Thukydides: Der Peloponnesische Krieg

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Titel
Der Peloponnesische Krieg.


Herausgeber
Weißenberger, Michael
Reihe
Sammlung Tusculum
Erschienen
Berlin 2017: de Gruyter
Anzahl Seiten
1443 S.
Preis
€ 99,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Will, Seminar für Alte Geschichte, Universität Bonn

Der letzte Autor von Rang, der Thukydides im Original las, war Plutarch. Mit ihm endet die Wirkungsgeschichte des Thukydides im Westen für weit mehr als ein Jahrtausend. Als sie sich im 15. Jahrhundert wieder zu entfalten beginnt, ist es eine, die in erster Linie auf Übersetzungen beruht. Mit diesen hatte Thukydides Glück wie nur wenige andere griechische Schriftsteller, namentlich wieder Plutarch. Die Geschichte der Thukydides-Übersetzungen ist eine Erfolgsgeschichte. Die erste Übertragung des aus Byzanz wieder in den Westen gelangten Textes stammt von Lorenzo Valla, wurde 1452 vollendet, aber erst 1513 in Paris gedruckt – zu spät übrigens für Machiavelli. Nur zwölf Jahre später erschien eine französische Ausgabe und 1628 die englische des Philosophen Thomas Hobbes, der in Thukydides den politischen Denker entdeckte. In deutscher Sprache war Thukydides, „der aller theurest vnd und dapfferest Historienschreiber von dem Peloponnenser Krieg“, gedruckt in der „Kayserlichen statt Augspurg“, bereits seit 1533 zu lesen. Übersetzt hatte ihn der Colmarer Ratsherr Hieronymus Boner, freilich auf der Basis der lateinischen Ausgabe von Valla, die 1527 in Köln ein weiteres Mal ediert worden war. Der reich illustrierte Band erwies sich in vielen Teilen freilich eher als eine Paraphrase denn eine Übersetzung. So dauerte es bis zum Jahre 1760, bis der Theologieprofesser Johann David Heilmann die erste auf dem Original beruhende Übersetzung publizierte. Sie erlebte mangels geeigneter Nachfolger in sprachlich modernisierter Form noch ab dem Ende des 19. Jahr­hunderts mehrere Auflagen. Der Bedeutung entsprechend, die Thukydides in der Forschung gewonnen hatte, erschienen bis zum Ende des Kaiserreiches (zuletzt 1912 August Horneffer und 1917 Theodor Braun) mehrere neue Übersetzungen. Danach stieg die Neigung, sich auf eine Art Best of-Ausgaben zu beschränken. Die oft ermüdenden militärischen Passagen, vielleicht auch die Finanzpolitik der Verlage, trugen dazu bei, nach dem Vorbild von J. J. Reiske (1761) Auswahlübersetzungen zu veröffentlichen oder sich ganz auf die Reden zu konzentrieren, so Rudolf Binding 1937, Heinrich Weinstock 1938, Otto Regenbogen 1949, Josef Feix 1959 oder Helmuth Vretska 1966 (2000 überarbeitet und ergänzt von Werner Rinner zu einer Gesamtausgabe).

Die große Zäsur bildet der Schweizer Gymnasiallehrer Georg Peter Landmann (1905-1994), der 1960 seine epochale Übersetzung veröffentlichte, die auf langjährigen Vorarbeiten ruhte. Sie erschien in der renommierten Tusculum-Reihe, die 2013 vom Verlag De Gruyter übernommen wurde, der nun das Wagnis auf sich nimmt, eine neue zweisprachige Übersetzung, erarbeitet von dem Rostocker Altphilologen Michael Weißenberger, zu präsentieren. Die erste Neuerung ist formaler Art: Aus dem Nachwort der Landmann-Ausgabe ist ein deutlich umfangreicheres Vorwort geworden. Es stammt nicht vom Übersetzer, sondern aus der Feder des Gräzisten Antonios Rengakos und gibt – etwas aktualisiert – im Wesentlichen das wieder, was er 2011 im Handbuch der griechischen Literatur der Antike, Bd.1 S. 381-417 schrieb. Das ist für einen Thukydides-Kenner vielleicht enttäuschend, aber kein grundsätzliches Manko, denn die Einführung ist kenntnisreich, informativ und lesefreundlich gegliedert. Die sich anschließende ausführlich Inhaltsangabe beruht auf der achtbändigen Thukydides-Edition von Johannes Classen und Julius Steup, der griechische Text folgt der Oxford-Ausgabe von Stuart Jones. Weißenberger begnügt sich zu Recht mit wenigen Abweichungen, Überlieferungsvarianten oder Konjekturen. Auch die Anmerkungen und das Literaturverzeichnis sind erfreulich sparsam. Zu danken ist dem Übersetzer ebenso, dass er darauf verzichtet, das Erfordernis einer Neuübersetzung zu begründen. Auch die besten Übersetzungen veralten, und die von Landmann geht zu Teilen noch in die vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts zurück.

Töricht wäre es, angesichts einer so großen Übersetzungsleistung, wie sie Thukydides erfordert, nach einzelnen Übersetzungsfehlern zu suchen. Dem einen, den der Rezensent findet, stehen hundert Irrtümer gegenüber, die ihm unter­laufen wären. Am ehesten charakterisiert der Vergleich die neue Ausgabe. Landmann zeichnet Kürze aus, die bei aller Prägnanz auch Verständnisschwierigkeiten in Kauf nimmt. Das wird zwar Thukydides gerecht – der Historiker drücke sich mit Absicht dunkel aus, schrieb bereits ein antiker Scholiast (Mark. 35) –, erschwert aber doch die Lektüre. Demgegenüber ist Weißenberger vor allem um Verständlichkeit und um das Zeitgemäße bemüht. Er nimmt, um der Mehrfachbedeutung eines griechischen Ausdruckes gerecht zu werden, auch Modernismen und längere Satzgefüge als der auf Kürze bedachte Vorgänger in Kauf. Dies fördert zweifellos die Lesbarkeit. Dass damit auch Interpretation verbunden ist, stört nicht, denn das ist das Wesen der Übersetzung. Sichtbar wird die Veränderung am Umfang des Textes. Der Text Weißenbergers ist teilweise ein Viertel oder gar die Hälfte länger als derjenige Landmanns. Ein Beispiel mag das illustrieren. Die berühmte Unterscheidung zwischen Anlässen und Grund eines Krieges, die Thukydides in Kapitel 1.23 trifft, lautet – auf die alēthestátē próphasis, den tiefsten Grund oder die wahrste Ursache, bezogen – bei Ersterem: „Für die im tiefsten Sinne wahre, in der öffentlichen Diskussion aber am wenigsten manifeste Ursache halte ich nun allerdings den Umstand, dass Athen durch seinen ständigen und den Lakedaimoniern Anlass zur Furcht gebenden Macht­zuwachs diese in den Krieg gezwungen hat.“ Dagegen übersetzt Landmann: „Den wahrsten Grund freilich, zugleich den meistbeschwiegenen, sehe ich im Wachstum Athens, das die Spartaner zum Kriege zwang."

Souverän meistert Weißenberger eine andere Klippe. Übersetzungen hängen voneinander ab und fußen aufeinander. So fühlt sich der Übersetzer oft gezwungen, gekonnten Formulieren des Vorgängers auszuweichen, um nicht in den (hier falschen) Ruf des Kopierens zu geraten, und entschließt sich daher, eine sprachlich schlechtere Varianten zu bevorzugen. Mit der Wahl eines völlig anderen Konzepts entgeht die neue Übersetzung dieser Gefahr, welcher die ebenfalls gelungene von Vretska und Rinner noch ausgesetzt war. Das große Verdienst Weißerbergers gegenüber Landmann ist aber ein anderes. Das Thukydideische Werk teilt sich bekanntlich in Erga, die Faktengeschichte, und Logoi, die Reden. In letzteren wollte Thukydides nicht zuletzt seine rhetorische Meisterschaft demonstrieren, und nicht zufällig galt er, der Historiker, nebst dem Staatsmann Perikles als größter griechischer Redner der Antike. Landmann trug dieser Besonderheit Rechnung, indem er sich hier an die Sprache des Dichters Stefan George, den er verehrte, anzulehnen versuchte. Er sah selbst die Schwierigkeiten und bekannte, sein Text könne Lesern an vielen Stellen "zu schwer, willkürlich, künstlich" erscheinen. Weißenberger verzichtet auf das Ambitionierte seines Vorgängers, und so ver­lieren vor allem die schwierigen späten Reden das bisweilen Kryptische, das sie bei Landmann haben, und gewinnen für den Leser an Klarheit ohne an sprachlicher Brillanz einzubüßen.

Schließlich – eine Neuerung praktischer Natur – weist nun auch der deutsche Text die für Zitate unentbehrliche Paragraphenzählung auf, die bisher allein dem Originaltext und damit den Griechisch­kundigen vorbehalten war. Eine Thukydides-Übersetzung ist ein Jahrzehntprojekt, doch dieses hat sich gelohnt. Die neue Übersetzung ist, ohne dass sie diejenige von Landmann überflüssig macht, ein großer Gewinn.

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