S. Bauer u.a. (Hrsg.): Science and Technology Studies

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Titel
Science and Technology Studies. Klassische Positionen und aktuelle Perspektiven


Herausgeber
Bauer, Susanne; Heinemann, Torsten; Lemke, Thomas
Erschienen
Berlin 2017: Suhrkamp Verlag
Anzahl Seiten
646 S.
Preis
€ 26,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Patrick Kilian, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Zürich

Wenn es stimmt, dass die Nacht kurz vor dem Morgengrauen am dunkelsten ist, dann steht den Science and Technology Studies (STS) bald eine strahlend helle Zukunft bevor – so jedenfalls die Einschätzung von Peter Dear, Professor für STS an der Cornell University, und Sheila Jasanoff, STS-Professorin in Harvard, in einer 2010 publizierten Standortbestimmung ihres Forschungsfelds. Mit Blick auf das unklare Verhältnis zur Wissenschaftsgeschichte und die disziplinäre Verortung der STS ist dort die Rede von „levels of almost impenetrable gloom“.1

Im angloamerikanischen Raum sind die STS bereits seit längerem durch Institute, Professuren und Studiengänge fest im akademischen System verankert, in der deutschsprachigen Wissenschaftslandschaft hingegen steht ihre Institutionalisierung nach wie vor aus.2 Susanne Bauer, Associate Professor für STS an der Universität Oslo, Torsten Heinemann, Juniorprofessor für Soziologie in Hamburg, und Thomas Lemke, Professor für Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt, haben bei Suhrkamp nun einen Reader mit klassischen und aktuellen, sorgfältig übersetzten Texten herausgegeben, der indirekt Dears und Jasanoffs Anliegen adressiert, mehr Licht ins Dunkel zu bringen.

In ihrer Einleitung konstatieren die Herausgeber_innen ein „doppeltes Hindernis für eine umfassende Rezeption der STS in Deutschland. Zum einen liegen die meisten der inzwischen klassischen Texte, die diese Forschungsperspektive nachhaltig geprägt haben, noch nicht in deutscher Sprache vor. Zum anderen fehlt bisher ein einführender Überblick, der die verschiedenen Forschungsrichtungen und Akzentverlagerungen der vergangenen vierzig Jahre systematisch vorstellt und vergleichend diskutiert“ (S. 9). Sie beschreiben die STS als „ein multidisziplinäres Feld, das ein reiches Spektrum theoretischer Ansätze und Debatten versammelt“ (S. 36) und mit dem Anspruch angetreten sei, „feststehende Kategorisierungen und geschlossene Denkmuster zu öffnen, um konventionelle Konzeptualisierungsformen immer wieder in Frage zu stellen“ (S. 34).

Der Band ist zugleich chronologisch wie systematisch organisiert. Er präsentiert paradigmatische Positionen der STS seit den 1970er-Jahren, die stellvertretend für größere Entwicklungstendenzen und Theoriekonjunkturen des Feldes stehen beziehungsweise diese selbst vorbereitet haben. Jede Sektion enthält zudem analytische Einführungen, in denen deutschsprachige Kenner_innen des Feldes die einzelnen Forschungs- und Theorieansätze mit souveränem Überblick innerhalb der STS verorten.

Eine erste Sektion behandelt zunächst „Die Soziologie wissenschaftlichen Wissens“, vorgestellt durch das 1976 als Teil einer Monographie publizierte Kapitel „Das starke Programm in der Wissenschaftssoziologie“ von David Bloor. Im Zentrum dieses nachhaltig einflussreichen „strong programme“ steht das „Symmetrieprinzip“: Nicht nur Irrtümer und Ideologien, auch ‚wahre’ und ‚harte’ Erkenntnisse aus den Naturwissenschaften sollen nunmehr gleichermaßen unparteiisch und konsequent sozialen Erklärungen unterworfen werden. Die damit verbundene Zurückweisung einer inneren Logik der Forschung brach mit den klassischen wissenschaftstheoretischen Überzeugungen von Karl Popper sowie des Wiener Kreises.

Daran anknüpfend präsentiert der Band die „Sozialkonstruktivistische Technikforschung“, die durch Trevor J. Pinchs und Wiebe E. Bijkers Aufsatz „Die soziale Konstruktion von Fakten und Artefakten, oder: Wie Wissenschafts- und Techniksoziologie voneinander profitieren können“ (1987) repräsentiert wird. In diesem Beitrag entwickelten die Autoren am Beispiel einer Fallstudie zur Entwicklung des Fahrrads im 19. Jahrhundert die Vorstellung, dass Technologien nicht nur gesellschaftliche Effekte haben können, sondern selbst sozialen Konstruktionsprozessen unterworfen sind. In konzeptioneller Hinsicht erweitern sie Bloors Ansatz damit von der Wissenschaft auf Technologien. Besonderes Augenmerk legen Pinch und Bijker auf Momente der „interpretativen Flexibilität“, während derer verschiedene soziale Gruppen an der „Konzeption von Artefakten“ (S. 159) beteiligt sind. Am Ende eines solchen Aushandlungsprozesses steht die „Stabilisierung eines Artefakts“ (S. 163).

Die dritte Sektion beschreibt die Entwicklung der „Laborstudien“, mit denen ethnographische Ansätze zum Methodenrepertoire der STS hinzutraten. Hier haben die Herausgeber_innen das Kapitel „Ein Anthropologe besucht das Labor“ aus der 1979 von Bruno Latour und Steve Woolgar veröffentlichten Studie „Laboratory Life“ gewählt, die auf Feldforschungen am „Salk Institute for Biological Studies“ in La Jolla zurückgeht. Mit dem betont ironischen Gestus der Naivität des Außenstehenden beschreiben Latour und Woolgar das Institut als einen Ort fremder Riten und Bräuche; sie sprechen von „einem merkwürdigen Stamm [...], dessen Angehörige die meiste Zeit ihres Tages codieren, markieren, verändern, korrigieren, lesen und schreiben“ (S. 205). Das Labor erscheint dabei als „ein System literarischer Inskription“ (S. 260), das im Verlauf zahlreicher Übersetzungsprozesse biologisches Material zunächst in Daten und schließlich in Aufsätze transformiert.

Mit der Praxis des Experimentierens rückten auch vermehrt die Geräte, Apparate und Instrumente des Wissens in den Vordergrund, die im vierten Kapitel unter dem Paradigma der „Akteur-Netzwerk-Theorie“ (ANT) verhandelt werden. Diskutiert wird dieser Ansatz am Beispiel eines Beitrags von Michel Callon: „Einige Elemente einer Soziologie der Übersetzung. Die Domestikation der Kammmuscheln und der Fischer der St. Brieuc-Bucht“ (1986). In kritischer Erweiterung des symmetrischen Standpunkts von Bloor fordert Callon ein Prinzip der „generalisierten Symmetrie“, das nicht nur falsches wie wahres Wissen umfasst, sondern auch Gesellschaft und Natur mit einem einheitlichen „Vokabular der Übersetzung“ (S. 301f) beschreibt. Die Fähigkeit zu handeln soll dabei nicht auf menschliche Akteure beschränkt bleiben, sondern auch Dingen wie beispielsweise Kammmuscheln zugesprochen werden. Menschliche wie nicht-menschliche Akteure bilden in der Vorstellung der ANT gemeinsame Netzwerke, die Handlungspotentiale erzeugen.

Eine neue Wendung nehmen Wissenschafts- und Technologieforschung in den folgenden Sektionen, in denen zunächst die „Feministischen STS“ mit dem Beitrag „Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive“ (1988) von Donna Haraway vorgestellt werden. Anschließend folgt der Ansatz der „Praxeographie“, vertreten durch das Kapitel „Krankheit tun“ (2002) von Annemarie Mol, sowie die „Postkolonialen STS“. Letztere werden anhand einer Feldstudie von Helen Verran diskutiert: „Ein postkoloniales Moment in der Wissenschaftsforschung: Zwei alternative Feuerregimes von Umweltwissenschaftler_innen und aborignalen Landbesitzer_innen“ (2002). Dort stellt die Autorin die Frage, wie sich mit den STS durch „Geschichten von Differenz und Gleichheit“ in „Machtverhältnisse intervenieren“ lasse, um „bei der Umverteilung von Autorität mitzuwirken und die Kontexte zu transformieren, in denen Macht ausgeübt wird“ (S. 546).

Alle diese Perspektiven teilen das bereits von Latour für die ANT formulierte und von Verran zugespitzte Postulat, Wissenschaftsforschung auch als ein „politische[s] Projekt“ (S. 23) zu begreifen. Aus Haraways feministischem „situierten Wissen“ als einer selbstreflexiven Hinterfragung der eigenen Standortgebundenheit entsteht in der Praxeographie die Idee einer situierten, „sanften Einmischung“ (S. 421) des Beobachters. Während es Mol und anderen Vertreter_innen der Praxeographie darum geht, behutsam in wissenschaftliche Forschungspraktiken zu intervenieren, steht für die postkolonialen STS das Sichtbarmachen von Ungleichheiten und Marginalisierungen indigener Wissensformen im Zentrum.

In der letzten Sektion wird mit den „Neuen Materialismen“ ein Ansatz fokussiert, der weniger klassische Positionen denn aktuelle Perspektiven der STS darstellt. Aus diesem jungen und gleichsam heterogenen Feld, das sich kritisch gegen die Repräsentations-Paradigmen des linguistic turn wendet, präsentiert der Band das Kapitel „Agentieller Realismus“ (2003) der feministischen Wissenschaftsforscherin Karen Barad. Gegenstand dieses achtzig Seiten umfassenden Beitrags ist die Frage nach der Ontologie von Objekten und Subjekten. Deren Seinsweisen begreift Barad hierbei nicht als fixiert, sondern schreibt ihnen einen äußerst dynamischen, ‚intraaktiven’ Charakter zu.

Den Herausgeber_innen ist es gelungen, einen zugleich breiten wie auch in die Tiefe gehenden Über- und Einblick in das disparate Feld der STS zu geben. Der Reader fängt damit den interdisziplinären Charakter sowie die internen Verschiebungen und Entwicklungsdynamiken des Forschungsfeldes ein. Mit dem Ansatz, eine verhältnismäßig kleine Zahl an klassischen Beiträgen auszuwählen, schlägt der Band einen anderen Weg ein, als etwa der 1999 von Mario Biagioli herausgegebene „Science Studies Reader“, der insgesamt sechsunddreißig Texte enthält.3 Um die STS für eine deutschsprachige Rezeption weiter als bisher zu öffnen, erscheint der Fokus auf eine kleinere Auswahl an Beiträgen, versehen mit analytischen Einführungen, wesentlich sinnvoller. Dass im Gegensatz zu Biagioli auf die Aufnahme von Texten aus der Wissenschaftsgeschichte verzichtet wird, ist vielleicht Ausdruck der zunehmenden Distanzierung beider Forschungsrichtungen, die von der Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston mit kalter Schulter über das fehlende historische „Ethos“ beziehungsweise die disziplinäre Unbestimmtheit der STS begründet wurde.4

Die im Band dokumentierte vierzigjährige Geschichte der STS wirft eine Reihe von Fragen auf. Wenn Wissenschaft die „Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln“ (S. 479) ist, wie Latour emblematisch für den wissenschafts- und technologiekritischen Impetus der STS bemerkte, dann wäre auch zu klären, in welche größeren gesellschafts- und wissenschaftspolitischen Konjunkturen dieses Forschungsfeld eingeschrieben ist. Haben sich die Science Studies nicht nur kritisch gegen die technowissenschaftlichen Großforschungsprojekte des militärisch-industriellen Komplexes im Kalten Krieg gewendet – wie dies im Selbstverständnis der STS erinnert wird –, sondern waren möglicherweise auch Effekt der damit einhergehenden Denklogiken? Aktuelle Forschungen zur Geschichte der Sozialwissenschaften während des Kalten Krieges deuten darauf hin, dass die Interdisziplinarität der STS vielleicht nicht nur Ausdruck eines „methodischen Pluralismus“, sondern auch Nachwirkung einer während des Kalten Krieges zur epistemischen Tugend avancierten Wissenschaftshaltung demokratischer Gesellschaften war.5

Im Kontext des populistisch ausgerufenen „postfaktischen Zeitalters“ stellt sich außerdem die Frage, welche Probleme sich aus den von den STS entwickelten sozialkonstruktivistischen Ansätzen ergeben, wenn diese etwa von Klimawandelskeptikern angeeignet werden, um wissenschaftliches Wissen über den anthropogenen Klimawandel als ‚bloß relativ’ beziehungsweise als ‚Konstruktion’ zu delegitimieren. Bereits 1996 empfand es der Soziologe Malcolm Ashmore als unangenehm, sein konstruktivistisches Denken plötzlich „auf der falschen Seite des Tischs“ im Umkreis der Leugner und Unterhändler des Zweifels wiederzufinden.6

Diese Problemlagen und Fragestellungen werden in der Einleitung und den Sektionseinführungen lediglich in Ansätzen diskutiert, was in Anbetracht des eigentlichen Fokus und der großen Leistung des Bandes keine Kritik, sondern Impuls zum kritischen Weiterdenken sein soll. Für (Wissenschafts-)Historiker_innen bietet der Band mit seinen aufschlussreichen Textkommentaren jedenfalls die Möglichkeit, erneut über die Potentiale der STS nachzudenken und Dastons Zurückweisung noch einmal kritisch zu überprüfen.

Anmerkungen:
1 Peter Dear / Sheila Jasanoff, Dismantling Boundaries in Science and Technology Studies, in: Isis 101,4 (2010), S. 759–774, hier S. 759.
2 Zur bisherigen Rezeption im deutschsprachigen Raum siehe Diana Lengersdorf / Matthias Wieser (Hrsg.), Schlüsselwerke der Science & Technology Studies, Wiesbaden 2014; Stefan Beck / Jörg Niewöhner / Estrid Sørensen (Hrsg.), Science and Technology Studies. Eine sozialanthropologische Einführung, Bielefeld 2012; Arno Bammé, Science and Technology Studies. Ein Überblick, Marburg 2009.
3 Mario Biagioli (Hrsg.), The Science Studies Reader, New York 1999.
4 Lorraine Daston, Science Studies and the History of Science, in: Critical Inquiry 35,4 (2009), S. 798–813, hier S. 811.
5 Siehe hierzu das Kapitel „Interdisciplinarity as a Virtue“, in: Jamie Cohen-Cole, The Open Mind. Cold War Politics & the Sciences of Human Nature, Chicago 2014, S. 65–103. Sowie weiterführend Elena Aronova / Simone Turchetti (Hrsg.), Science Studies during the Cold War and Beyond. Paradigms Defected, New York 2016.
6 Malcolm Ashmore, Ending up on the Wrong Side. Must the Two Forms of Radicalism Always be at War?, in: Social Studies of Science 26,2 (1996), S. 305–322.