: Aesthetik der bildenden Kunst/ Über das Studium der Geschichte. Mit dem Text der 'Weltgeschichtlichen Betrachtungen' in der Fassung von 1905. München 2000 : C.H. Beck Verlag, ISBN 3-406-44182-3 695 S. € 99,90

: Das Altarbild - Das Portrait der Malerei - Die Sammler. Beiträge zur Kunstgeschichte Italiens. München 2000 : S. Fischer, ISBN 3-406-44181-5 592 S. € 92,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Müller, HU-Geschichtswissenschaft

Die bislang einzig zitierfähige Gesamtausgabe der Werke Jacob Burckhardts stammt von 1929-1934 und umfaßt 14 Bände. Burckhardt hat zu Lebzeiten vergleichsweise wenige Schriften veröffentlicht. Große Teile der Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Tätigkeit sind nur in Form von bislang unveröffentlichten Manuskripten erhalten. Daneben existieren einige der von ihm bekannten Werke wie etwa die "Griechische Kulturgeschichte" lediglich in einer nicht von ihm selbst erstellten Fassung. Die damit verbundenen editorischen Mängel lagen zwar seit langem offen, mangels Alternative war man aber dazu genötigt, den bisherigen Ausgaben zu vertrauen. Dieses Jahr ist nun die Publikation einer neuen kritischen Gesamtausgabe auf den Weg gebracht worden, die auf insgesamt 27 Bände angelegt ist, von denen zwei bereits erschienen sind.

Band zehn der Gesamtausgabe beinhaltet zwei Grundlagentexte, in denen Burckhardt sich mit methodologischen Fragen seiner kunst- und kulturgeschichtlichen Wissenschaftskonzeption auseinandersetzte. Der erste dieser Texte ist lange Zeit nur unter einem Titel bekannt gewesen, der nicht von Burckhardt stammte. Jacob Oeri stellte 1905 aus Manuskripten Burckhardts ein Buch zusammen, das er "Weltgeschichtliche Betrachtungen" nannte und das neben der "Kultur der Renaissance in Italien" und dem "Cicerone" sicherlich zu den bekanntesten Schriften Burckhardts überhaupt gehört. Erst 1982 ist auf der Basis der Vorarbeiten Ernst Zieglers von Peter Ganz eine Rekonstruktion nach Burckhardts Handschriften erfolgt.1 Nach dem Kurs an der Basler Universität, zu dessen Vorbereitung Burckhardt die Manuskripte ursprünglich angefertigt hatte, wird dieser Text nun "Über das Studium der Geschichte" genannt. In der kritischen Gesamtausgabe ist neben einer überarbeiteten Neuversion auch Oeris Fassung mitabgedruckt, so daß man beide nun bequem miteinander vergleichen kann. Bei dem zweiten Text in diesem Band handelt es sich um Manuskripte Burckhardts zu einer Vorlesung über die Grundlagen seiner Kunstgeschichte, die bis vor kurzem so gut wie gar nicht bekannt waren. Irmgard Siebert hat diesen Text unter dem Titel "Aesthetik der bildenden Kunst" 1992 erstmals zugänglich gemacht 2, Peter Ganz hat ihn in einer nach den Prinzipien der Neuedition überarbeiteten Fassung nun im Rahmen der Gesamtausgabe zusammen mit dem Text 'Über das Studium der Geschichte' herausgegeben.

An der Edition der Manuskripte fällt gegenüber den ersten Veröffentlichungen aus dem Nachlaß vor allem auf, daß es eines der Anliegen der jetzigen Bearbeiter gewesen ist, den Text lesbarer zu gestalten, ohne damit seine ursprüngliche Gestalt zu verstellen. Burckhardt hat seine Vorlesungsvorbereitungen nicht in Form zusammenhängender Texte hinterlassen, sondern in ihnen seine Gedankengänge lediglich so weit zu Papier gebracht, daß sie ihm zur eigenen Übersicht und zum Erstellen von sogenannten "Memorierblättern" dienten. Vor der jeweiligen Kollegstunde lernte er diese auswendig und sprach dann vor den Studenten frei. Da er beide Vorlesungen in mehreren Semestern hielt, wurden seine Manuskripte zudem von ihm mehrfach überarbeitet, so daß die hinterlassenen Schriften eine Reihe von Einschüben, Randbemerkungen und Zusätzen enthalten.3 Zusammengenommen führte dieser Zustand der Handschriften dazu, daß das Bemühen um eine möglichst detailgetreue Wiedergabe die Schwierigkeit mit sich brachte, daß die Übersichtlichkeit des Textes unter der Menge an Absätzen und Fußnoten gelegentlich zu leiden hatte. Die neue Edition trägt dazu bei, diese Schwierigkeit, so weit es möglich war, zu verringern. Randbemerkungen und Zusätze sind in den Haupttext aufgenommen worden, wenn eine eindeutige Zuordnung ausgemacht werden konnte. Der textkritische Kommentar weist die Einfügungen im einzelnen nach und führt die durch Burckhardts Überarbeitungen entstandenen Streichungen auf. Wenn die erste Edition häufig mit jedem Satz eine neue Zeile beginnt, sind diese nun zu Passagen zusammengefaßt, die den Sinneinheiten des Manuskripts folgen.4 Daneben sind auch Lesefehler der ersten Edition in der Neufassung korrigiert worden.5 Insgesamt tragen die Veränderungen durchaus dazu bei, daß die Gedankengänge Burckhardts klarer verfolgt werden können als zuvor. Eine neue Lektüre lohnt sich.

Aus Gründen der Redundanz sind die Übersichts- und Zwischenblätter, die Burckhardt vor einem neuen Arbeitsgang oder zur Zusammenfassung einzelner Abschnitte angefertigt hat, nicht in die Neuedition aufgenommen worden.6 Eine Integration in den Text hätte man zweifellos als störend empfunden, im Anhang aber wäre die Publikation doch vielleicht möglich gewesen. Diese Teile des Manuskripts sind zwar konzeptuell in die Vorlesungstexte eingearbeitet, für die eine oder andere Formulierung aus diesen Blättern wird man jedoch gelegentlich auf die älteren Editionen von Ganz und Siebert zurückgreifen.

Band sechs der Gesamtausgabe bietet drei Abhandlungen Burckhardts zur Kunstgeschichte Italiens: "Das Altarbild", "Das Portrait der Malerei" und "Die Sammler". Alle drei stehen in engem Zusammenhang mit Burckhardts Versuch, seine bekannte "Kultur der Renaissance in Italien" (1860) durch einen kunstgeschichtlichen Teil zu ergänzen. Ursprünglich hatte Burckhardt hier geplant, Kunst- und Kulturgeschichte zusammen abzuhandeln, mußte diese Idee jedoch aus konzeptuellen Gründen aufgeben. In der "Kultur der Renaissance" schrieb Burckhardt hierzu: "Frei von zahllosen Schranken, die anderwärts den Fortschritt hemmten, individuell hoch entwickelt und durch das Altertum geschult, wendet sich der italienische Geist auf die Entdeckung der äußern Welt und wagt sich an deren Darstellung in Wort und Form. Wie die Kunst diese Aufgabe löste, muß anderswo erzählt werden."7 Bereits Ende der 1860er Jahren waren Partien aus einem umfangreichen Manuskript Burckhardts zur Kunstgeschichte der italienischen Renaissance erschienen, nicht jedoch die Teile über Skulptur und Malerei, die von ihm nach seiner Emeritierung noch einmal aufgenommen und überarbeitet wurden. Hieraus sind die drei genannten Aufsätze hervorgegangen. In "Die Sammler" kam Burckhardt so beispielsweise auf die Anfänge privater Kunstsammlungen im Italien der Renaissance und die Art und Weise, wie sich hier Geist der Zeit und Formen der Kunst berührten, zu sprechen. Wenn Burckhardt dabei u.a. die Beliebtheit des Realismus der altflandrischen Malerei bei den italienischen Sammlern beleuchtete, kam er zugleich auf ein altes Thema zurück. Denn schon in den "Kunstwerken belgischer Städte" von 1842 hatte Burckhardt, wenn auch in einem noch ganz anderen Kontext, über den Sturz der idealistischen Malerei des 14. Jahrhunderts berichtet, indem diese, "noch gebunden durch den kirchlichen Typus", den "neuen Prinzipien der flandrischen Schule" weichen mußte.8 In "Die Sammler" aber hieß es: "[D]as Innewerden der neuen, unendlich reichen Belebung der Körperformen und besonders die einmal so vielartig gewordene Kenntniß und Handhabung der menschlichen Gesichtszüge nach ihrem dauernden sowohl als momentanen Inhalt, [...] hier vor Allem mochte jene Fusion von niederländischem und italienischem Geist eintreten, welcher man nicht selten mit so lebhaftem Erstaunen begegnet."9 Die "Entdeckung der Welt und des Menschen" in der italienischen Renaissance ging für Burckhardt offenbar mit den Erwartungen an die Kunst eine Synthese ein, die, durch weitere Faktoren vermittelt, auf die Entwicklungen der Kunstgeschichte zurückwirkte.

Obwohl eine Veröffentlichung der Abhandlungen bereits geplant war, ist diese doch erst nach Burckhardts Tod mit leichten Veränderungen durch den damaligen Herausgeber Hans Trog zustande gekommen. Die von Heinrich Wölfflin bearbeitete Fassung der ersten Gesamtausgabe stützte sich vor allem auf die Edition Trogs.10 Die neue Ausgabe bietet nun erstmals die Texte in einer Rekonstruktion nach den Handschriften aus dem Nachlaß, so daß die Spuren der Überarbeitungen Burckhardts mitverfolgt werden können.

Daß von dem Projekt der Gesamtausgabe dabei neue Impulse für die Burckhardt-Forschung zu erwarten sind, steht wohl außer Frage. Angesichts der Fülle an Material, dessen Veröffentlichung noch aussteht, darf man durchaus noch auf kleinere Veränderungen des bislang bekannten Burckhardt-Bildes gespannt sein. Insbesondere der Kunsthistoriker Burckhardt hat lange Zeit vergleichsweise wenig Beachtung gefunden. Erst durch die neuen Veröffentlichungen aus dem Nachlaß hat man begonnen, auch diesen Teil seiner wissenschaftlichen Arbeit verstärkt mit in die Forschung einzubeziehen.11 Bereits in der Diskussion um Burckhardts Einordnung in den Historismus hatte man im Zusammenhang mit seiner Abkehr von Fragen der Politik seinen allgemeinen Hang zur Ästhetik betont.12 In jüngerer Zeit ist jedoch weniger nach dem apolitischen Hintergrund von Burckhardts Verhältnis zur Kunst als vielmehr nach der möglichen wissenschaftsgeschichtlichen Relevanz ästhetisch geprägter Denkweisen gefragt worden. Im Rahmen ihrer Ausbildung zu akademischen Disziplinen im 19. Jahrhundert aber gilt dies sowohl für die Kunstgeschichte als auch für die Geschichtswissenschaft.13

So haben von der eher geschichtswissenschaftlich orientierten Seite her sowohl Jürgen Große als auch Luca Farulli, Burckhardt im Traditionshorizont von Kategorien der klassisch-romantischen Ästhetik verortet. Große beschreibt Burckhardts Geschichtsdenken unter Verwendung einer Formulierung von Rudolf Vierhaus als "historiographischen Okularismus", der auf einem grundsätzlichen Dualismus von geschichtlicher Erscheinung und sinnlicher Form beruht habe. Der methodische Anknüpfungspunkt Burckhardts aber wird in Goethes Naturmorphologie gefunden. Geschichte habe sich für Burckhardt, so Große, in Formen der sinnlichen Anschauung präsentiert. Diese aber seien dem Goetheschen "Urtypus" entsprechend für Burckhardt nicht auf einen Begriff reduzierbar, sondern allein ästhetisch erfahrbar gewesen.14 Burckhardts Ablehnung von ereignisgeschichtlicher Geschichtsschreibung einerseits wie auch seine Opposition gegen die philosophische Geschichtsschreibung andererseits kann in dieser Perspektive als Folge der ästhetischen Grundlagen seiner Wissenschaftskonzeption erklärt werden. Ganz ähnlich stellt Farulli Burckhardts Geschichtsschreibung bewußt als Kunst der Geschichtsschreibung vor. In der Kulturgeschichtsschreibung Burckhardts zeige sich ein Vorgehen, in dem singuläre Momente aus dem Geschichtsfluß heraus zu Bildern der Anschauung verräumlicht würden. Das Instrument dieser Operation aber sei die poetische Phantasie gewesen, mit der Burckhardt in der Geschichte begrifflich unfaßbare Formen habe ausmachen können. Auch von Farulli werden damit klassisch-romantische Konzepte bei Burckhardt wiedergefunden.15

Man kann insgesamt davon ausgehen, daß die neue Edition der Werke Burckhardts dazu beitragen wird, neue Fragen anzuregen und andere zu klären. Ein möglicher weiterführender Einblick ist nun durch das Erscheinen der ersten Bände möglich.

Anmerkungen:
1 Jacob Burckhardt, Über das Studium der Geschichte. Der Text der 'Weltgeschichtlichen Betrachtungen' auf Grund der Vorarbeiten von Ernst Ziegler nach den Handschriften hg.v. Peter Ganz, München 1982.
2 Jacob Burckhardt, Aesthetik der Bildenden Kunst. Der Text der Vorlesung 'Zur Einleitung in die Aesthetik der bildenden Kunst' aufgrund der Handschriften kommentiert und herausgegeben von Irmgard Siebert, Darmstadt 1992.
3 Vgl. zur Charakterisierung der Manuskripte Werner Kaegi, Jacob Burckhardt. Eine Biographie Bd. 6: Weltgeschichte - Mittelalter - Kunstgeschichte - Die letzten Jahre 1886-1897, Basel u. Stuttgart 1977, S. 7ff u. S. 307f.
4 Vgl. die Allgemeinen Editionskriterien im editorischen Nachwort, in: JBW Bd. 10, hier S.663-664.
5 Etwa "zum Sehen überhaupt" statt "zum Schönen überhaupt" oder "Medium der Bildung" statt "Studium der Bildung" zu Beginn der 'Aesthetik der bildenden Kunst'.
6 Vgl. Peter Ganz, Editorisches Nachwort, in: JBW Bd. 10, S. 659.
7 Jacob Burckhardt, Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, Berlin u. Leipzig 1930 (Jacob Burckhardt Gesamtausgabe, 5), S. 202.
8 Jacob Burckhardt, Kunstwerke belgischer Städte, in: ders., Frühe Schriften, Berlin u. Leipzig 1930 (Jacob Burckhardt Gesamtausgabe, 1), S. 142.143.
9 Jacob Burckhardt, Die Sammler, in: JBW Bd. 6, S. 307-308.
10 Vgl. Stella von Boch u.a., "Editorisches Nachwort", in: JBW Bd. 6, S. 543-550.
11 Vgl. Peter, Ganz, "Jacob Burckhardts 'Kultur der Renaissance in Italien'. Handwerk und Methode", in: Hans R. Guggisberg (Hg.), Umgang mit Jacob Burckhardt. Zwölf Studien, Basel u. München 1994, S. 41ff; Irmgard Siebert, Jacob Burckhardt. Studien zur Kunst- Kulturgeschichtsschreibung, Basel 1991, S. 57ff.
12 Vgl. Friedrich Jäger/Jörn Rüsen, Geschichte des Historismus. Eine Einführung, München 1992, S. 48.
13 Vgl. Hierzu auch den Hinweis bei Podro, Michael, The Critical Historians of Art, New Haven u. London 1982, S. Xviii-Xx.
14 Vgl. Jürgen Große, Typus und Geschichte. Eine Jacob-Burckhardt-Interpretation, Köln u.a. 1997, S. 145.
15 Vgl. Luca Farulli, Burckhardt e Nietzsche, Firenze 1998, S. 31-32 u. S. 67-69.

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