K. M. Drohsel: Das Erbe des Flanierens

Cover
Titel
Das Erbe des Flanierens. Der Souveneur – Ein handlungsbezogenes Konzept für urbane Erinnerungsdiskurse


Autor(en)
Drohsel, Karsten Michael
Reihe
Urban Studies
Anzahl Seiten
283 S.
Preis
€ 29,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maria Aleff, Institut für deutsche Philologie, Julius-Maximilians-Universität Würzburg

Das Gehen im öffentlichen, urbanen Raum mag zunächst unspektakulär erscheinen; eine Tätigkeit, die den Alltag eines jeden Individuums begleitet – beim Einkaufen, Reisen oder Spazierengehen. Diese trivial wirkende Handlung kann darüber hinaus aber auch als ein bedeutsames Handlungsformat genutzt werden, welches eine Möglichkeit der bewussten Raumwahrnehmung und Ortserfahrung bietet, wie der Autor Karsten Michael Drohsel im vorliegenden Werk anschaulich darlegt.

Bewegung im öffentlichen Raum ist bereits von vielen Wissenschaftlern unterschiedlich perspektiviert und erforscht worden. Der Sprachpsychologe und -theoretiker Karl Bühler befasste sich beispielsweise aus Sicht des Gehenden im öffentlichen Raum mit dem Gebrauch empraktischer Zeichen im Alltag. Der französische Ethnologe und Anthropologe Marc Augé entwickelte auf Grundlage von Räumen der gebauten Umwelt seine Theorie der identitätslosen Nicht-Orte (non-lieux), die er als charakteristisch für die Moderne ansieht. Der Sozialphilosoph und Historiker Michel de Certeau wiederum analysierte kulturelle und urbane Praktiken durch die Analyse des Fußgängers in der Stadt.1 Beim Gehenden und seiner Wahrnehmung des urbanen Raumes schließt auch die Forschung von Karsten Michael Drohsel an.

Das von Drohsel vorgelegte Werk „Das Erbe des Flanierens. Der Souveneur – ein handlungsbezogenes Konzept für urbane Erinnerungsdiskurse“ nimmt seinen Ausgangspunkt in der Stadt. Eine Stadt, so Drohsel, „ist mehr als ihre bebauten und unbebauten Räume, ihre Natur, ihre Baukörper und Infrastrukturen. Eine Stadt ist auch ein riesiger Speicher an Gelebtem und Erlebtem, ein Kommunikationsraum, durchkreuzt durch und aufgefüllt mit Geschichte und Geschichten“ (S. 17). Er fragt darauf aufbauend nach der Wahrnehmung der städtischen Umwelt durch Individuen und ob sich diese durch ein bewusstes und aktives Betrachten der Umwelt verändern würde. In diesem Kontext stellt er sich der Herausforderung, flüchtige und schwer greifbare Entitäten des lokalen Wissens wie Wahrnehmung und Erinnerung nicht nur quantitativ zu erfassen, sondern vor allem diese im Vergleich mit anderen Daten in Wert zu setzen.

Das Verhältnis zwischen dem Gehenden als „Souveneur“ (S. 24) und dem öffentlich begehbaren urbanen Raum mit geschichtsträchtigen Objekten steht im Zentrum der Arbeit. Ziel ist ein Konzept für methodisiertes Gehen in der Stadt als handlungsbezogene Erinnerungskultur zu entwickeln, welches dem Zweck dienen soll, Erinnerungen greifbar zu machen und das daraus resultierende Wissen zu tradieren. Auf diese Weise sollen neue kultursoziologische Ansichten und Denkweisen auf traditionelle Bereiche der Stadt- und Regionalplanung ermöglicht werden. Der Autor schließt damit eine Lücke im Forschungsfeld zur Erinnerungsarbeit, da die Flanerie bis dato nur vereinzelt als nützliches Vorgehen für eine aktive Erinnerungsarbeit in Erwägung gezogen wurde.

Drohsel hat zum Erreichen dieses Ziels eine neue Sozialfigur erschaffen, die er zu Beginn seines Buches vorstellt: der Souveneur.

Während der Flaneur einen genießenden, schlendernden Spaziergänger beschreibt, der die Flanerie einzig als intellektuellen, aber zweckfreien Zeitvertreib betreibt, so wird die Figur des Souveneurs auf dessen Grundlage auf- und ausgebaut. Er wird vorgestellt als „ein sich selbst und andere erinnernder Flaneur, der durch die Stadt streift, Erinnerungsspuren sucht und diese beschreibt, der anschließend Ereignisse und Geschichte(n) recherchiert, Gespräche führt und dazu einlädt, mit ihm zu spazieren“ (S. 24).

Dabei skizziert Drohsel, ausgehend vom Souveneur mit seiner raum- und sozialpsychologischen Perspektive, die theoretischen Grundlagen und Konzepte für die zu leistende Erinnerungsarbeit zur Schaffung einer produktiven Erinnerungskultur. Damit soll unter anderem eine Erinnerungstätigkeit primär für ein konstruktives Nach-vorn-Blicken erreicht, die Authentizität von Personen und Orten gefördert und die Weitergabe von Erfahrungen aus der Geschichte vorangetrieben werden.

Die Innovation Drohsels spiegelt sich nicht nur in der Verwendung des Neologismus vom Souveneur wider, sondern auch im gesamten Layout des Buches. Zu Beginn eines jeden Kapitels und zwischen den Texten erhält der Leser ein auf zwei Seiten platziertes, einschlägiges Zitat. Mit so einem Schmuckblatt begleitet er den Leser auch in die folgenden Kapitel zu den Themen Innen- und Außenwelt, individuelles und kollektives Erinnern sowie Erinnerungskultur. Hier erfolgt als Ausgangsbasis eine gelungene und kritische Ausführung und Erläuterung zu den grundlegenden Termini seiner Arbeit.

Unter neuropsychologischer Perspektive werden dem Leser Prozesse und Merkmale der Wahrnehmung als Schnittstelle zwischen der Innen- und Außenwelt des Individuums sowie Leistungen des Gehirns und seiner Gedächtnisfunktion in Bezug auf den Vorgang des Erinnerns anschaulich und nachvollziehbar nähergebracht. Ferner werden Theorien und Ansätze der Geschichtskultur dargelegt und ein diskurslinguistischer Bezug vorgenommen, der die Thematik aufgreift, dass Gegebenes vom Gehenden im urbanen Raum kritisch zu hinterfragen ist und Tradiertes nicht mehr unreflektiert als gegeben hingenommen werden soll. Gelungen ist hierbei generell das Wissenskonglomerat aus verschiedenen angrenzenden Fach- und Wissenschaftsbereichen wie der Stadtplanung und Denkmalpflege, der Integration kultureller Wertbildungsprozesse, der Diskurslinguistik und Sozialpsychologie. Partiell scheint er sich an einigen Stellen in den verschiedenen Ansätzen und Modellen anderer Wissenschaftler zu verlieren, doch er überzeugt dennoch mit Theorienpluralismus und einer interdisziplinären Ausrichtung, die seine Forschungsarbeit begleitet.

Im darauffolgenden Kapitel zur Verortung beleuchtet er die Begrifflichkeiten von Raum, Zeit und Ort. Besondere Berücksichtigung finden hier unter anderem die Fragen, wie es sich verhält, wenn eine Handlung explizit als Erinnerungstätigkeit ausgeführt wird. Daran schließen sich Überlegungen an, ob es dazu bestimmter Orte bedarf und ob Ereignisse sich auch an Orten verorten lassen, die als Stellvertreter für dieses Ereignis fungieren (vgl. S. 134). Raum wird hier als erkennbar wichtige analytische Kategorie eingeführt. Insbesondere mit dem Aufkommen der sich etablierenden Koloniallinguistik, aber auch in vielen anderen verschiedenen Fachwissenschaften, kommt es in jüngster Zeit verstärkt zur intensiv diskutierten Raumfrage. Ort und Raum als statische und dynamische Größen werden sinnvoll terminologisch voneinander abgegrenzt. Anschließend verknüpft Drohsel diese Größen mit den zuvor genannten ephemeren Vorgängen der Erinnerung und des Gedächtnisses in Form von Erinnerungstopografien und -orten.

Mit den Fragen „Was sehen bzw. erfahren wir, wenn wir gehen? Wie kann das Gehen zum Verstehen führen?“ (S. 161) leitet der Autor von der Theorie zum Handlungsbezug über.

Darauf aufbauend wird eine Methodisierung des erinnernden Gehens vorgeschlagen und auf empirischer Basis ein daran anschließendes selbst durchgeführtes Praxisprojekt beschrieben. Als ersten methodischen Ansatz für seine Feldforschung spricht Drohsel davon, „ohne konkretes Ziel, ohne eine Vorstellung oder Erwartung in einer nahezu unbekannten Stadt unterwegs zu sein und deren Einflüsse auf sich wirken zu lassen“ (S. 33), wobei fraglich ist, ob eine solche wert- und gedankenfreie Herangehensweise als Individuum möglich ist. Überzeugt der theoretische Teil des Buches mit fachlich genauem und präzisem Ausdruck und einem beeindruckenden Zusammenspiel verschiedener Wissensbestände, die sinnvoll verknüpft wurden, so erscheint das Vorgehen bei der praktischen Arbeit am Ende etwas durchwachsen. Hier könnte überlegt werden, eine fundiertere und solidere Systematisierung für methodische Entscheidungen festzulegen, um den Anschein von partieller Willkürlichkeit zu vermeiden.

Hervorzuheben ist die starke Transparenz der gesamten Arbeit. Auch Probleme oder Kontroversen werden thematisiert, aufgezeigt und nicht verschwiegen. Drohsel ermöglicht es dem Leser alle Schritte von der Idee über den Aufbau der Arbeit und die Umsetzung bis hin zum Ziel und dem Praxisprojekt nachzuvollziehen.

Darüber hinaus wird ein umfangreiches Repertoire an unterschiedlichen Sichtweisen verschiedener Wissenschaftler und wissenschaftlichen Disziplinen eingesetzt, welches eine Bereicherung für das Werk und die Forschungsarbeit darstellt.

So wie Drohsel ausführlich und einleuchtend erklärt hat, dass Wahrnehmung stets subjektiv ist, ergibt sich schlussfolgernd auch, dass diese Rezension offenkundig nach persönlichem Kenntnisstand und individueller Selektion der gegebenen Informationen des Buches sowie deren Verarbeitung verfasst wurde. Dieses Werk erweist sich aber auch aus objektiviertem Blickwinkel als eine insgesamt kritisch reflektierte Arbeit, deren Inhalt einen wichtigen Beitrag zur derzeitigen Erinnerungsarbeit und -forschung leistet.

Anmerkung:
1 Vergleich dazu Christine Domke, Die Betextung des öffentlichen Raumes. Eine Studie zur Spezifik von Meso-Kommunikation am Beispiel von Bahnhöfen, Innenstädten und Flughäfen, Heidelberg 2014.

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