F. Beneke: Die Tagebücher I+III

Hatje, Frank; Smith, Ariane u.a. (Hrsg.): Ferdinand Beneke (1774-1848). Die Tagebücher II: 1802–1810 Göttingen 2019 : Wallstein Verlag, ISBN 978-3-8353-0912-8 7 Bde., 3876 S. € 128,00

: Die Tagebücher I (1792–1801). Hrsg. v. Frank Hatje. Göttingen 2012 : Wallstein Verlag, ISBN 978-3-8353-0878-7 5 Bde., 2802 S., 185 Abb. € 98,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Holger Böning, Deutsche Presseforschung, Universität Bremen

Niemals wohl ist den täglichen Aufzeichnungen eines gewöhnlichen Bürgers eine ähnliche editorische Anstrengung zuteilgeworden, wie hier in den inzwischen vorliegenden 10 von etwa 20 geplanten Bänden. Doch wenn man genauer schaut, dann ist dieser Bürger Ferdinand Beneke als vorzüglicher Chronist so gewöhnlich nicht, im Gegenteil: Seine Tagebücher stellen eine ganz ungewöhnliche und staunenswert reichhaltige Quelle zur Geschichte des deutschen und hanseatischen Bürgertums von der Französischen Revolution bis zum Vorabend von 1848 dar, sie bieten ein außerordentliches Leseerlebnis und ermöglichen ein intimes Eintauchen nicht nur in das alltägliche Leben eines intelligent-reflektierten und aufmerksam beobachtenden Autors, sondern auch in die gesellschaftlich-politisch-sozialen Entwicklungen einer bedeutsamen historischen Zeitspanne, zugleich in die gesamte Kultur und Lebenswelt des Bürgertums.

Mehr als 20.000 Einträge erstrecken sich über 56 Jahrgänge, allein in den ersten zehn Jahrgängen, so haben die Editoren gezählt, finden 5.700 Personen Erwähnung, darunter viele berühmte Zeitgenossen, aber eben und vor allem auch Kaufleute, Theologen, Schriftsteller, Publizisten, Ärzte, Handwerker und Hausbediente mit ihren Ehefrauen, Töchtern, Schwestern und Witwen, die – wie Frank Hatje in seinem hundert Druckseiten umfassenden vorzüglichen Beitrag zur jetzt erschienenen dritten Abteilung der Tagebücher „Leben und Ansichten des Ferdinand Beneke, Dr.“ mit Recht betont – in Archiven und Bibliotheken ansonsten so gut wie keine Spuren hinterlassen haben. Verzahnt mit dem Tagebuch sind instruktive Beilagen und Briefe, die, auch dies in der Editionsgeschichte außergewöhnlich, die täglichen Notizen vertiefen, erweitern und ergänzen. Dass dem Zeitraum von 1792 bis 1801 nun zunächst der von 1813 bis 1816 folgt, ist in der Erwartung der Editoren begründet, dass das 200jährige Jubiläum der Befreiungskriege und des Wiener Kongresses mit vertieften Forschungsanstrengungen verbunden sein würde, für die die Tagebücher Benekes anregend sein könnten. Eine andere Ursache für diese Entscheidung liegt daran, dass es mit diesem Editionsprojekt wie mit fast allen anderen Forschungsgroßprojekten geht: Die zeitlichen Schätzungen waren trotz aller Antragslyrik (das Ende der Edition war auf H-SOZ-KULT einst für 2008 angekündigt worden1) mit den Realitäten nicht in Einklang zu bringen. Der auf einen textkritischen Kommentar verzichtenden Buchfassung soll eine digitale Ausgabe folgen, die einen solchen enthalten und darüber hinaus mit komfortablen Suchfunktionen versehen sein wird. Jeder, der selbst einmal eine Edition betreut hat, erkennt sofort, mit welchem Aufwand und mit welcher Sorgfalt hier mit den Texten Benekes umgegangen wurde.

Auf den großen Wert der Tagebücher hat bereits Arno Schmidt hingewiesen, auch Historiker, unter ihnen Franklin Kopitzsch oder Joist Grolle haben darauf aufmerksam gemacht und dazu beigetragen, dass sie nun durch private Förderung an die Öffentlichkeit kommen und der Forschung nützlich sein werden. Der Leser begegnet dem Tagebuchverfasser zuerst als achtzehnjährigem Studenten und Freimaurer in den aufgeregten Jahren nach der Französischen Revolution. Mit jugendlich-ungestümen Tagebucheinträgen wie „Schade überhaupt, d[a]ß von uns die Guillotinezeit noch so fern ist, wo der Unterdrückte vor dem Richterstuhl seiner Nation klagen und sein Wehe über die verruchten Usurpateurs aller Volksgewalten rufen darf“ (Bd. I, 1, S. 63) bezieht der Autor als Mitglied eines geheimen „Freyheitsklubs“ mehr als deutlich Position, seine Sympathien mit der französischen Sache schwinden selbst mit der Hinrichtung Ludwigs XVI. nicht, er gerät in den Ruf, „ich sey ein Jacobin“, doch bereits 1794 wünscht er, es möchten „alle Bluthunde, u. Anarchisten, also die Jakobiner!“ sterben (Bd. I, 1, S. 113, 279). Als Student der Rechts- und Kameralwissenschaften an den Universitäten Rinteln und Halle sowie 1793 bis 1795 als Referendar der Provinzialregierung im Fürstentum Minden hat er eine höchst kritische Haltung zu den preußischen Verhältnissen, die durch die beständig erfahrene Zurücksetzung aufgrund seiner bürgerlichen Herkunft noch verstärkt wird (siehe dazu einen Brief an Thomas Jefferson in Beilagen 1792–1801, S. 111–113). Mitleid hat er „mit der ärmsten Klasse von Menschen, welches sie so nur dem Nahmen, u. der Gestalt nach sind“, auch ihnen gesteht er ein Recht auf Genuss des Lebens zu, auf Vermehrung ihrer Kenntnisse, auf Aufklärung ihrer Vernunft, die man ihnen absichtlich verweigere (Bd. I, 1, S. 65). Immer wieder denkt er darüber nach, auszuwandern in ein Land seiner Sympathie, nach Frankreich oder Nordamerika (etwa Bd. I, 1, S. 117, 134, 148), am Ende findet er nach der Promotion zum Dr. jur. in Göttingen eine Heimstatt in Hamburg, deren Bürger er 1797 wird.

Der Weg dahin ist nicht leicht, nur weil gute Freunde ihm immer wieder Geld leihen, kann er die ersten zwei Jahre durchhalten. Aber es charakterisiert sein Selbstverständnis als Kaufmannssohn und Bürger, dass er trotz seiner Schulden und regelrechter Hungertage nie auf Bediente verzichtet. Anschaulich vermitteln Benekes Berichte das geistige und kulturelle Leben in der Hansestadt. Man lernt, in welche Netzwerke man Eingang finden muss, um sich in der Stadt eine Existenz aufzubauen und als Advokat sein Brot zu finden. Zentral ist 1797 die Mitgliedschaft in der Patriotischen Gesellschaft, an deren Projekt einer Allgemeinen Armenanstalt Beneke bald als Armenpfleger Anteil hat – Entreebillet in den verfassungsmäßigen cursus honorum, wie es in Begleitband I heißt (BB I, S. 271). Sehr bewusst ist dem Tagebuchschreiber etwa, dass „alle die Arbeiten, welche (ich) für die Damthorschule im Nahmen der Menschheit umsonst hatte“, sich nach und nach belohnen „durch manche dad[ur]ch erworbene Bekanntschaften“ (Bd. I, 2, S. 487). Zugleich gilt die Patriotische Gesellschaft ihm aber als Bürgerschule zur „Vermehrung der Vaterlandliebe“ und Vereinigung zu gemeinnützigen Aktivitäten mit Augenmaß (ebd. S. 252f.). Für die Kultur der Geselligkeit, an der Beneke in Bremen wie in Hamburg als jugendlich-frischer, geistreicher und gern gesehener Gast in zahllosen Familien und verschiedenen Organisationen Anteil hat, sind neben der gemeinnützig-aufklärerischen Gesellschaft weitere Vereinigungen wichtig, die Freimauerlogen etwa, Lesegesellschaften, verschiedene Klubs und die Gesellschaft Harmonie, auch aber kulturelle Veranstaltungen, Theater und Konzerte.

Differenziert beschreibt Beneke auch die politischen Haltungen der Hamburger Bürger, beispielsweise die sehr unterschiedlichen Auffassungen über den Umgang mit den Juden in der Stadt oder über den Charakter von Rechtswesen und Strafjustiz. Als Vorbild gelten ihm Männer von „Bescheidenheit u. Humanität“, freimütige und natürliche Republikaner, die als Feinde aller Vorurteile und ohne Zaudern mit Energie Verbesserungen angreifen, wo sie nötig sind. Dabei ist ihm wichtig, dass Vaterlandspflicht nicht „über die ewigen, süßen Pflichten der Natur“ gehen darf; „Krieg den Tyrannen!“ schwört er sich noch 1798, „Sie tragen Kronen oder Senatorengewänder“; auch Mitgefühl mit den Armen, deren Lebensverhältnisse in der großen Stadt er gut kennt, ist ihm zu eigen: „Diese Gänge, Höfe, Säle, usw. sind eben soviel finstre, ungesunde, elende Hölen, in welche die Menschen, wie in Sklavenschiffen, oder Heringstonnen bey einander gepackt, u es ist unglaublich, wie viel davon in einem einzigen Gange wohnen“ (Bd. I, 2, S. 487, 363, 395, 389).

Starken Anteil hat Beneke 1799 gemeinsam mit seinem Bremer Freund Johann Smidt an der Entstehung des Hanseatischen Magazins, beginnend mit den konzeptionellen Diskussionen, der Werbung von Subskribenten bis zum Abfassen von Beiträgen für diese Zeitschrift, die hanseatischen Geist und eine engere Zusammenarbeit der Hansestädte befördern sollte, ein Anliegen, das nach 1806 noch größere Aktualität erhielt. Alle die Schwierigkeiten sind hier erfahrbar, die mit Gründung und Organisation, Verbreitung und Aufrechterhaltung eines Periodikums verbunden waren und bis heute verbunden sind.

Mit der III. Abteilung (die Publikation von Abteilung II mit den Jahren 1802 bis 1810 ist für das Jahr 2018 geplant) der Tagebücher macht der Leser einen Zeitsprung von 1801 nach 1811. Beneke ist nun verheiratet, hat Kinder und ist in Hamburg etabliert. Auch seine politischen Ansichten haben sich entwickelt, Napoleon gilt ihm als Tyrann, vor allem als Verräter der revolutionären Ideale und republikanischen Errungenschaften, denen treu zu bleiben er sich stets bemüht. Hart hat die französische Besatzung der Handelsstadt zugesetzt, die am 1. Januar 1811 Hauptstadt des Departements der Elbmündungen und Teil des französischen Kaiserreiches wird. „Der Hamb. Korrrespondent, ohne Hamb. Wapen, machte den ersten politischen Eindruck. Kalt u. fremd, hauset im alten Hause der neue Herr“, so kommentiert Beneke (Bd. III, 1, S. 9). Mit den damit einhergehenden Veränderungen des Rechtswesens sieht er seine Existenz gefährdet, ist aber gleichwohl nicht bereit, sich den neuen Machthabern zu beugen oder Napoleon „als rechtmäßigen Herrn unsers Volks“ zu akzeptieren (Bd. III, 1, S. 27). Die Besatzung wird als Terror empfunden, „Noth; EinquartirungsDruck, DouanenGewalt, Gens d’armes Angst, alle diese Plagen gehen fast Haus bey Haus. Arretirungen sind in der Regel“ (Bd. III, S. 115). Von vaterländischer Schmach liest man nun, Menschen werden danach beurteilt, ob ihr Herz „deutsch“ ist, der neugeborene Sohn empfängt väterlichen Segen „unter den Deutschen“ und den deutschen Namen Otto Adalbert, das Vaterland erhält religiöse Konnotationen und wird als „süß“ empfunden, doch sieht Beneke auch mit Sorge, dass „sich jetzt das ganze Moralsystem manches Menschen in FranzosenHaß“ kleide, ja er beobachtet mit Sorge „blinde Wuth gegen die Franzosen (ohne eigentl. Liebe z. Vaterlande)“ (Bd. III, 1, S. 189, 250, 309, 478, 361, 512). Beneke hat Teil an den militärischen Kämpfen gegen Frankreich – „am allgemeinen RevolutionzGebrause der Völker, aus welcher Gott Deutschlands Freyheit herrlich hervorkämpfen hieß“, doch wird er nie in das Geschrei des „Schlagt ihn tot!“ der von Kleist, Körner und Arndt einfallen, sondern für „milde Teutschheit und sanfte Menschlichkeit“ auch gegenüber dem Feind eintreten (Bd. III, 1, S. 681; BB III, 20f.). Noch kann der Tagebuchleser 1816 miterleben, dass der Traum von einer einigen „tugendhaften“ Nation ebenso unerfüllt bleibt wie der von der „läuternden Kraft der Flammen“ oder der Glaube an eine „lebendige, harmonische Masse wechselseitiger Liebe“, aus der „endlich eine deutsche Nazionalität hervorgehe“ (Bd. III, 1, S. 189). Die Ereignisse von 1813/14 wirken einschneidend auf die Entwicklung der politisch-religiös-philosophischen Ansichten Benekes, wie Frank Hatje im Begleitband III lesenswert darlegt und untersucht. Der Tagebuchschreiber sieht mancherlei mit der Romantik einhergehende Erscheinungen skeptisch und begreift diese als Rückfall in den Aberglauben, um selbst wichtigen Errungenschaften der Aufklärung und der ersten Revolutionsjahre verbunden zu bleiben.

Die Tagebücher sind eine unglaublich vielfältige und ergiebige Quelle für alle Dinge des Alltagslebens, für Preise, Kleidung, Lebensbedürfnisse, Tagesgestaltung und gesellschaftlichen Umgang. Man kann tatsächlich von enzyklopädischer Welthaltigkeit sprechen, die durch die Edition der ab 1811 die Tagebücher quantitativ übertreffenden Beilagen und Anlagen noch gesteigert wird und sich oft durch sie überhaupt erst erschließt (BB III, S. 9). In einer Welt ohne Telefon vergeht kein Tag, an dem nicht mehrere Besuche empfangen und abgestattet werden, gezählt haben die Editoren allein für die ersten drei Monate des Jahres 1799 weit über 1.500 Begegnungen mit mindestens 322 Personen (BB III, S. 53). Auch „Hummerseelen“ lernt der Leser mit Beneke kennen, „denen ihr Magen im Kopfe sitzt“, Bürger, denen der kleinste Vorfall an der Börse wichtiger ist „als Thatsachen, von denen das Wohl ganzer Nazionen abhängt“ (Bd. I, 2, S. 484). Briefe und Billets als Teil einer ausufernden Korrespondenz bestimmen den Alltag ebenso wie die tägliche Lektüre von Zeitungen und den wichtigsten aufklärerischen Zeitschriften sowie Theater-, Konzert- und Opernbesuche – es ist das Alltags- und kulturelle Leben der gebildeten Stände, in das der Leser geführt wird, deren integraler Bestandteil persönliche Begegnungen sind. Wie oft ist Beneke auf den Gärten befreundeter Familien außerhalb der Stadtmauern zu Gast, regelmäßig nimmt er sich die Zeit für die ihm nach der Lektüre des Faustschen Gesundheitskatechismus wichtige körperliche Bewegung durch Reiten oder Spaziergänge, die auf dem Wall Hamburgs wiederum mit Begegnungen und Plaudereien verbunden sind (Bd. 1, 1, S. 300f.).

Da Beneke als Student und Referendar wie als Hamburger Bürger recht häufig reist, erfährt man bis in die Details über die Post- und Verkehrsverhältnisse, ja, man kann Reisen von Stunde zu Stunde in ihrer ganzen Beschwerlichkeit miterleben. Eindrücklich wird durch die Schilderungen, was es bedeutet, sich – oft nur notdürftig gegen das Nass von oben und gegen Kälte geschützt – bei schlechtem Wetter und auf ungegründeten Wegen fortzubewegen, auf denen die Pferde schnell ihre Kraft verlieren und jeglicher Wegweiser fehlt, auf grobe Wirte zu stoßen, die nur verlauste und verwanzte Übernachtungsstätten anzubieten haben, aber auch unterhaltsame Reisebekanntschaften zu schließen, die zu Freundschaften werden. Anschauliche Stadt- und Landschaftsbeschreibungen des auch mit dem Zeichenstift seine Erinnerungen Verewigenden sorgen ebenso für kurzweilige Lektüre wie ungezählte Beobachtungen, die dem heute in Düsenjetgeschwindigkeit von Ort zu Ort Reisenden, ja selbst schon dem Fahrradfahrer verborgen bleiben müssen. Mancherlei vermittelt sich dem Leser eher nebenbei, beispielsweise die in Zeiten des E-Mailverkehrs wieder vertraute Selbstverständlichkeit, mit der die Zeitgenossen in Preußen davon ausgingen, dass der Briefverkehr nicht sicher war, auch aber, in welchem Maße die verschiedenen gesellschaftlichen Stände voneinander getrennt waren oder wie das Lebensgefühl durch die alltägliche Erfahrung geprägt war, dass jederzeit Krankheiten zum Tode und der Verlust geliebter Menschen erwartet werden mussten. Jede Geburt ist eine Schlacht gegen den Tod, so empfand es Beneke (Bd. I, 2, S. 461). Da war dann die Impfung der natürlichen Pocken, wenn bei deren Inokulation zwei von zehn Kindern starben, keine Frage der moralisch-patriotischen Haltung mehr, sondern erschien es stattdessen als väterliche Pflicht, darauf zu hoffen, dass die fast unvermeidlichen Blattern allenfalls glimpfliche Schäden anrichten würden. Auch über die Geschlechterbeziehungen erfährt man manches, über den Genuss des ungezwungenen Umgangs mit „Frauenzimmern mit Verstande“, ein einziges Mal über einen Bordellbesuch, „ohne unsre Lippen an den Becher gedungener Wohllust zu setzen“, und eine sexuelle Begegnung – „Die erste Schäferstunde seit 2 Jahren und die sechste meines Lebens“ (Bd. I, 1, S. 104, 2, S. 54f.) –, doch auf fast jeder Seite über den durch Konventionen geregelten Umgang mit bürgerlichen heiratsfähigen jungen Frauen, der stets von der Suche nach einer passenden Ehefrau begleitet war, aber auch von Liebeleien, dem heimlichen Drücken einer Hand oder einem erheischten Kuss.

Vorzüglich ist der Autor über die Zeitereignisse informiert, das Lesen von Zeitungen und Zeitschriften, wozu in den Beilagen überaus interessante Rezeptionszeugnisse zu finden sind (Beilagen 1792–1801, S. 207f.), ist ihm so selbstverständlich, dass es nur ausnahmsweise erwähnt wird, wenn er etwa bemerkt, heute habe ihm das Lesen der Zeitung viel Vergnügen gemacht, da sie nicht nur Nachrichten über Siege der Franzosen, sondern auch Beweise enthalten habe, „daß die neue Religion der Vernunftempelianer [!] die herrlichsten Würkungen im Innern des Landes hervorbringt“ (Bd. I, 1, S. 142). Widerwärtig ist ihm das „Demokratisieren für Geld“, für das ihm Rebmann mit seinen Journalen Beispiel ist (Beilagen 1798–1801, S. 215). Regelmäßig rezipiert er auch ausländische Blätter, beispielsweise das mit großem Interesse an den amerikanischen Verhältnissen wahrgenommene Baltimoresche Wochenblatt; im Bremer Museum, im Lesezimmer der Hamburger Gesellschaft Harmonie oder später auch in der Börsen-Halle, Treffpunkte der aufgeklärten Bürger, findet Beneke „alle deutsche, viele französ. u. engl. periodische Schriften, u. öffentl. Blätter“ (Bd. I, 1, S. 155, 161; III, I, S. 278f.). Unvergesslich der Bericht von einer Reise, die Beneke 1792 auch in ein preußisches Gasthaus führt, in dem er das Vorlesen des ersten Verhörs Ludwigs XVI. aus der Zeitung und die sich daran anschließende Diskussion erlebt (Beilagen 1792–1801, S. 57). Der fast tägliche Gang ins Kaffeehaus – so wichtig wie der zum Rathaus und zur Börse – lässt diesen Ort mit dem Lesen, Vorlesen und Diskutieren der Zeitungsmeldungen als wichtige Institution öffentlicher Meinungsbildung erkennbar werden, selbst während der Franzosenzeit, da es in Hamburg praktisch keine Zeitungen mehr gab, sondern nur noch Intelligenzblätter als „Satyre auf alle Intelligenz“, fand man hier Unterrichtung (Bd. III, 1, S. 249). Bemerkenswert, wie das fast tägliche Lesen literarischer Werke zum Leben gehört, der intime Umgang mit Jean Paul etwa, die Auseinandersetzung mit Goethe, Schiller, dem für empfindsame Leser erfundenen Ossian oder mit Lessings Nathan der Weise, auch, wie didaktische Konzepte für das Theater, die moralische Besserung und Läuterung zum Ziel haben, zum Maßstab des Urteilens beim alltäglichen Theaterbesuch geworden sind.

Am Ende meint der Rezensent: Was für eine Leseleistung! Aber welche Leistung erst der Editoren, die hier einem bedeutenden Chronisten eine Sorgfalt zugewandt haben, die sonst nur große Dichter erfahren. Wer mit dem 18. Jahrhundert und den revolutionären Erschütterungen an dessen Ende vertrauter werden möchte, wer den Wandel im frühen 19. Jahrhundert miterleben will und in das Alltagsleben fern von theoretischen Verallgemeinerungen, hinter denen das Leben nicht mehr erfassbar ist, eintauchen möchte, wer die Alltagssorgen von Menschen vor zwei Jahrhunderten kennenlernen will, dem sei die Lektüre dieser Tagebücher mit ihren so überaus reichhaltigen Beilagen und Anhängen sehr anempfohlen!

Anmerkung:
1 Vgl. Tagungsbericht: Ferdinand Beneke: Tagebücher und Briefwechsel 1792-1848. Stand und Perspektiven der Edition und der Forschung, 19.03.2004 – 20.03.2004 Hamburg, in: H-Soz-Kult, 13.04.2004, <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-416> (12.09.2016).

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