P. Reinard: Kommunikation und Ökonomie

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Titel
Kommunikation und Ökonomie. Untersuchungen zu den privaten Papyrusbriefen aus dem kaiserzeitlichen Ägypten


Autor(en)
Reinard, Patrick
Reihe
Pharos 32
Erschienen
Rahden/Westf. 2016: Verlag Marie Leidorf
Anzahl Seiten
2 Bände, 1160 S.
Preis
€ 74,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Hoffmann-Salz, Abteilung Alte Geschichte, Historisches Institut, Universität zu Köln

Diese sehr umfangreiche Studie zu den privaten Papyrusbriefen aus dem kaiserzeitlichen Ägypten geht zurück auf die Doktorarbeit des Verfassers, die dieser im Wintersemester 2013/14 in Marburg eingereicht hat. Patrick Reinhard [= R.] hat sich dabei eines wahren Quellenschatzes angenommen, der wie kaum ein anderes Quellenzeugnis detailgetreue Einblicke in die Lebenswirklichkeit des kaiserzeitlichen Ägyptens ermöglicht. Erfreulicherweise hat sich R. aber zunächst auch viel Raum genommen, um die Quellengattung an sich auf ihren Erkenntniswert gerade für die titelgebende Frage nach Kommunikation und Ökonomie methodisch zu durchleuchten. So folgt einer Zusammenstellung besonders ‚bunter‘ Briefe sozusagen als Appetitanreger für die weitere Lektüre eine ausführliche Darlegung der Methoden und Ziele der Arbeit sowie umfangreiche Überlegungen dazu, was eigentlich ein Brief ist. Dabei betont R., dass der Versand von Waren ein wiederkehrendes und häufiges Motiv in den ca. 2000 kaiserzeitlichen Privatbriefen ist und sich daraus erschließen lässt, wie groß das Interesse der Menschen an „Waren, Preisen und Marktsituation“ war. Daraus folgert er zu Recht, Aussagen über ihre „Wirtschaftsmentalität“ treffen zu können, die im Verlauf der Arbeit belegen sollen, dass die antiken Menschen „ein gesteigertes Bewusstsein für Marktentwicklungen hatten.“ (S. 25). Um die entsprechenden Aussagen in den Papyri in diesem Sinne zu kontextualisieren, greift R. in seiner Analyse auf Instrumente der Textlinguistik, der Netzwerkanalyse und der Neuen Institutionenökonomik mit der Prinzipal-Agenten-Theorie und Transaktionskostentheorie zurück (S. 28).

Im zweiten Kapitel zur Quellengattung Brief nähert sich R. über die Frage nach der Wortbedeutung ‚Brief‘ einer eigenen Definition dieser Textgattung an. So hält er fest: „Briefe sind Mittel der Kommunikation. Sie sind eine meist kurze persönliche Nachricht zwischen mindestens zwei Personen. Einen Briefwechsel kann man als schriftlichen Dialog auffassen. […] Aufgrund der Überlieferungssituation […] steht dem modernen Rezipienten lediglich ein einzelner Dialogbeitrag zur Verfügung, der einen diachronen Einblick in die Lebenswelt der Briefpartner bietet. [Papyrusbriefe sind] strikt von literarischen Briefen jeder Form zu trennen.“ (S. 71–72). Er betont außerdem, dass sich die antiken Briefeschreiber eine physische Anwesenheit ihrer Briefpartner vorstellten (S. 75). Um das Problem der individuellen Tendenz in der Briefkommunikation zu umgehen und allgemeingültige Aussagen aus diesen Texten zu ziehen, bemüht sich R. darum, „gleiche Handlungen, Angaben und Inhalte in den Briefen in großer Menge quantifizieren“ zu können (S. 77). Es folgen Überlegungen zu spezifischen Briefgruppen: Kondolenzbriefe, Todesnachrichten, Empfehlungsbriefe, Freundschaftsbriefe, Doppelbriefe sowie Begleit- und Ankündigungsbriefe. Anmerkungen zum Briefmaterial schließen das Kapitel ab.

Im dritten Kapitel der Arbeit geht es um die Aufstellung der durch die Briefe zu ermittelnden Versandwaren, also die Frage, welche Waren von den Briefpartnern verschickt wurden. Dazu stellt R. den Befund aus den Papyri zunächst tabellarisch zusammen, wobei er nach griechischen und lateinischen Termini unterscheidet. Diese sehr umfangreiche und spannende Materialsammlung wird dann durch eine Auswertung nach Warentypen ergänzt. Hier kann er große regionale Unterschiede in Bezug auf Warenverfügbarkeit und Warenversand ausmachen: Die Siedlungen der östlichen Wüste waren aufgrund der geographischen Begebenheiten auf zahlreiche Waren und deren Zusendung durch Dritte angewiesen, die darüber hinaus offenbar in anderen Behältern transportiert wurden als in den nilnahen Regionen. In den nilnahen Regionen war dabei vor allem das Angebot an Kleidungsstücken wesentlich differenzierter als in den Wüstenregionen. Die westlichen Wüstensiedlungen treten deutlich geringer in Erscheinung, in den östlichen Wüstenregionen scheint angesichts der wachsenden Bedeutung der Steinbrücke seit trajanischer Zeit auch der Bedarf an Versandwaren gestiegen zu sein. R. betont außerdem die große Mobilität der in den Briefen sichtbaren Gesellschaft, in der nicht nur Personen sondern mit ihnen auch Waren ständig unterwegs waren.

Im vierten Kapitel folgt dann ein Blick auf das Wie des Brief- und Warentransportes, wobei zunächst Transferprobleme wie Unfälle, Krankheiten, Aufstände etc., dann weitere Probleme wie die Brief- und Warenverteiler, Mäuse, Klima, Transportarten aufgeführt werden. Die weiteren Abschnitte des Kapitels gehen dann noch einmal genauer auf die Gefahren des Reisens, Krankheiten, Lesen und Schreiben, Adressenangaben und Wegbeschreibungen sowie auf die Frage nach der Versanddauer ein. Es folgt eine Deutung der Briefe im Rahmen der Prinzipal-Agenten-Theorie sowie Überlegungen zu den Kosten des privaten Brief- und Warenverkehrs, der Sicherheitsinstrumente und schließlich eine Auseinandersetzung mit der Person des Boten in der literarischen Überlieferung. Angesicht der Detailfülle der Analyse muss R. immer wieder Querverweise zu anderen (Teil-)Kapiteln anführen, die zwar einerseits insgesamt den Erkenntnisgewinn der Arbeit erhöhen, andererseits aber den Lesefluss etwas beeinträchtigen.

Um den Aspekt der Funktionsweisen des Brief- und Warenverkehrs noch genauer fassen zu können, erfolgt in Kapitel 5 eine Auswertung von beispielhaften Brief-Archiven, in denen längere Handlungsstränge und damit auch Warenwege bzw. Geschäftsvorgänge nachvollzogen werden können. Wie schon im dritten Teil zu den Waren folgen hier zunächst Sammlungen der Informationen aus den Textzeugnissen und dann deren Kontextualisierung und Analyse. Ein Exkurs befasst sich mit der spezifischen historischen Situation während des Jüdischen Aufstandes 115–117 n.Chr. Es folgt mit Kapitel 6 ein Zwischenfazit der Erkenntnisse aus der Archiv-Auswertung. Hier betont R. die Unterschiede unter den Archiven, die teils regional beschränkte, teils überregional operierende Netzwerke, teils klare Hierarchien zeigen, in denen die Beteiligten aber immer ein großes Interesse daran hatten, soziale Beziehungen auch über große Entfernungen aufrecht zu erhalten.

Im siebten Kapitel wendet sich R. dann den Gründen für den rekonstruierten Warenverkehr zu und möchte daraus Erkenntnisse über das ökonomische Verhalten der Briefschreiber gewinnen. Hier blickt R. auf die briefliche Kommunikation von Preisvariationen, Empfehlungsbriefen, das Feilschen um Preise, Qualitätsbewusstsein bei Warensendungen, Suche nach bestimmten Waren, die Frage nach Autarkie, auf den abstrakten Markt, Monopole und interdependente Märkte sowie die Ursachen für Preisschwankungen.

Angesichts der stetigen Diskussion um die postulierte bzw. bestrittene ‚Sonderrolle‘ Ägyptens fügt R. dann in Kapitel 8 einen Exkurs ein, um die Ergebnisse aus Ägypten mit anderen Reichsteilen in Beziehung zu bringen. Hier kann R. zeigen, dass „die dichte schriftliche Kommunikation, wie sie in Ägypten nachzuweisen ist […] in vergleichbarer Form auch in anderen Reichsteilen statt[fand]“ (S. 1001). Dabei zeigten die Menschen auch in den anderen Reichsteilen ein „klares Bewusstsein für Preis- und Qualitätsschwankungen“, so dass „die in den ägyptischen Briefen erkennbare Wirtschaftsmentalität […] kein Sonderfall“ war. (S. 1002).

In Kapitel 9 folgt eine Zusammenfassung der Ergebnisse und deren Mehrwert für die antike Wirtschaftsgeschichte. R. kann dabei in acht Punkten die Frage nach dem ‚Wesen der antiken Wirtschaft‘ wie folgt beantworten: Die Briefschreiber suchten möglichst umfangreiche Informationen über Märkte, Preise, Angebote etc. und zeigten auch Ansätze zur individuellen Nutzenmaximierung sowie zur Senkung der Transaktionskosten. Die Informationen wurden für Prognosen über das weitere Marktgeschehen genutzt, die das Marktverhalten der Beteiligten beeinflussten. Preisbildung erfolgte aufgrund der Informationslage und aus dem Bewusstsein für Angebot und Nachfrage heraus, wobei die Beteiligten ein Verständnis für den abstrakten Markt zeigen und Marktvariationen zum eigenen Vorteil nutzen. Und schließlich: „Die interdependenten und sich selbst regulierenden Märkte, auf denen eine integrative Preisbildung erfolgte, erzeugten in ihrer Summe eine Marktwirtschaft.“ (S. 1014–1015).

Die sehr umfangreiche Arbeit ist in zwei Bänden publiziert, in denen der Text durch zahlreiche übersichtliche Tabellen und Grafiken sowie viele hilfreiche wörtliche Wiedergaben der genutzten Texte ergänzt ist. Eine umfangreiche Quellenkonkordanz sowie ein noch umfangreicheres Literaturverzeichnis runden die Bände ab.

Insgesamt ist das Werk sowohl aufgrund der Fülle an spannendem und bislang viel zu wenig rezipiertem Material als auch aufgrund der umfangreichen und methodisch exemplarischen Analyse eine wirkliche Bereicherung für die Forschung zur antiken Wirtschaftsgeschichte. R.s systematischer und erkenntnisgeleiteter Umgang mit der großen Masse an Zeugnissen und Details, bei dem er nie die eigenen Leitfragen aus den Augen verliert, ist beeindruckend. Die leider immer noch nicht abgeschlossene Diskussion um ‚das Wesen der antiken Wirtschaft‘ als ‚modern‘ oder ‚primitiv‘ erhält hier außerdem einen weiteren wichtigen Beitrag, der das Pendel definitiv in Richtung der Modernität ausschlagen lässt.