J. Mathieu u.a.: Geschichte der Landschaft

Cover
Titel
Geschichte der Landschaft in der Schweiz. Von der Eiszeit bis zur Gegenwart


Autor(en)
Mathieu, Jon; Backhaus, Norman; Hürlimann, Katja; Bürgi, Matthias
Erschienen
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
CHF 49,90; € 58,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Melanie Salvisberg, Historisches Institut, Universität Bern

Der Wandel und die Entwicklung der Landschaft ist in den letzten Jahren nicht nur Thema öffentlicher Debatten, sondern ist auch in der historischen und insbesondere der umwelthistorischen Forschung aktuell. Die Literatur dazu präsentiert sich, wie auch die Zugänge und die Definitionen von Landschaft, sehr vielfältig. Untersucht wurden beispielsweise die Wasser- und Landschaftsgeschichte Deutschlands seit dem 18. Jahrhundert1 oder die Beziehung zwischen Landschaft und nationalstaatlicher Entwicklung in Europa.2 Die Geschichte der Landschaft der Schweiz wurde nun von einem Team renommierter Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen nachgezeichnet. Der vorliegende Sammelband, herausgegeben von Jon Mathieu, Norman Backhaus, Katja Hürlimann und Matthias Bürgi, will die Veränderungen der Landschaft in einer langfristigen Perspektive (es werden die rund 20.000 Jahre vom Ende der letzten Eiszeit bis zur Gegenwart berücksichtigt), aber dennoch auf detaillierte Weise beleuchten. Das Buch verpflichtet sich einem interdisziplinären Ansatz und behandelt kulturelle, politische und ökologische Dimensionen gleichermassen. Dies widerspiegelt sich auch in der Autorenliste: Die insgesamt 21 Autorinnen und Autoren kommen aus vielen verschiedenen Disziplinen; Fachbereiche wie die Geschichtswissenschaft, die Geographie, die Geologie, die Forstwissenschaft, die Landschaftsökologie, die Archäologie, die Landschaftsarchitektur oder die Literaturwissenschaft wurden berücksichtigt. Da es den Rahmen dieser Besprechung sprengen würde, einzeln auf die Beiträge einzugehen, werden im Folgenden die inhaltlichen Leitlinien vorgestellt und nur einzelne Kapitel exemplarisch herausgegriffen.

Im Zentrum des Buches steht die Zeitdimension, und Landschaft wird als historischer Prozess betrachtet. Mit dem Ziel, ein Buch zu schaffen, das sowohl das rein historische Interesse berücksichtigt als auch Hintergrundwissen und Anregungen für gegenwärtige und zukünftige Entwicklungen gibt, formulieren die Herausgeber als übergreifende Frage unter anderem: „Wie sollen wir den massiven Wandel der Landschaft, der uns täglich vor Augen liegt, historisch einordnen?“ (S. 21). Weiter fragen sie nach der Rolle pfadabhängiger Entwicklungen, reversiblen Vorgängen und ob die Landschaftsgeschichte in der Schweiz eine Geschichte des Niedergangs und der Zerstörung ist, oder ob sie auch anders betrachtet werden kann. Das Buch berücksichtigt explizit nicht nur den viel beachteten Alpenraum, sondern auch das Mittelland und den Jura.

In der rahmengebenden Einführung bietet Jon Mathieu einen Überblick über die historische Forschungsliteratur und thematisiert die Geschichte und Bedeutungsvielfalt des Begriffs „Landschaft“. Letztere mache den Begriff, so Mathieu, für wissenschaftliche Zwecke besonders interessant, da daran die Positionen der verschiedenen Akteure aufgezeigt werden können (S. 13). Für ihr Buch wählen die Herausgeber den offenen Begriff der europäischen Landschaftskonvention von 2000, der die natürlichen oder von Menschen geschaffenen Umweltgegebenheiten sowie auch deren Wahrnehmung umfasst.

Der Hauptteil des Sammelbands ist chronologisch in vier Teile gegliedert, die jeweils drei bis sechs Beiträge zu verschiedenen Themenbereichen enthalten. Am Anfang jedes Teils findet sich eine Zusammenfassung mit Angaben zu wichtigen Trends wie der Bevölkerungsentwicklung sowie mit separaten Kurzzusammenfassungen der einzelnen Beiträge.

Der erste Teil behandelt die Landschaftsgeschichte der Schweiz vom Ende der letzten Eiszeit bis an den Übergang vom Früh- zum Hochmittelalter und trägt den Namen „Epoche der Waldlandschaft“. In dieser langen, etwa 17.000 Jahre umfassenden Periode hatte die Landschaft der heutigen Schweiz ein mehrheitlich mosaikartiges Aussehen. Dieses behielt sie trotz zahlreicher wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, politischer und kultureller Wandelerscheinungen bei. Das Gebiet war von bewaldeten, kaum genutzten Landstrichen und verstreuten Siedlungskernen geprägt. Renata Windler beschreibt in ihrem Kapitel zum ersten Jahrtausend n. Chr., wie die römische Herrschaft das Aussehen der Siedlungen prägte und wie die Verwaltungs- und Verkehrsorganisation nachhaltige Spuren hinterliess (S. 58–72).

Der zweite Teil zum „Landesausbau in Mittelalter und Neuzeit“ untersucht die Ausdehnung und intensivere Nutzung des Kulturlandes in der Zeit von 1000 bis 1800. Die vier Beiträge zu dieser Periode zeigen auf, wie sich in allen Regionen der heutigen Schweiz das Kulturland und die Siedlungsgebiete ausdehnten und aus der halb offenen Landschaft eine Kulturlandschaft mit regional verschiedenen Organisationsmustern entstand. Thematisiert werden auch die neuen Formen der Landschaftswahrnehmung. Martin Stuber erläutert beispielsweise, wie im 18. Jahrhundert parallel zur idealisierend-ästhetischen Landschaftswahrnehmung auch die ökonomische Verwertbarkeit der Landschaft zum Thema wurde und wie die ökonomischen Sozietäten mithilfe von Wissenschaft und Technik Ertragssteigerungen anstrebten (S. 91–104).

Das 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts werden im dritten, „Urbanisierung – die Moderne kommt“ genannten Teil behandelt. Angetrieben durch die Industrialisierung vollzog sich in diesen eineinhalb Jahrhunderten ein schubartiges Wachstum der Städte und des Verkehrs, was die Landschaft tiefgreifend veränderte. Hinzu kamen die Flusskorrektionen, die den Talebenen ein völlig neues Gesicht gaben, wie Daniel Speich Chassé in seinem Kapitel aufzeigt (S. 175–188). Vor dem Hintergrund dieser rasanten Entwicklungen trat auch die erste Naturschutzbewegung auf, die sich mit der Erhaltung und Gestaltung der Landschaft befasste.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart – diese Zeitspanne wird im vierten Teil unter dem Titel „Landschaft zwischen Agglomeration und Wildnis“ behandelt – verstärkte sich die Polarisation zwischen den immer intensiver genutzten Landesteilen im Mittelland und den extensiver genutzten Berggebieten. Die fünf Beiträge dieses Teils behandeln die Trends der letzten Jahrzehnte in Wissenschaft, Planung und Politik, Siedlungs- und Verkehrsentwicklung, Land- und Forstwirtschaft. Patrick Kupper beleuchtet als Abschluss des Hauptteils die Parkbewegung. Er stellt dar, wie sich die jüngst gegründeten Naturparks vom mittlerweile hundertjährigen Schweizerischen Nationalpark unterscheiden (S. 295–307).

Im Schlusskapitel vertieft Matthias Bürgi schliesslich die Frage nach der Landschaftsgeschichte der Schweiz im europäischen Kontext und ihrem Potenzial als europäisches Landschaftslabor. Mit ihren starken klimatischen und topografischen Gradienten vereinigt die Schweiz naturräumliche Voraussetzungen, wie sie in weiten Teilen Europas herrschen. Durch die dicht besiedelten Ballungsräume, die produktiven Landwirtschaftsgebiete und die kaum genutzten alpinen Regionen findet sich hier eine Vielfalt an Landschaftsformen, wodurch sich das Land gut für eine Auseinandersetzung mit landschaftlichen Fragen im internationalen Kontext eignet. Bürgi thematisiert im Schlussteil auch die aktuellen Fragen der Landschaftsentwicklung und nimmt einen Ausblick vor. Die Landschaft, so Bürgi, sollte „als eine gesellschaftliche Zentralressource erkannt und respektiert werden“ (S. 323). Statt eines totalen Käseglockenschutzes brauche es Sorgfalt im Umgang mit der Landschaft, sowohl in den Berggebieten wie auch im dicht besiedelten Mittelland.

Jon Mathieu, Norman Backhaus, Katja Hürlimann und Matthias Bürgi liefern mit dem Buch erstmals einen grossen historischen Überblick über die Landschaftsgeschichte der Schweiz. Die langfristige Perspektive erweist sich als gewinnbringend, da dadurch deutlich wird, welchen massiven Veränderungen die Landschaft unterlag und wie sowohl die Natur als auch die Menschen immer massiver ihre Spuren hinterliessen. Die zwanzig Beiträge zeigen die vielen Facetten der Landschaftsgeschichte auf und beleuchten jeweils den aktuellen Stand der Forschung. Dass die Kapitel teilweise nicht in die Tiefe gehen, ist mit dem Konzept des Buchs zu erklären und erweist sich nicht als Mangel. Bemerkenswert ist, wie gut die unterschiedlichen Themenbereiche und die einzelnen Beiträge ineinandergreifen. Obwohl die Kapitel in sich geschlossen und auch einzeln lesbar sind, bilden sie in der Kombination die grossen Entwicklungslinien ab und machen die vielfältigen Zusammenhänge deutlich. Der Spagat zwischen einer langfristigen Perspektive und detaillierten Informationen ist gut geglückt. Das Buch erweist sich somit als hervorragendes Überblickswerk, das spannend zu lesen ist. Betont wird die Überblicksfunktion zusätzlich durch den klar strukturierten Aufbau und die kurzen Zusammenfassungen am Anfang der vier Teile, die eine schnelle Orientierung erlauben. Das Buch ist ausserdem großzügig mit Grafiken, Tabellen und Abbildungen ausgestattet.

Die Publikation ist nicht nur dem Fachpublikum sehr zu empfehlen, sondern eignet sich auch für eine breitere Leserschaft, was explizit angestrebt wurde. Alle Beiträge sind ohne vertieftes Hintergrundwissen gut verständlich.

Anmerkungen:
1 David Blackbourn, The Conquest of Nature. Water, Landscape, and the Making of Modern Germany, London 2006.
2 François Walter, Les figures paysagères de la nation. Territoire et paysage en Europe (16e–20e siècle), Paris 2004.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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