Titel
The German War. A Nation Under Arms, 1939–45


Autor(en)
Stargardt, Nicholas
Erschienen
London 2015: Penguin Books
Anzahl Seiten
736 S.
Preis
€ 20,59
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Norman Domeier, Vienna Wiesenthal Institute (VWI)

Gut 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die Historisierung dieses Ereignisses, so scheint es, beinahe abgeschlossen. Oral history ist bald nicht mehr möglich, zumindest nicht für den aktiv fragenden Historiker. Woran es nach wie vor mangelt – anders als beim Ersten Weltkrieg, wo Christopher Clark mit seinen „Schlafwandlern“ methodisch den richtigen Weg eingeschlagen hat – sind vergleichende Studien, die am Ende Spezifika von Deutschen, Amerikanern, Briten, Franzosen, Italienern usw. liefern, die nicht nur aus zu engen Nationalgeschichten destilliert wurden.

Nicholas Stargardt will in seinem Buch „Der deutsche Krieg“ das Augenmerk auf gewöhnliche Deutsche legen. Seine Grundfragen: Was war der Krieg, den sie bis zum bitteren Ende kämpfen zu müssen glaubten? Wie beeinflusste das Kriegsglück, von den Blitzkriegen über Stalingrad bis zu den Zerstörungen vieler deutscher Städte durch Bombenangriffe, die Ansichten und Erwartungen der Deutschen? Wann erkannten diese, dass sie einen genozidalen Krieg betrieben, einen Krieg, der den Völkermord an den europäischen Juden einschloss? Ob diese Fragen in den unzähligen Studien zum Zeiten Weltkrieg wirklich noch nicht erhoben und beantwortet worden sind, wie Stargardt dies zur raison d’être seines Buches stilisiert, sei dahingestellt. Vielleicht sind die zahlreichen Lokal- und Regionalstudien, aus denen sehr wohl und recht präzise wechselnde Haltungen und Stimmungsschwankungen der Bevölkerung deutlich werden, zu zerstreut oder abgelegen publiziert, die SD-Berichte, mit denen auch Stargardt arbeitet, zu sehr Quellenmaterial.

Stargardt geht es um die „subjective dimensions of social history“ (S. XXIII). Dabei will er Breite und Tiefe von Erzählung und Analyse erreichen. Die Breite erzeugt er aus bekannten Veröffentlichungen zur Stimmungslage in NS-Deutschland, SD-Berichte, Feldpost-Überwachung, Zensurmaßnahmen, Propaganda- und Pressesprachregelungen. Die Tiefe konstruiert er aus einem Set von rund zwei Dutzend Personen aus allen möglichen Gesellschaftsschichten, die er etwas zu theatralisch als „Dramatis Personae“ einführt (S. XXVIIf.).

Hierfür hat er besonders Briefkorrespondenzen herangezogen, etwa des Paares Ernst Guicking und Irene Reitz aus Hessen, die über viele Jahre erhalten sind, um damit den Wandel in Haltungen und Stimmungen nachzuzeichnen. Entsprechendes Material hat Stargardt im Privatarchiv Walter Kempowskis (jetzt Akademie der Künste Berlin), im Feldpost-Archiv des Museums für Kommunikation in Berlin oder im Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen gefunden. Hinzu kommen vor allem Tagebuch-Eintragungen und Memoiren, wobei die Grenzen fließend verlaufen, wie im Falle der bekannten Journalistin Ursula von Kardorff. Neben den in der „Dramatis Personae“ aufgeführten Hauptprotagonisten, die repräsentativ für „das“ deutsche Volk stehen sollen, bedient sich Stargardt eklektisch bei einschlägigen Veröffentlichungen, aus denen der Mentalitätswandel der Deutschen während des Krieges hervorgeht, etwa bei William Shirers „Berlin Diary“ von 1941/42.

Die einzelnen Kapitel – „Defending the Attack“, „Masters of Europe“ oder „Total Deafeat“ – und Unterkapitel – „Winners and Losers“, „The Shared Secret“ oder „Digging In“ – sind chronologisch angeordnet. Für das Hauptziel des Buches, den persönlichen Sinngebungen und Selbstverortungen und ihren Wandlungsprozessen während des Zweiten Weltkrieges nachzuspüren, ist dies eine naheliegende Entscheidung. Allerdings stammen manche „O-Töne“ der Zeitzeugen bei genauerem Hinsehen aus der Zeit nach 1945 wie bei Kardorff bzw. sind vor 1945 bereits überarbeitet worden, wie bei William Shirers „Berlin Diary“. Gerade von Kardorffs „Berliner Aufzeichnungen 1942 bis 1945“ werden wenig quellenkritisch genutzt, obwohl bekannt ist, dass sie ihren Text nach dem Krieg geschönt hat. Editorisch fragwürdig ist, warum ihr Buch (erstmalig 1962 erschienen) in den „Sekundärwerken“ steht und nicht in den „Primärwerken“ aufgeführt wird, obwohl sich hier beispielsweise das „Diarium“ des Hans Georg von Studnitz „Als Berlin brannte“ von 1963 findet; ein Werk, das ebenfalls nach 1945 mit revisionistischer Absicht komponiert worden ist.

Die Stimmen der Guickings, Kardorffs und Shirers, oft im Original zitiert, verbindet Stargardt mit der stärker erzählerisch verarbeiteten Ebene der NS-Elite, der Hitler, Himmler und Goebbels. Diese Ebene bildet den eigentlichen roten Faden des Buches, insofern ist es mit den „subjective dimensions of social history“ (S. XXIII) nicht ganz so weit her wie behauptet. Spannend und kurzweilig zu lesen ist der Perspektiven-Mix von oben und unten in jedem Fall, er hätte sich nicht hinter einem sozialgeschichtlichen Rubrum verstecken müssen.

Der Holocaust ist, wie Stargardt betont, erst seit gut 25 Jahren zentral für die Betrachtung des Zweiten Weltkrieges. Wie die Deutschen in jenen Jahren über ihre Verwicklung darin nachdachten, teilweise sogar öffentlich, ist für ihn daher eine Schlüsselfrage (S. 4). Die Erklärung, warum viele Deutsche trotz ihres Wissens um den Judenmord den Krieg weiter betrieben oder unterstützten, wird schon auf den Seiten 6–8 geliefert. Für Stargardt hat den Deutschen schlicht ein „common sense“ gefehlt. Der von anderen Historikern beschworene Defätismus sei eben nicht proportional zu Siegen und Niederlagen auszumachen. Der Krieg blieb stets legitimer als die Nazi-Herrschaft selbst, so Stargardt (S. 8). Auch wenn es 1939 keine Euphorie gegeben habe, sei von Historikern lange vernachlässigt worden (weil es zu irrational und unglaubwürdig erschien), dass die meisten Deutschen 1939/40 durchaus an eine „nationale Selbstverteidigung“ gegen Machenschaften der Kriegsgewinner von 1918 und ihrer Verbündeten, etwa der Polen, glaubten (S. 16, 564). Für Stargardt ist der mentalitätsgeschichtliche Hauptgrund nach dem Kriegsausbruch 1939 eine manichäische Weltsicht des reinen Überlebenwollens. Da es keinen massenhaft verbreiteten Drang zu Kompromissen, Umgestaltungen des Regimes, etwa der Errichtung einer Militärdiktatur, oder (Separat-)Friedensverhandlungen gab, habe sich das Leben der Deutschen bis 1945 stets nur binär um Leben oder Tod, Sein oder Nichtsein, Alles oder Nichts gedreht. Dass die Verbrechen an den europäischen Juden für diese Grundeinstellung sogar eine affirmative Wirkung besaßen und von NS-Größen wie Göring gezielt für die Binnenpropaganda genutzt wurden (S. 548), um den Durchhaltewillen der Deutschen anzustacheln, ist allerdings keine ganz neue Erkenntnis. Bis heute nachweisbare Wahnvorstellungen, der Bombenkrieg der Alliierten sei die Rache des Weltjudentums für den Holocaust, wurden den Menschen bereits 1943/44 von der NS-Propaganda eingepflanzt. Sie demonstrieren, wie Stargardt zu Recht betont, den hohen Grad an Wissen um den Völkermord an den europäischen Juden bei den „normalen“ Deutschen.

Nicholas Stargardt hat ein kurzweiliges, gut geschriebenes und quellenmäßig interessant kompiliertes Lesebuch vorgelegt, das man historisch interessierten Freunden gerne schenkt. Die Statements der Zeitzeugen sind gefällig zusammengestellt, aber am Ende doch beliebig. Ihre Funktion liegt meist nur darin, den Erzählstrang von oben, von NS-Elite und politisch-militärischer Geschichte, von unten zu illustrieren. Zu selten werden die gewählten Zeitzeugen wirklich ernstgenommen, zu oft fehlt eine einbettende Analyse und Erklärung auf dem Stand der aufgeführten Forschungsliteratur. Gerade im opulenten Epilog wäre dies wichtig gewesen. Dort wird die Wehleidigkeit und Selbstbezogenheit der Deutschen, nach einer kurzen Mea-Culpa-Phase 1944–1946, in den Blick genommen. Viele Deutsche hielten sich bekanntlich recht bald, die Umfragen von Noelle-Neumanns Allensbacher Institut für Demoskopie sprechen eine klare Sprache, für die eigentlichen Opfer Hitlers, des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges.

Es mag stets ein wunder Punkt von NS-Geschichten wie „Der deutsche Krieg“ bleiben, die Perspektive zu sehr auf die Täter zu richten und die Opfer nicht deutlich genug zu Wort kommen zu lassen. Problematischer erscheint mir in diesem Fall, die Frage aufzuwerfen, was auf der Ebene mehr oder weniger gewöhnlicher Deutscher das spezifisch Deutsche am Zweiten Weltkrieg bildete, ohne eine Vergleichsperspektive wenigstens zu skizzieren. Was wusste ein gewöhnlicher Amerikaner wann über den Völkermord an den europäischen Juden und was dachte er in den Jahren 1941–1945 darüber? Aus bisherigen, noch zu erhärtenden Studien1 können wir feststellen: Bis zur Befreiung der ersten Vernichtungslager 1945 registrierte der durchschnittliche Amerikaner kaum bis gar nichts von irgendwelchen „atrocities“, „massacres“ und „pogroms“, über die sporadisch in kurzen Artikeln ohne Fotos auf den hinteren Seiten seiner Stammzeitungen berichtet wurde. Alles, was in der veröffentlichten Meinung der Alliierten zählte, war ein möglichst schneller und vollständiger militärischer Sieg über das nationalsozialistische Deutschland bei möglichst geringen eigenen Verlusten. Auch hier wirkte, wie in vermutlich allen großen Kriegen, eine manichäische Weltsicht des Leben oder Tod, Sein oder Nichtsein, Alles oder Nichts.

Anmerkung:
1 Vgl. Deborah E. Lipstadt, Beyond Belief. The American Press and the Coming of the Holocaust 1933–1945, New York 1993; Robert Moses Shapiro (Hrsg.), Why didn’t the press shout? American and international journalism during the Holocaust, Hoboken 2002; Laurel Leff, Buried by the Times. The Holocaust and America’s Most Important Newspaper, Cambridge 2005.

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