Engagements wesentlich bedeutenderen Einfluss bei.

Diese These hat auch ein alternatives Verständnis des Begriffs soziale Bewegung zur Folge. Leistner untersucht dazu am Beispiel der unabhängigen DDR-Friedensbewegung die komplexe informelle Ordnungsstruktur sozialer Bewegungen und entfaltet das Konzept der Schlüsselfiguren. Dieser nicht gänzlich neue, aber bisher auf keine merkliche Resonanz gestoßene Ansatz4 hat den Anspruch, „soziale Bewegungen trotz ihrer Flüchtigkeit und Instabilität in ihrer Sozialgestalt zu fassen“ (S. 243). Leistner führt sodann ein „Tableau idealtypischer verdichteter Schlüsselfiguren des Protests“ (S. 245) auf, zu denen er Zeugen, Märtyrer, Pioniere, Mentoren, Vordenker, Vernetzer, Fürsprecher, Aktionisten, Renegaten, Veteranen und Agents Provocateurs zählt und beschreibt in generalisierender Absicht deren zentrale Funktionen und binnendynamisches Wirken hinsichtlich der Entwicklung und Verstetigung sozialer Bewegungen.

Zusätzlich zu den soziologischen Erkenntnissen leistet Leistner in seiner interdisziplinären Arbeit ebenfalls wertvolle Beiträge für die DDR-Geschichtsschreibung. Beispielsweise charakterisiert er mit dem Begriff der militarisierten Organisationsgesellschaft den Kontext der Genese der staatsunabhängigen Friedens- und Bürger(rechts)bewegung in der DDR. Vor dem Erfahrungsintergrund des Zweiten Weltkrieges, der Konstellation des Kalten Krieges und dessen denkbarer Eskalation in einen dritten Weltkrieg entwickelte sich der SED-Staat in einen hierarchischen, dauermobilisierenden Staat, der das öffentliche Leben in Richtung einer raschen und wirksamen Kriegsvorbereitung steuerte. Anschaulich schildert Leistner diesbezüglich die Omnipräsenz von Gehorsamsritualen und die Vermischung von Alltäglichem und Militärischem anhand sehr anschaulicher (Fall-)Beispiele. „Kurvendiskussionen im Mathematikunterricht wurden am Beispiel von Raketenflugbahnen berechnet, für den Weitwurf im Sportunterricht verwendete man Granatenattrappen, und schon die Vorschulkinder hatten zu singen: ‚Lieber Soldat, du trägst ein Gewehr, dich lieben wir sehr‘“ (S. 168). Angesichts dieses Zwangs zur Folgsamkeit und der allumfassenden militärischen Durchdringungen des öffentlichen Lebens verwundert es wenig, dass sich deshalb vorrangig in jugendkulturellen Milieus sukzessive politisches Engagement und soziale Bewegungen gegen die SED-Diktatur herausbildeten.

Alexander Leistner wendet sich in seiner innovativen und schlüssigen Analyse der Genese der DDR-Friedensbewegung dabei gegen vorherrschende „Rational-Choice“-Theorien, die die politischen Überzeugungen der Aktivisten als bereits existent voraussetzen, und sensibilisiert mittels seiner qualitativen Auswertungsmethoden für die lebensgeschichtlichen und gesellschaftlichen Konstellationen auf Akteursebene. Mit seiner theoretischen Begriffsanalyse, dem biographieanalytischen Ansatz und der Typologie der Schlüsselfiguren liefert er damit nicht nur aufschlussreiche Impulse für die Bewegungsforschung, sondern trägt zum Beispiel mit dem Konzept der militarisierten Organisationsgesellschaft oder seiner hier nicht näher ausgeführten Differenzierung der DDR-Friedensbewegung in verschiedene Phasen zur zeitgeschichtlichen Forschung bei.

Anmerkungen:
1 Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk, Streben nach Mündigkeit. Die unabhängige Friedensbewegung, 2005, http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/kontraste/42436/friedensbewegung (12.12.2016).
2 Vgl. Rainer Eckert, Die unabhängige Friedensbewegung in der DDR, in: Christoph Becker-Schaum / Philipp Gassert / Martin Klimke (Hrsg.), „Entrüstet Euch“. Nuklearkrise, NATO-Doppelbeschluss und Friedensbewegung, Paderborn 2012, S. 200–212.
3 Vgl. Ingrid Miethe, Frauen in der DDR-Opposition. Lebens- und kollektivgeschichtliche Verläufe in einer Frauenfriedensgruppe, Opladen 1999.
4 Vgl. Alexander Leistner, Die Selbststabilisierung sozialer Bewegungen. Das analytische und theoretische Potential des Schlüsselfigurenansatzes, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen 26,4 (2013), S. 14–23.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension