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Titel
„Was ist das Volk?“. Volks- und Gemeinschaftskonzepte der politischen Mitte in Deutschland 1917–1924


Autor(en)
Retterath, Jörn
Reihe
Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 110
Erschienen
Anzahl Seiten
462 S.
Preis
€ 89,95
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Michael Fahlbusch, Universität Bern

Begriffe wie „völkisch“ und die schier endlose Präponderanz des „Volks“ sind wieder en vogue. Politiker mittlerweile fast aller Parteien und Schattierungen bemühen sich, volksnah zu sein oder doch zumindest beanspruchen sie für sich, für das Volk zu sprechen. Hier greift die zu besprechende Arbeit ein, indem sie sich mit dem Kampf um die Deutungshoheit von Begriffen und ihren Praktiken in einer Krisenphase Deutschlands befasst. Die Arbeit entstand 2013 am Institut für Zeitgeschichte in München im Rahmen des Leibniz-Forschungsprojekts unter der Leitung von Heidrun Kämper und Peter Haslinger „Demokratiegeschichte des 20. Jahrhunderts als Zäsurgeschichte“ und war auf die frühen Weimarer Jahre fokussiert. Der Titel der Arbeit ist einem Leitartikel Friedrich Stampfers im „Vorwärts“ im November 1918 entlehnt (S. 137). Er verweist auf die Suche nach der Verortung demokratischer Parteien in der deutschen Bevölkerung. Doch auch dies hat eine längere Tradition: Nachdem er knapp 40 Jahre zuvor zum auditeur au conseil d’Etat, Beisitzer im Staatsrat, in französischen Diensten ernannt worden war, beantwortete Jacob Grimm auf dem Germanistenkongress von 1846 die Frage „was ist ein volk?“. Es sei ein „inbegriff von menschen, welche dieselbe sprache“ sprächen. Schließlich ordnete Grimm 1848 neben Lothringen und das Elsaß, das bilinguale Belgien, Holland und gar den viersprachigen Bundesstaat Schweiz ebenfalls in das Reich ein, denn sie seien „noch nicht unwiderbringlich entfremdet“.1 Offenbar wurden und werden „Volk“ und „Raum“ visionär nicht in politischen Grenzen gedacht, selbst wenn souveräne Staaten davon tangiert sind.

Methodisch operationalisiert der Autor in vier Kapiteln Begriffe wie „Volk“ und Komposita wie „Volksgemeinschaft“ und Derivate, die er auf die regierungstragenden Parteien SPD, DDP, DVP, Zentrum und deren parteinahe Zeitungen, dem „Vorwärts“ das Blatt der SPD, das linksliberale „Berliner Tageblatt“ und die liberale „Vossische Zeitung“ der DDP, die nationalliberale „Kölnische Zeitung“ der DVP und die katholisch-konservative „Germania“ eingrenzt. Der Autor versucht, Elemente der Diskursanalyse und der Begriffsgeschichte zu kombinieren. Eher als Kontrast dienen die extremen Gemeinschaftsvorstellungen der politischen Gegner (USPD, KPD, DNVP, Völkische, NSDAP). Der Autor orientiert sich dabei chronologisch auf die Umbruchphase vom Kaiserreich zur Republik bis 1918, die verfassungsgebende Phase, und die von politischen Ereignissen überschattete, bis 1924 währende Etablierungsphase. Als Quellenfundus dienen hauptsächlich die Leitartikel der jeweils den Parteien zugeordneten Tageszeitungen und Parlaments- sowie andere Reden von Politikern.

Das Kapitel „Volk bis 1914“ widmet sich dem etymologischen Rückblick und der Verwendung vor 1914: Die Entwicklung der Begriffe (Volk, Nation, Rasse, Masse, Stamm) verweist sowohl auf die Differenz zwischen Individuen oder Gruppen und teilweise sozial vertikalen Interessen, die der In- als auch Exklusion dienten. Des Weiteren treten Körpermetaphern wie „Volksseele“, „-körper“ oder „-geist“ auf, die auf einen rein ethnischen Volksbegriff rekurrieren. Das von Fichte von 1811 stammende Adjektiv „völkisch“ betrifft allerdings nicht den zitierten Zusammenhang des „einfachen Volkes“ (S. 39). Schon Fichte definierte in seinem germanisch-urdeutschen Volkspathos die Überlegenheitsmerkmale der imaginären ‚ursprünglichen‘ Deutschen, ihrer (Rasse)-Reinheit und absoluten Eigenständigkeit, die mit Xenophobie vermischt waren, als Abgrenzung zum „Fremden“: „,Deutsch‘ heißt schon der Wortbedeutung nach ‚völkisch‘ als ein ursprüngliches und selbstständiges, nicht als zu einem Andern gehöriges Bild eines Andern.“ Für deutsche Studenten mündete Fichtes Empfehlung darin, dass „wahre Undeutschheit und Ausländerei“ „auszurotten“ seien. Infolgedessen glaubten speziell die Burschenschaften, in den elitären, ritterlichen Hort allen urtümlichen Deutschseins aufzusteigen und als Gralshüter des Germanisch-Urdeutschen zu fungieren.2 Die Begriffe stellten im frühen 19. Jahrhundert politisch rassisch aufgeladene Kampfmittel für die nationale Wiedergeburt dar, welche nach der Etablierung der ersten völkischen Organisationen im Kaiserreich ihre Basis fanden. Hier zeigt der Autor sehr detailliert auf, wie vergeblich letztlich Versuche der SPD bei der Verabschiedung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1913 waren, den Begriff „Staatsbürgernation“ oder „Gesellschaft“ in die politische Diskussion einzubringen (S. 50–65).

Dies ändert sich erst im Verlauf des Ersten Weltkriegs. So zeigt Retterath, wie durch den Burgfrieden linke und linksliberale Stimmen das „Volk“ als „Demos“ verstanden. Die Forderung nach Demokratisierung blieb jedoch noch marginal, da rechte Parteien „Volk“ mehrdeutig in der Regel als identitätsstiftende Einheit in Anspruch nahmen und dabei überwiegend im Sinne des „Volkskörpers“ oder der „Gemeinschaft“ verwandten. Vom Pfad der christlicher Werte wich die katholisch-konservative „Germania“ allerdings ab, welche die Revolutionskomitees 1918 mit eliminatorischen und antisemitischen Äußerungen bloßstellte (S. 175–178, 366, 369). In der Tat hatte die „Germania“ bereits 1875 – auf dem Höhepunkt des Gründerkrachs im Kaiserreich – zusammen mit der konservativen „Kreuzzeitung“ und noch vor Beginn des Berliner Antisemitismusstreits - eine antisemitische Artikelserie aufgesetzt.3

Das nahende Kriegsende führt zum Auseinandertriften des Diskurses über das Volk. Der Autor schildert detailliert, wie sich diese Entwicklung im Sinne des „Ethnos“ bei den Rechten und des Volks im Sinne des „Demos“ bei der Regierungsmitte der künftigen Weimarer Republik sich auswirkte: Die Krise als Chance zu sehen anstatt am Weltkriegsende die verlorene „Einheit“ zu beklagen, bleibt nur der Mitte einschließlich Linksliberalen und Liberalen vorbehalten. So appellierte Scheidemann am 9. November 1918 an das „deutsche Volk“ als plebs und demos, während Liebknecht sich an „Arbeiter und Soldaten“ wandte (S. 133–136).

Sowohl in den im Kapitel 4, „Das Volk wird souverän“ als auch in dem wohl wichtigsten Kapitel 5 „‚Volk‘ in den Anfangsjahren der Weimarer Republik“ behandelten Zeiträumen durchliefen die vom Autor untersuchten Begriffe durchaus unterschiedliche Entwicklungen. Sei es während der Annahme des Versailler Vertrags, des Kapp-Putsches, der politischen Morde an Erzberger und Rathenau, der Besetzung des Ruhrgebietes als auch dem Hitler-Putsch: Die Akteure der regierungstragenden Parteien, hier eher die SPD und die Linksliberalen, verwendeten Volk, Nation, Gemeinschaft, während die Konservativen zu Gemeinschaftsvorstellungen und ständestaatlichen Ideen tendierten, wobei festzuhalten ist, dass in den politischen Lagern keine stringente Verwendung und Abgrenzung der Begriffe existierten.

In der Frage um die Annahme des Versailler Vertrags blühten die bereits in der Diskussion um die Verfassung eingeflossenen Antagonismen wie Minderheiten versus Volksgruppe wieder in ethnisch fundierten „Volkskörpern“- und biologischen Metaphern diversester Art auf. Sie sollten die kulturelle Überlegenheit der Deutschen in Ostmitteleuropa kolportieren (S. 204–209). Auch in der Folgezeit, den krisenhaften Jahren bis 1924, lassen sich selbst innerhalb der einzelnen Parteien durchaus unterschiedliche Verwendungen von Volk, Nation und Gemeinschaft feststellen, wobei aber in der Tendenz deutlich wird: In der SPD und bei den Linksliberalen wird „Volk“ tendenziell als „Demos“ verstanden; das Zentrum assoziiert dies mit christlichen Werten und unter dem Einfluss katholisch-jungkonservativer Intellektueller ständestaatlich; bei Nationalliberalen bliebt der Gebrauch in seiner Bedeutung ambivalent. Am Modebegriff der „Volksgemeinschaft“ wird dies sehr ausführlich gezeigt, welcher zuerst von der „Germania“ 1918 nicht nur kulturell, sondern auch rassisch interpretiert wurde (S. 234f.), bevor er neben der NSDAP in allen anderen Parteien in unterschiedlichster Weise Verwendung fand. Den regierungstragenden Parteien gelang es jedoch nicht, diese längst erfolgreich von den zentrifugalen Kräften der Weimarer Republik dominierten Begriffe mit einem demokratischen Inhalt zu füllen. Die Anlehnung an katholisch-jungkonservative holistische Termini, rechtsnationalistische und rassistische Dogmen blieb somit keineswegs nur der DNVP, den Völkischen oder der NSDAP vorbehalten.

Ein Desiderat bleibt eine Debatte, die die deutschen Historiker vor 16 Jahren führten: Während Friedrich Meinecke eindeutig als demokratischer Verfechter in der frühen Weimarer Debatte auftritt und mehrfach auch von Retterath zitiert wird, bleibt es um Hans Rothfels eigenartigerweise still. Dieser benutzte zwar auch „Volks“-Termini in nicht rechtsradikaler Façon, doch ist zu bezweifeln, dass er das „Volks-Ideologem“ ähnlich wie Meinecke verwandte. Wenn Rothfels von „Volk“ sprach, aber die Deutschen in ihrer sprachlichen und ethnischen Substanz meinte, ist er dann rechts, oder kann er auch Republikaner oder liberal-bürgerlich sein?

Die Relevanz der vorliegenden Studie erweist sich allemal: „Auch die Sprache der Politik kennt Fluchtbewegungen: Da werden Begriffe besetzt, umgedeutet, konstruiert, aufgebläht, demontiert. Der Kampf um Worte gerät zum Machtkampf.“4 Dass diese Worte in einer frühen Phase der neokonservativen Revolution der 1980er-Jahre hervorgehoben wurden, zeigt den aktuellen Bezug der vorliegenden Arbeit, nachdem gerade in jüngster Zeit kleinere Gruppen „wir sind das Volk“ skandieren und ihre Vorstellung als Vollstrecker eines vermeintlichen „Volkswillens“ in rabiater Form Ausdruck verleihen, während sich Regierungsvertreter immer weiter von ihrer ‚volksnahen‘ Basis zu entfernen scheinen. Dass diese kleinen Gruppen mittlerweile gestandene Parteien überflügeln, gibt zu denken.

Anmerkungen:
1 Klaus von See, Die Göttinger Sieben. Kritik einer Legende, Heidelberg 1997, S. 35f., 83f.
2 Johann Gottlieb Fichte, Bedenken über einen ihm vorgelegten Plan zu Studentenvereinen, in: Johann Gottlieb Fichte’s Leben und litterarischer Briefwechsel, hrsg. von seinem Sohne J.H. Fichte, 2. Teil, Sulzbach 1831, S. 147, 150.
3 Vgl. Paul W. Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Frankfurt am Main 1986, S. 13–15.
4 Helmut Kohl auf der Buchmesse in Frankfurt am Main im Oktober 1984.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/