B. Bigalke: Lebensreform und Esoterik um 1900

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Titel
Lebensreform und Esoterik um 1900. Die Leipziger alternativ-religiöse Szene am Beispiel der Internationalen Theosophischen Verbrüderung


Autor(en)
Bigalke, Bernadett
Reihe
Diskurs Religion 9
Erschienen
Würzburg 2016: Ergon Verlag
Anzahl Seiten
573 S.
Preis
€ 75,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Helmut Zander, Université de Fribourg

Die Jahrzehnte um 1900 waren ein Laboratorium kultureller und religiöser Pluralisierung in Deutschland, sind jedoch weiterhin nur begrenzt erforscht. Einige Studien zu „alternativreligiösen“ Gruppen und Personen existieren, aber Untersuchungen zu lokalen Milieus und ihren Vernetzungen fehlen bis auf wenige Ausnahmen. Wie fahrlässig es war, diese Lücke offenzulassen, zeigt Bernadett Bigalke in ihrer Untersuchung mit einer Vielzahl neuer und überraschender Ergebnisse. Ihr Gegenstand ist ausweislich des Titels die „Internationale Theosophische Verbrüderung“ (ITV) in Leipzig zwischen 1895 und 1914. Dabei handelt es sich um eine Gruppe, die in der Nachfolge Helena Petrovna Blavatskys eine übersinnliche geistige Erkenntnis versprach, dazu eine eigene Kosmologie und Anthropologie (etwa unter Einbeziehung von Reinkarnation) entwickelte und eine dichte Lebensführungspraxis etablierte (etwa durch Ernährungsvorschriften oder medizinische Angebote). Die ITV ist im Zweiten Weltkrieg bis zur Marginalität geschrumpft, aber die theosophische Tradition lebt in ihrer weitaus bekannteren Schwester, der Anthroposophie, bis heute fort.

Bigalke realisiert den Anspruch, die ITV in einen größeren Kontext („Szene“) einzuordnen, in einem umfangreichen Kapitel (missverständlich als „Praxis und Ideen: Geschichte der Institutionalisierung“ bezeichnet [S. 53]), in dem sie gleichzeitig existierende Gruppen und Bewegungen ausführlich darstellt. Eine nähere Begründung für diese Auswahl gibt sie nicht, wenngleich es sich durchaus um wichtige Gruppen handeln dürfte. In sechs Kapiteln beschreibt sie die Naturheilkunde-Bewegung, den Heilmagnetismus, den Spiritismus, die „Theosophische Gesellschaft in Leipzig“, die Mazdaznan-Bewegung und den Buddhismus. Diese Abschnitte sind nun weit mehr als eine Beschreibung des Kontextes der ITV, sondern beinhalten teilweise neue Forschungen zu bislang unaufgearbeiteten Feldern. Zur Mazdaznan-Bewegung etwa fehlen trotz ihrer Bedeutung (etwa für Johannes Itten und das Bauhaus) grundlegende Darstellungen. Höchst aufschlussreich ist auch der Abschnitt zur ITV selbst, der Informationen zur Programmatik, Praxis (etwa mit theosophischen „Andachten“, der „Aurenforschung“ oder als „Lesereligion“) und zu dem Verhältnis zu anderen theosophischen Gruppen enthält. Hier liegen Beiträge zur Forschung vor, die weit über das Thema der Arbeit hinausgehen.

Gleichzeitig produziert sie in diesem Kapitel zumindest zwei Schwächen. Zum einen nutzt sie für ihre zentrale Gruppe, die ITV, ausschließlich die Quellenbestände, die sie unmittelbar in Leipzig gefunden hat. Weitere Quellen, die teilweise leicht zugänglich sind und in der (auch ihr bekannten) Literatur benannt und benutzt wurden, sind nicht einmal erwähnt. Zum anderen häuft sie eine Masse an Material auf, das zwar spannend zu lesen ist, welches sie aber in der weiteren Analyse der Leipziger „Szene“ nur noch zu einem geringen Teil benutzt. Wenn man jedoch handbuchartig Material zusammenträgt, was zweifelsohne für künftige Forschungen sehr hilfreich sein wird, stellt sich die Frage nach den Kriterien, mit der die Informationen aus den Quellen und der vorliegenden Literatur ausgewählt wurden.

Das darauffolgende Kapitel zur „Vernetzung von Lebensreform und Theosophie in Leipzig“ ist das Herzstück ihrer Arbeit, in dem die Autorin das Material mit klugen methodischen Überlegungen (etwa zu Netzwerkstrukturen) verbindet. Mit ihren Ergebnissen revidiert sie eine Reihe von für selbstverständlich gehalten Positionen der bisherigen Forschung zu religiösen Alternativbewegungen und eröffnet spannende neue Perspektiven. Dazu drei Beispiele:

(1.) Sie kann eine Vorstellung widerlegen, die bis weit in kulturhistorische Standardwerke für die Zeit um 1900 und insbesondere in der Bürgertumsforschung verbreitet ist (bis in die Erforschung der Genese des Nationalsozialismus), dass die Lebensreformbewegungen von Gruppen getragen worden sei, die einen bildungsbürgerlichen Hintergrund besitzen und zu sozial bessersituierten Schichten zuzurechnen seien. Für Leipzig stimmt das in dieser Allgemeinheit nicht, in der ITV dominierte ein kleinbürgerliches Milieu (übrigens im Gegensatz zu einer konkurrierenden theosophischen Gesellschaft, aus der die Anthroposophie entstand).

(2.) Ihre Analysen nötigen zur Revision einer weiteren verbreiteten Vorstellung, der Wahrnehmung dieser Szenen, die von klaren Gruppengrenzen und möglicherweise exklusiven Zugehörigkeiten ausgeht. Hier kann die Autorin zeigen, dass Vernetzungen oder Mehrfachmitgliedschaften (sukzessive und parallele) diese Szene in einem hohen Ausmaß kennzeichneten; dies hat man immer wieder und irgendwie vermutet, aber nur selten nachgewiesen. Sie dokumentiert in diesem Zusammenhang auch, dass sich die Mitgliedschaft in der evangelischen Kirche und in alternativreligiösen Gemeinschaften keineswegs ausschloss. Die klassische Antwort, dass dies ein Ergebnis gesellschaftlichen Drucks gewesen sei, dürfte sich in dieser simplen Konfrontationsargumentation kaum aufrechterhalten lassen. Damit stellt sie die grundsätzliche Frage, ob nicht die religionswissenschaftliche Wahrnehmung viel zu sehr von christlichen Gemeinschaften geprägt ist, die mit starken Exklusivitätsansprüchen arbeiten. Wenn sich derartige Beobachtungen auf andere alternativreligiöse Gruppen übertragen lassen, nötigt dies zu einer weitgehenden Revision der bisherigen Forschung über „die“ Lebensreformbewegung.

(3.) Mit der Einbeziehung sozialer Praktiken in diesen Bewegungen, insbesondere in der ITV, bricht Bigalke unsere weithin dominierende ideengeschichtliche Analyse dieser Gruppen auf. Sie dokumentiert zwischen Vortragswesen, Konsumkultur, Gaststätten, Lesesälen oder der Verbreitung von Zeitschriften eine Vielzahl sozialhistorischer Praktiken. Hier lassen sich, eine weitere Konsequenz, Vernetzungen beobachten, die gleichfalls zu einer tiefgreifenden Überprüfung verbreiteter Vorstellungen derartiger Milieus nötigen, denn etablierte Analysebegriffe wie Klasse, Schicht oder Geschlecht greifen in diesen Netzwerkstrukturen nur begrenzt. Mit derartigen Ergebnissen ist dieses Kapitel einer der wichtigsten Beiträge zur Erforschung alternativreligiöser Gruppen der letzten Jahre.

In einem abschließenden Kapitel beansprucht sie, mit soziologischen Theorien ihr Material zu deuten. Dazu stellt sie eine Reihe von Autoren vor, die als Klassiker gelten (Ernst Troeltisch, Max Weber) oder in den letzten Jahrzehnten Theorien zur Interpretation alternativreligiöser „Institutionen und Akteure“ (S. 443) geliefert haben (Stefan Breuer, Markus Hero, Rainer Maria Lepsius, Andreas Pettenkofer u.a.). Dieser Abschnitt hinterlässt allerdings einen ambivalenten Eindruck. Man liest höchst angeregt, welche Theorieangebote zur Verfügung stehen, aber die Autorin nutzt ihr Material nur in homöopathischen Dosen, um mit diesen Theorien zu arbeiten. Sie weist vor allem auf deren Stärken hin, nutzt ihre eigenen Ergebnisse aber kaum, um auch deren Schwächen aufzuzeigen. In einer Schlussüberlegung entscheidet sie sich schließlich, den Milieubegriff auf die von ihr untersuchten Gruppen in Leipzig anzuwenden. Aber auch dies bleibt eine nachgetragene Perspektive, die, weitgehend unverbunden mit ihrer reichen Materialanalyse, die Arbeit beendet. Zudem taucht der als Lösung präsentierte Milieubegriff im Titel der Arbeit nicht auf, wo sie stattdessen von der Leipziger „Szene“ spricht, aber dieser Begriff wird nun wiederum im Text überhaupt nicht operationalisiert. Ebenso überraschend bezieht sie den Bewegungsbegriff nicht in ihre Analyse ein, obwohl er von den Gruppen selbst verwandt wird, von ihr diesen Gruppen in den Überschriften auch zugewiesen wird und obwohl dieses Konzept in der Literatur erfolgreich operationalisiert wurde. Ein ähnliches Problem ergibt sich mit dem Begriff der Esoterik, der prominent im Titel erscheint, aber analytisch kaum eine Rolle spielt. Sie kündigt zwar an, „die Kategorie offen [zu] lassen“ und sie später zu „bestimmen“ (S. 52), aber dies erfolgt nie, obwohl der Begriff häufig (allerdings meist in Überschriften und rubrizierenden Bemerkungen) vorkommt. Letztlich dokumentieren die Begriffsklärungen im Einleitungskapitel ebenso wie das Theoriekapitel am Ende ihr hohes Problembewusstsein im Blick auf einen naiven Umgang mit dem Material, wie er nur allzu oft im Umgang mit diesen Gruppen vorliegt und von dem sich die Autorin souverän absetzt; aber die Überlegungen bleiben doch zu häufig ein losgelöster, fremder Trabant neben ihrem Haupttext. Formalia: Sprachlich ist die Arbeit oft holprig. – Völlig unverständlich ist das Fehlen eines Registers: In manchen Teilen hat das Buch handbuchartige Qualitäten, aber diese Schätze lassen sich kaum heben.

Die Leistungen von Bigalke in Kapiteln, in denen sie die lokale Situation in Leipzig analysiert, bleiben davon unberührt: Sie bietet nicht nur eine reiche Fundgrube an Material, sondern setzt mit den Analysen der Interaktionen, Vernetzung und „hybriden“ Strukturen bei Personen und Organisationen in Leipzig Maßstäbe für die weitere Erforschung religiöser Pluralisierungsprozesse der deutschen Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert.

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