C. Goschler u.a. (Hgg.): Raub und Restitution

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Titel
Raub und Restitution. "Arisierung" und Rückerstattung des jüdischen Eigentums in Europa


Herausgeber
Goschler, Constantin; Ther, Philipp
Erschienen
Frankfurt am Main 2003: S. Fischer
Anzahl Seiten
245 S.
Preis
€ 13,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Regula Ludi, Interdisziplinäres Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung, Universität Bern

In der Schlussdiskussion zu der Tagung, von der die vorliegende Aufsatzsammlung stammt, plädierte Jürgen Kocka für eine Verjährungsfrist bei Restitutionsfragen. Er warnte vor der Gefahr, dass im Namen der Gerechtigkeit neue Ungerechtigkeiten geschaffen würden (zitiert S. 225). Mit seinem Plädoyer für den Rechtsfrieden sprach Kocka in der Tat ein Dilemma der aktuellen Restitutionskonjunktur an. Je weiter das eingeklagte Unrecht zurückliegt, umso schwieriger ist die Frage nach Adressaten und Anspruchsberechtigten zu beantworten. Überdies hierarchisiert die Identifikation von rückerstattungspflichtigen Enteignungen historisches Unrecht, wie es die Reprivatisierungen in Osteuropa gezeigt haben: Der Entscheid, Restitution auf die kommunistischen Verstaatlichungen zu beschränken, verstellte die Aufarbeitung der Judenverfolgung ebenso wie der Vertreibung von Minderheiten nach dem Krieg. Vom Rechtsstandpunkt betrachtet ist dies umso stoßender, als solchen Entscheiden oft die Intention zugrunde lag, politische Loyalitäten und nationale Identitäten zu festigen, mit andern Worten: Reprivatisierungen waren von ähnlich gelagerten Motiven geleitet wie einige der Verfolgungsmaßnahmen, welche von der „Wiedergutmachung“ ausgeschlossen blieben.1

Das Plädoyer für Verjährungsfristen wirft aber auch die Frage auf, ob im Namen des Rechtsfriedens nicht Unrecht reproduziert wird. Restitution kann - das ist an sich eine Binsenwahrheit – den Rechtsbruch nicht rückgängig machen. Doch sie impliziert eine Verurteilung des verübten Unrechts und vermittelt so wichtige Signale für die Geltung von Menschenrechten in Gesellschaften, die mit den Folgen von staatlichen Verbrechen konfrontiert sind. Umgekehrt geht ihre Unterlassung häufig einher mit der Weigerung, sich der Vergangenheit zu stellen.

Dass es sich dabei um ein fundamentales Problem im Anschluss an die Enteignung und Ermordung der europäischen Juden handelt, zeigt die neuere Forschung. Die Nachkriegsrestitution war derart mangelhaft und für die Überlebenden mit so vielen Schikanen verbunden, dass es keine Übertreibung ist, von einer zweiten Verfolgung zu sprechen. Das erklärt die emotionale Aufladung der jüngsten Restitutionskampagne. Dieser zweiten Restitutionswelle sind auch die intensiven, meist staatlich angeregten Untersuchungen zu der Enteignung der Juden zu verdanken. Der vorliegende Sammelband unternimmt den Versuch, diese neuen Erkenntnisse zu synthetisieren. Dabei rückt neben der materiellen Bedeutung der „Arisierungen“ zunehmend auch deren symbolische Dimension in den Vordergrund: Enteignungen vernichteten unersetzbare immaterielle Werte wie kulturelles Wissen und berufliche Qualifikationen oder die in persönlichen Gegenständen materialisierten emotionalen Bindungen.

Ronald W. Zweig (S. 169-183) untersucht diese Mehrdeutigkeit von Eigentum am Beispiel des „ungarischen Goldzuges“ (Raubgut, das die Deutschen 1945 Richtung Österreich verfrachten ließen), um den sich noch heute Legenden über den Reichtum der Juden ranken. Kurz nach Kriegsende entbrannte ein Streit über den Verbleib der Beute, da die aufgefundenen Vermögenswerte weit hinter kursierenden Schätzungen zurückblieben. Bald machten Gerüchte die Runde, alliierte Truppenmitglieder hätten sich am Raubgut bereichert. Ohne diese Verdächtigungen völlig auszuräumen, legt der Autor eine plausible Erklärung für die Diskrepanz zwischen geschätztem Wert und tatsächlichem Erlös vor: Der Mythos nährt sich primär aus der Tatsache, dass viele persönliche Gegenstände – Familienerbstücke, Kulturgüter, Schmuck - für ihre Eigentümer einen Erinnerungswert hatten, der den Marktpreis um ein Vielfaches überstieg.

Raubpolitik

Martin Dean (S. 26-40) interpretiert die „Arisierungen“ in Europa als „Lernprozess“ (S. 27), bei dem nationalsozialistische Funktionäre die im Reichsgebiet entwickelten und in Österreich perfektionierten Techniken in die besetzten Gebiete transferierten und dort in gerafftem Tempo umsetzten. Dabei fallen regionale Unterschiede ins Gewicht: Erfolgte die Beraubung der Juden im Osten parallel zu deren Ermordung, so fand sie im Westen innerhalb eines scheinlegalen Rahmens statt und erforderte einen beträchtlichen Verwaltungsaufwand, der ohne die Mitarbeit der ansässigen Bürokratie nicht zu bewältigen gewesen wäre.

Welche Rolle die Besatzungsstrukturen für die Ausplünderung der Juden in Frankreich, Belgien und Holland spielten, untersucht Jean-Marc Dreyfus (S. 41-57). Er stellt eine enge Korrelation zwischen der Effizienz von Enteignungsmaßnahmen und den Raten der deportierten Juden fest: Die Niederlande mit der höchsten Deportationsrate wies auch die höchste Arisierungsdichte auf. In Frankreich dagegen wirkte sich der Kampf der Vichy-Bürokratie gegen eine deutsche Durchdringung der französischen Wirtschaft hemmend auf das Tempo der „Arisierungen“ aus.

Im Gegensatz zu Westeuropa, wo die Deutschen mit gesetzlichen Bestimmungen das Vertrauen der an Eigentumstransaktionen beteiligten Personenkreise zu gewinnen versuchten, war die Enteignung der Juden in Polen und der Sowjetunion „von Anfang an durch mörderische Gewalt bestimmt“ (S. 60). Sie erfolgte, wie Dieter Pohl betont, meist durch die „physische Trennung des Eigentümers von seinem Eigentum“ (S. 63) und resultierte in der von den Besatzungsbehörden gezielt geförderten moralischen Desintegration der Gesellschaft.

Tatjana Tönsmeyers (S. 73-91) hervorragende Analyse der Enteignungsvorgänge in Rumänien, Ungarn und der Slowakei weist nach, dass die antisemitische Gesetzgebung der drei Satellitenstaaten von innenpolitischen Motiven bestimmt war. Die Konfiskation des jüdischen Eigentums diente überwiegend der Sicherung von politischer Loyalität. Von der Ausschaltung der jüdischen Konkurrenz profitierte der nichtjüdische Mittelstand, während die Unterstellung, die Juden hätten sich unrechtmäßig am nationalen Eigentum bereichert, bei der agrarischen Bevölkerung auf fruchtbaren Boden fiel. Dieser Umstand – die unter dem Vorwand sozialpolitisch begründeter Umverteilung vorgenommene Ausplünderung – behindert bis auf den heutigen Tag die öffentliche Anerkennung des den Juden zugefügten Unrechts.

Restitution

Jürgen Lillteicher (S. 92-107) fasst in seinem Beitrag zur Rückerstattung in Westdeutschland die Praxis ins Auge. Dadurch gelingt es ihm, die bisherige Konzentration der Forschung auf die Gesetzgebung aufzubrechen und die Restitution in den Kontext der deutschen Vergangenheitspolitik zu stellen. Zudem greift der Autor über das westdeutsche Beispiel hinaus, indem er eine Reihe von weiterführenden Fragen aufwirft, um Erkenntnisse aus der deutschen Restitutionsgeschichte für die vergleichende Forschung nutzbar zu machen.

Vergangenheitspolitische Überlegungen stehen auch bei Claire Andrieu (S. 108-133) im Zentrum. Die Autorin interpretiert die relativ erfolgreiche Restitution in Frankreich als einen Akt der Distanzierung vom Vichy-Regime, dem aber zugleich die Ablehnung der politischen Verantwortung für die Kollaborationszeit entsprach. Hingegen fällt ihre Bilanz zu der zweiten, von amerikanischen Akteuren initiierten Restitutionskampagne kritisch aus. Denn im Gegensatz zu jenen Staaten, in welchen der Restitutionsfrage eine Zünderfunktion für die Auseinandersetzung um den Holocaust zukam, waren in Frankreich die geschichtspolitischen Debatten von anderen Parametern bestimmt.

Es wird Aufgabe von weiterführenden Untersuchungen sein, den Eindruck zu prüfen, ob die Restitution in Frankreich für die Opfer befriedigender war als anderswo. Soweit der lückenhafte Forschungsstand verallgemeinernde Aussagen zulässt, zeichnet sich die Tendenz ab, dass diskriminierende Gesetze und bürokratische Hürden den überlebenden Juden fast durchwegs Steine in den Weg legten. In Osteuropa reduzierten die kommunistischen Verstaatlichungen den „Spielraum für Restitutionen auf null“ (S. 197). Ähnliche Wirkung hatten die Ausgrenzungsmechanismen in westeuropäischen Ländern. Rudi van Doorslaer zeigt (S. 134-153), dass die belgische Gesetzgebung, indem sie Juden den privilegierten Status von politisch Verfolgten verweigerte und die Staatsbürgerschaft zur Voraussetzung für Entschädigungsansprüche erhob, eine antisemitische Stossrichtung hatte. Die vor dem Krieg in Belgien lebenden Juden waren nämlich zur überwältigenden Mehrheit ausländische Staatsangehörige und gingen deshalb leer aus.

Ilaria Pavan (S. 154-168) weist nach, dass die italienische Bürokratie, entgegen landläufiger Meinung, die faschistischen Rassengesetze unerbittlich implementierte und dass es kaum zu Solidaritätsbezeugungen mit den verfolgten Juden kam. Für die Nachkriegszeit erlaubt der lückenhafte Forschungsstand kaum schlüssige Aussagen. Als Tendenz stellt die Autorin fest, dass die Nachkriegsgesetze die Diskriminierung der Juden fortsetzten, während sie für Erwerber von „arisiertem“ Eigentum günstig ausfielen.

In der Tschechoslowakei, das macht der Beitrag von Eduard Kubu und Jan Kuklík (S. 184-204) deutlich, scheiterte die Restitution schon früh an Kollektivierungsforderungen, die jüdische Eigentümer zu kapitalistischen Ausbeutern stempelten. Nach der Wende setzte die Eingrenzung von Restitutionsansprüchen auf die kommunistische Zeit die Diskriminierung der Juden fort. Erst in jüngster Zeit hat die tschechische Regierung einige krasse Ungerechtigkeiten korrigiert.

Unter den behandelten Beispielen sticht Polen als spezieller Fall hervor. Angesichts der besonders verheerenden Auswirkungen des Holocaust war die Restitution hier mit zahllosen Problemen konfrontiert, wie Dariusz Stola zeigt (S. 205-224). Aggressiver Antisemitismus hielt die wenigen überlebenden Juden davon ab, in Polen zu bleiben und ihr Eigentum zurückzufordern. So war es für die kommunistische Regierung ein Leichtes, auf Restitution gänzlich zu verzichten. Zudem wurde eine Diskussion über den Holocaust systematisch verhindert. Erst mit der Wende brachen Kontroversen auf, die bis heute von den Schwierigkeiten der polnischen Gesellschaft zeugen, sich mit der Verfolgung und Ermordung der Juden auseinander zu setzen.

„Arisierungen“ und Restitution lassen sich, wie die Herausgeber betonen, als „Indikatoren für die Beziehung verschiedener Gesellschaften zum nationalsozialistischen Deutschland“ und zur jüdischen Bevölkerung verstehen (S. 17). Gerald D. Feldman (S. 225-237) ist beizupflichten, dass in den 1990er-Jahren dem Eigentumsrecht die Funktion eines Katalysators bei der Aufarbeitung der Vergangenheit zukam. Dass aber gerade das Eigentum eine so zentrale Rolle spielt, widerspiegelt die an liberalen Marktprinzipien orientierte Wertehierarchie der aktuellen Menschenrechtspolitik. Restitution wäre deshalb – dies im Hinblick auf weiterführende Forschung – nicht nur an die Enteignungen anzubinden, sondern müsste in einem weiteren Kontext der „Wiedergutmachung“ und Vergangenheitspolitik reflektiert werden.

Es ist das Verdienst der Aufsatzsammlung, dem deutschsprachigen Publikum Forschungsresultate aus West- und Osteuropa zugänglich zu machen und die „Arisierungen“ ebenso wie die Restitution als eine europäische Erfahrung zu begreifen. Es ist allerdings bedauerlich, dass die neutralen Staaten von der Betrachtung ausgeklammert bleiben. Deren Berücksichtigung hätte sich umso mehr aufgedrängt, als die zweite Restitutionswelle eine nicht unbedeutende Facette der nationalsozialistischen Raubpolitik ins Blickfeld rückte: die Verwertung des Raubgutes. Die Frage nach deren Bedeutung ist aus der komparativen Forschung nicht mehr wegzudenken, will man sich Rechenschaft über die Möglichkeitsbedingungen der Ausplünderung der Juden ablegen.

Anmerkung:
1 Pogany, Istvan, Righting Wrongs in Eastern Europe, Manchester 1997.

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