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Titel
Nützliches Wissen. Die Erfindung der Technikwissenschaften


Autor(en)
Klein, Ursula
Erschienen
Göttingen 2016: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
216 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tanja Paulitz / Armin Ziegler, Institut für Soziologie, Technische Universität Darmstadt

Technikwissenschaften und technische Hochschulen sind aus dem heutigen wissenschaftlichen Feld nicht mehr wegzudenken. Ihre gegenwärtig starke, möglicherweise sogar dominante Stellung in den Spielen im wissenschaftlichen Feld und ihre weitreichenden Einflüsse auf die Gesellschaft stehen weitestgehend außer Frage. Zieht man die Forschungsperspektiven von Techniksoziologie und -geschichte heran, so wird schnell deutlich, welch langen Kämpfen um Anerkennung die Ingenieure und die Technikwissenschaften ihre heutige Position verdanken. Die meisten sozialwissenschaftlichen und historischen Studien zur Genese der modernen Technik konzentrieren sich indessen auf das 19. Jahrhundert und markieren die Erringung der Gleichstellung der Technischen Hochschulen mit den Universitäten durch die Erlangung des Promotionsrechts um 1900 als wesentlichen Meilenstein.

Ursula Kleins Essay „Nützliches Wissen. Die Erfindung der Technikwissenschaften“ setzt mit der Untersuchung der Anfänge der Institutionalisierung technikwissenschaftlicher Ausbildung historisch weitaus früher an. Sie unternimmt den Versuch, eine Vorgeschichte der etablierten Technikwissenschaften zu schreiben und dabei das gängige Verwissenschaftlichungsnarrativ, das sich überwiegend auf die Polytechnischen Schulen und auf die Fächer Maschinenbau und Elektrotechnik bezieht, zu hinterfragen. Im Zentrum ihrer Geschichte, die nichts weniger sei als eine Studie über die „Erfindung“ eines eigenen Wissenschaftszweigs, stehen die Bereiche Bergbau, Bauwesen und Chemie. Damit fügt sich der Essay in Kleins chemiehistorisches Werk ein und erweitert dieses um die These von der Herausarbeitung eines spezifisch technikwissenschaftlichen Typus von Wissensproduktion, wie er sich bereits im 18. Jahrhundert zeigt. In dieser Zeit seien die Weichen der modernen Technikwissenschaften gestellt worden. Klein fokussiert auf zwei, bislang zu wenig beachtete „Grauzonen“ der technikgeschichtlichen Forschung: die Analyse „der Figur des hybriden wissenschaftlich-technischen Experten im staatlichen Ambiente“ und die Untersuchung der „‚praktischen‘ und ‚nützlichen Wissenschaften‘ in der Frühphase der Industrialisierung“ (S. 9). Die Bearbeitung dieser Grauzonen findet in drei Teilen statt.

Der erste Teil widmet sich der Betrachtung von historischen Schlüsselfiguren der Erfindung der Technikwissenschaften. Ausführlich befasst sich die Autorin mit dem Freiberger Professor, Geologen und Bergbeamten Abraham Gottlieb Werner, dem Mediziner, Bergrat und Mineralogen Carl Abraham Gerhard und dem Chemiker und Apotheker Martin Heinrich Klaproth. Trotz unterschiedlicher sozialer Herkunft und Ausbildungswege, deren Darstellung konzise abhandelt wird, trotz heterogener Tätigkeitsbereiche und Arbeitsweisen, deren differenzierter Beschreibung jeweils am meisten Platz zugestanden wird, und trotz verschiedener politischer und institutioneller Positionierungen lassen sich letztendlich alle drei historischen Akteure als hybride wissenschaftlich-technische Experten (bzw. Naturforscher-Techniker) einordnen. Ihre Gemeinsamkeiten liegen im Brückenschlag zwischen Kopf- und Handarbeit, also der „dauerhafte[n] Verbindung von Naturforschung und technischem Wissen und Handeln“ (S. 87), im Überwinden der Schranken eines rein lokalen Erfahrungswissens durch systematisches Experimentieren und Reisen sowie im „Engagement für den Staat und das Gemeinwohl“ (S. 88), das sie häufig in der Rolle als (höherer) staatlicher Berater oder Beamter zeigen. Der letzte Punkt ist für Klein von entscheidender Bedeutung: Es kommt einem Strukturmerkmal der Figur des wissenschaftlich-technischen Experten respektive höheren Beamten und damit einem Strukturmoment der frühen Entstehung der Technikwissenschaften gleich, dass diese Experten aufgrund ihres hohen Sozialprestiges und insbesondere bedingt durch den unmittelbaren Zugang zu Ministerien im absolutistischen Staat direkten Einfluss auf die Gründung von entsprechenden Bildungsinstitutionen und deren Curricula nahmen.

Um die Orte der Produktion nützlichen Wissens geht es im zweiten und kürzesten Teil der Studie. Untersucht werden Orte, „die vornehmlich der Wissensproduktion und -reproduktion dienten“ (S. 105): die Berliner (Vorlesungsreihe) ‚Bergakademie‘, die Bauakademie, die Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften und die Berliner Universität. In der Rekonstruktion des Gründungszusammenhangs, der Curricula und dort durchgeführten Projekte zeichnet die Autorin für alle benannten Bildungsinstitutionen eine gemeinsame Grundorientierung nach. Die Ausbildung sollte überall sowohl in praktischer als auch in theoretischer Hinsicht erfolgen, wobei teilweise gar dem praktisch-technischen Teil Vorrang gegeben wurde, insbesondere wenn diesem eine Gemeinwohlorientierung oder ökonomische Verwertbarkeit unterstellt werden konnte. Dies betraf insbesondere die von ministerialer Seite geforderte und geförderte Ausbildung von (Staats-)Beamten in den Gebieten Mineralogie, Metallurgie, Technologie einschließlich Landwirtschaft, Chemie, Physik, Berg- und Zivilbauwesen, Feldmesskunst sowie Ökonomie und Kameralistik.

Der dritte Teil nimmt sich des nützlichen Wissens an, welches von wissenschaftlich-technischen Experten mit Blick auf ein baconisches bzw. utilitaristisches Wissenschaftsverständnis generiert wurde. Mit der Einsicht, so Kleins Argument, dass Naturwissenschaft und Mathematik nicht unmittelbar technischen und sozialen Fortschritt im Sinne des Gemeinwohls anzufeuern wussten, machten sich mithilfe von reformfreudigen Ministern und einflussreichen Beamten „die Naturforscher-Techniker an die Realisierung eines neuen Wissenschaftstyps: die ‚praktischen‘ und ‚nützlichen Wissenschaften‘“ (S. 141). Am Beispiel der Konstituierung der Bergwerkswissenschaft einerseits und der Salzwerkskunde an der Freiberger Bergakademie andererseits zeigt Klein exemplarisch, dass die hier vollzogene Wissensproduktion als Frühform der Technik- und Ingenieurwissenschaften anzusehen ist.

Für diese These und insbesondere für den Nachweis, dass es sich bei dieser Wissenspraxis nicht um handwerkliche Künste, sondern tatsächlich um eine Wissenschaft handelte, führt Klein epistemische Tugenden und konkrete Laborpraktiken an, wie die Systematik und Sorgfalt bei der Ausführung von Tests und Experimenten, deren Protokollierung, Evaluation und systematischer Vergleich, sowie der Wissenstransfer, mit anderen Worten die intersubjektive Nachvollziehbar- und Kontrollierbarkeit. Zusätzlich verweist sie darauf, dass die Akteure relevante naturwissenschaftliche Erkenntnisse identifizierten und systematisch aufgriffen, um sie mit ihren eigenen, auf die Generierung ‚nützlichen Wissens‘ fokussierten praktischen Fragestellungen zu verknüpfen. Nützliche Wissenschaften seien jedoch mehr als die Zusammenstellung heterogener Wissensbausteine, denn die Zusammenführung regte letztendlich auch zu „Abstraktionen, Verallgemeinerungen und Formalisierungen an und damit zur Konstitution neuer Forschungsobjekte und neuer Repräsentationsweisen“ (S. 179). Damit argumentiert die Autorin für die Anerkennung einer historischen Entwicklung, die nicht vom ‚reinen‘ Streben nach Wahrheit, sondern vielmehr vom Bemühen der Produktion zuverlässigen Wissens und der sukzessiven und systematischen Verbesserung technischer Verfahren getrieben worden war – und zwar institutionell abgesichert sowie zugleich relativ eigenständig sowohl gegenüber den Naturwissenschaften als auch der handwerklich-gewerblichen Technik.

Abschließend stellt Klein in einem Vergleich der nützlichen Wissenschaften mit den modernen Technikwissenschaften signifikante Gemeinsamkeiten fest. Auf dieser Grundlage postuliert sie eine historische Kontinuität des spezifischen, von ihr herausgearbeiteten, Wissenschaftstyps. Diese reiche von den nützlichen Wissenschaften des 18. Jahrhunderts über die Technikwissenschaften des 19. Jahrhunderts bis zur „spätmodernen Technowissenschaft“.

Ursula Kleins Studie zeichnet sich insbesondere durch den übersichtlichen Aufbau und die stets präsente Argumentationsstruktur sowie durch ihren Materialreichtum und die Erschließung eines bislang zu Unrecht wenig beachteten Forschungsgebietes aus. Auch die instruktiven Bezugnahmen auf aktuell oder in der Vergangenheit vorgebrachte wissenschaftshistorische Thesen und geführte Fachdiskussionen, die den Gegenstand der technischen Wissenschaften und das Verhältnis von Verwissenschaftlichung der Künste adressieren, werden informiert in den Essay eingebaut, wobei sich die Autorin dabei stets klar positioniert und erfrischend scharfe Kritiken und Abgrenzungen vorträgt (vgl. etwa S. 33ff., 95ff.). Sie kommt mehrmals auf ihr Argument der Verbindung von wissenschaftlichem und technischem, wirtschaftlichem und staatlichem Interesse in dem auf die Produktion nützlichen Wissens ausgerichteten Wissenschaftstypus zurück, wenn sie etwa verkürzende Annahmen und Argumente zur Stilisierung der Berliner Universität als Ort der freien Lehre und reinen Forschung und zur Verwissenschaftlichung der Technik im 19. Jahrhundert überzeugend hinterfragt.

Soviel es zur Übersichtlichkeit der Lektüre auch beitragen mag, so kommt die Darstellung der nützlichen Wissenschaften aus drei in sich verschränkten Perspektiven – Personen, Orte, Wissen – allerdings nicht ohne etliche inhaltliche Redundanzen aus. Die prominent eingangs eingeführte These von der Verschränkung der Wissenschaft und Technik im staatlichen Kontext und ihre Bestätigung wird dem/der Lesenden mehrfach aus diversen Perspektiven und in unterschiedlichsten Vergleichen vorgeführt. Genau in diesem Zusammenhang wird dann auch ein Problem sichtbar, nämlich die unscharfe, letztlich gar ahistorische Verwendung zentraler Begriffe. So bleibt es der Lektüre in mühsamer Rekonstruktionsarbeit überlassen herauszufinden, ob nun die Autorin oder die behandelten Protagonisten sprechen, etwa wenn es darum geht, was unter Theorie, Praxis, Nützlichkeit oder Gemeinwohlorientierung zu verstehen sei.

Neben diesem Problem erscheint eine zweite Frage noch bedeutender, nämlich die nach den historischen Bedeutungsverschiebungen der Begriffe Technik, Wissenschaft oder auch Staat. Es gelingt der Autorin zwar, die nützlichen Wissenschaften des 18. Jahrhunderts mit modernen Technikwissenschaften und heutigen Technowissenschaften typologisch in Beziehung zu setzen. Insbesondere auf epistemischer Ebene und hinsichtlich des Objektbezugs der Wissenschaften bleibt allerdings fraglich, ob der untersuchte Gegenstandsbereich in dieser Hinsicht stabil geblieben ist. Von dieser Warte kann die These, die nützlichen Wissenschaften als Vorläufer der späteren Technik- und heutigen Technowissenschaft zu fassen, durchaus angefochten werden. Womöglich hätte die eine oder andere Begriffsbestimmung oder auch eine method(olog)ische bzw. historiographische Verortung der Arbeit hier Abhilfe geleistet, die man bei der Lektüre jedoch genauso vergebens sucht wie eine Begründung der herangezogenen Quellen oder nähere Ausführungen zur Quellenlage.

Allerdings ist Kleins Anspruch der eines Essays und nicht einer vollumfänglichen historischen oder genealogischen Untersuchung. Insofern stellt die Autorin in ihrer Studie eine spannende These zur Diskussion und plädiert in überzeugender Weise dafür, den allzu sehr auf die ‚reinen‘ Naturwissenschaften verengten Fokus der Wissenschaftsgeschichte um wichtige Gegenstandsbereiche zu erweitern. Zugleich deutet sie in ihrer Arbeit an, dem ebenfalls noch nicht ausgereizten Potential der Verbindung von Wissenschafts- und Technikgeschichte bzw. von Wissenschafts- und Technikforschung auf der Spur zu bleiben. Auf weitere Arbeiten, die nützliche Wissenschaften systematisch ins Auge fassen und deren historische Tragweite ausloten, bleibt daher mit Spannung zu warten.