A. Schindler: Icelandic National Cinema

Cover
Titel
Icelandic National Cinema. Film- und Rezensionsanalysen nationaler Identität


Autor(en)
Schindler, Agnes
Reihe
Filmgeschichte International 22
Anzahl Seiten
357 S. + 1 CD-Rom
Preis
€ 38,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marion Lerner, Geisteswissenschaftliche Fakultät, Sektion für Isländisch und Kulturwissenschaften, Universität Islands, Reykjavik

Das vorliegende Buch basiert auf einer 2012 an der Universität Trier angenommenen Dissertationsschrift und erschien 2015 im Wissenschaftlichen Verlag Trier. Mit 350 Seiten handelt es sich um ein vergleichsweise umfangreiches Werk. Das Buch gliedert sich in fünf Abschnitte sowie einen ausgiebigen Anhang, der zu großen Teilen auf einer mitgelieferten CD untergebracht ist. Einleitung und Zusammenfassung sind sehr kurz gehalten, sodass drei Hauptabschnitte im Zentrum stehen. Inhaltlich ist die Arbeit im interdisziplinären Feld von Film- und Kulturwissenschaft angesiedelt und behandelt Fragen von nationaler Identität. Methodisch werden Film- und Diskursanalysen mit historisch-chronologischen Überblicksdarstellungen kombiniert.

Die Autorin geht davon aus, dass der isländische Film sich historisch im selben Zeitraum entwickelt hat, wie die isländische Republik entstanden ist, das heißt seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Es geht ihr darum, „das Icelandic national cinema in seiner Rolle als ein spezifisches national cinema zu betrachten, indem isländische Spielfilme in ihrer Funktion als Ort der Verhandlung nationaler Identität untersucht werden“ (S. 7). Ihre These formuliert sie dahingehend, dass der isländische Spielfilm „kontinuierlich Ort intensiver Verhandlung von Aspekten nationaler isländischer Identität“ (ebd.) gewesen sei und fragt im Weiteren danach, ob transnationale Tendenzen, die international im Filmgeschäft zu beobachten sind, Einfluss auf die Verhandlung der isländischen nationalen Identität im Spielfilm nehmen und den nationalen Diskurs womöglich verdrängen. Als Ziel der Arbeit werden zwei Aspekte formuliert, zum einen soll erkundet werden, ob die isländische Filmförderung und die entsprechende Gesetzgebung, die von isländischer Identität spricht, sich einschlägig in den Projekten niedergeschlagen hat; zum anderen soll die filmwissenschaftliche Diskussion bereichert und das Konzept des „national cinema“ beleuchtet werden. Entsprechend gliedert sich die Arbeit in zwei Komplexe. Der eine behandelt die isländische Filmgeschichte mit ihrem gesamten Spielfilmkorpus sowie der Filmförderung mit ihren Beschlüssen und Maßnahmen, aber auch das isländische Fernsehen, die kino- oder medienrelevante Infrastruktur usw. Der andere Komplex besteht aus Filmanalysen ausgewählter Filme aus dem Zeitraum 1980 bis 2008, die nach bestimmten Kriterien vorgenommen werden. Ergänzt werden diese beiden Komplexe durch einen dritten, der aus der Analyse deutschsprachiger und isländischer Rezensionen besteht. Hierbei soll sowohl die Innen- als auch die Außenperspektive beleuchtet werden, was die Autorin als Einblick in „das Selbst- und das Fremdbild der Darstellung Islands und der isländischen Nation in den Spielfilmen“ (S. 9) auffasst. Die Betrachtung der Rezeption hält die Autorin für notwendig, um sie mit den vorgenommenen Filmanalysen kombinieren und so medienübergreifend arbeiten zu können.

Die theoretischen Grundlagen der Arbeit entstammen einerseits der Filmwissenschaft und entnehmen dieser Begriffe und Konzepte wie „national cinema“, „world cinema“, „small national cinema“, „transnationales Kino“ etc., die auf Island angewandt werden, aber auch die Methodik der Filmanalysen. Zum anderen entstammen Begriffe und Konzepte den Kulturwissenschaften, zentral sind hier die Begriffe Nation und Identität. Die Autorin stützt sich vorrangig auf Benedict Anderson und dessen Darlegungen zur Nation als imaginierter Gemeinschaft und geht davon aus, dass eine Analogie zwischen dem Prozess der Gemeinschaftsbildung und dem der Filmrezeption bestehe und die Filmrezeption zur Konstruktion der imaginierten Gemeinschaft beitrage.1

Im ersten Hauptabschnitt legt die Autorin dar, wie sich das Kino, der Spielfilm und die Filmförderung in Island von 1903 bis 2008 entwickelt haben und welchen Prinzipien die Förderung folgte. Hierzu zieht sie aktuelle Forschungen isländischer und anderer Wissenschaftler ebenso heran wie eine ganze Reihe vielfältigster Quellen von Gesetzestexten bis zu Rezensionen, von Preisverleihungen bis zu Broschüren und offiziellen Internetauftritten. Die Materialfülle ist durchaus beeindruckend und spricht für große Detailkenntnis. Gleichzeitig ist diese Fülle aber auch verwirrend für den Leser, der bald den Überblick verliert und sich, umgeben von den vielen Institutionen, Zusammenschlüssen, Filmfestivals, Unternehmen und kleinteiligen Zeiträumen, schlecht orientieren kann. Auch fehlt eine Zusammenfassung am Ende der Darlegungen. Im Grunde hätte dieser Abschnitt in Kombination mit historischen Einblicken eine Forschungsarbeit in sich selbst darstellen können. Schließlich ist die Geschichte des isländischen Films und der einschlägigen Förderung ein höchst interessantes Thema, das man mit Fragen von nationaler Identität und deren kulturpolitischer Umsetzung sowie internationalen Einflüssen hätte kombinieren können.

Der zweite Hauptabschnitt ist den Filmanalysen vorbehalten und stellt das Zentrum der Arbeit dar. Auch dieser Abschnitt basiert auf äußerst umfangreichem Material. Die Autorin wählt nach Kriterien wie Zuschauerzahl, Preisverleihungen, Inhaltsrelevanz und anderen mehr 32 Filme des Zeitraums 1980 bis 2008 aus. Die Analysen haben zum Ziel, die Verhandlung einer nationalen isländischen Identität auf den Ebenen „agenda-setting“, Handlungsorte und Filmfiguren aufzufinden. Diese drei Ebenen werden weiter aufgefächert und systematisch abgehandelt. Den Schluss der circa 150 Seiten umfassenden Analyse bildet ein kurzes Resümee. Die große Anzahl der Filme in Kombination mit den vielen thematischen Schwerpunkten führt leider dazu, dass die einzelnen Analysen äußerst gedrängt sind, oft lediglich Aufzählungen enthalten und sehr oberflächlich wirken, weshalb die Schlussfolgerungen nicht unbedingt überzeugen. Als Beispiel kann die Analyse der 21 weiblichen Protagonistinnen in den Spielfilmen dienen. Hier wird aufgeführt, in welchem Alter und in welcher Lebenssituation sie sich befinden, ob ihr Äußeres einem Klischee isländischer Weiblichkeit entspricht oder nicht, ob die Figuren eine Entwicklung durchmachen, wie sie sich in der Partnerwahl verhalten, ob sie Kinder bekommen etc. Am Schluss heißt es: „Die Analyse der Protagonistinnen ergab, dass die Frauenfiguren symbolisch spezifische und klar umrissene Aspekte isländischer Identität verkörpern. […] Das Erleiden und Ertragen von Schicksalsschlägen spielt eine wichtige Rolle und kann symbolisch als Parallele zu den Schicksalsschlägen der isländischen Nation gelesen werden“ (S. 235). Dieses Ergebnis wirft viele Fragen auf. Was macht die Identitäten dieser Frauenfiguren zu isländischen und mehr noch zu nationalen Identitäten? Warum kann ihr Lebensweg symbolisch als Parallele zur Nation gedeutet werden? Hier fehlen argumentativ wichtige Zwischenschritte. Schließlich könnten sie symbolisch genauso gut für weibliche oder moderne Identitäten stehen, warum für eine nationale isländische Identität? Hier kristallisiert sich eine bedeutende Schwäche der Arbeit heraus. Es wird kaum theoretisch herausgearbeitet, was eine nationale Identität ausmacht. Muss eine angenommene gemeinschaftliche isländische Identität überhaupt eine nationale Identität sein? Wie ist dies begrifflich herzuleiten? Gemessen am Titel des Buches, in dem es zentral um nationale Identität geht, ist dies eine überraschende Leerstelle.

Im dritten Abschnitt wird die Rezeption der analysierten Spielfilme betrachtet. Begründet wird dies damit, dass für die Spielfilmkommunikation die Produktion, das Produkt und die Rezeption von Bedeutung sind und die Filmrezension hier geeignetes Analysematerial bietet. Dieser Abschnitt behandelt wiederum sehr viele deutsche und isländische Quellen, die im Grunde als Material für ein eigenständiges, womöglich sogar kulturvergleichendes Forschungsprojekt hätten dienen können. Auch wenn die Argumentation nachvollziehbar ist, dass die Einheit von filmhistorischem Kontext, repräsentativer Filmanalyse und Untersuchung von Rezensionsmaterial eine ganzheitliche Medienanalyse ermöglicht, ist es doch fraglich, ob wirklich alle drei Komplexe in einer Arbeit verhandelt werden müssen. Dieser Abschnitt wie schon die beiden anderen wirkt aufgrund der übergroßen Materialfülle letztlich oberflächlich, schließlich bleibt kaum Platz für theoretische Betrachtungen und argumentative Herleitungen oder Verknüpfungen. Nach der Lektüre hat man zwar viele Details erfahren und ist darauf hingewiesen worden, dass deutsche und isländische Rezensionen sich sehr unterscheiden, dass sie zum Beispiel die Handlungsorte sehr verschieden interpretieren, man weiß aber über eine mögliche nationale isländische Identität nicht sehr viel mehr als zu Beginn. Was zeichnet diese Identität aus? Welche Züge machen sie zu einer nationalen Identität? Was unterscheidet sie von anderen nationalen Identitäten?

Das Buch ist sehr klar strukturiert, der Aufbau folgt den Analyseschritten, die Sprache ist ausreichend akademisch aber nicht unnötig kompliziert oder überfrachtet. Im ersten Abschnitt wird die Lektüre allerdings erschwert, weil die Autorin zwar einen deutschen Text verfasst, der von isländischen Institutionen handelt, sehr häufig aber englische Namen für diese Institutionen verwendet. Hierdurch entsteht ein seltsames und häufig verwirrendes Sprachgemisch. In diesem Abschnitt fallen darüber hinaus viele grammatische und orthografische Fehler in der Wiedergabe von isländischen Filmtiteln, Artikelüberschriften und Namen von Filmschaffenden und Autoren auf, was in einem Buch zu diesem Spezialgebiet sehr irritierend wirkt. Ein weiteres sprachliches Problem besteht darin, dass viele Zitate in den Filmanalysen in englischer Sprache wiedergegeben werden, andere auf Deutsch und bei einigen wird angemerkt, dass es sich um eine Übersetzung der Autorin handelt. Hier stellt sich die Frage, welche Versionen überhaupt verwendet wurden und wie aussagekräftig die entsprechenden Übersetzungen sind. In Bezug auf den historischen Überblick im Einleitungskapitel muss kritisch angemerkt werden, dass sich dort Fehler in den Jahreszahlen finden und insgesamt ein sehr klischeehaftes und veraltetes Bild von der isländischen Geschichte gezeichnet wird. Hier hätte die Rezeption neuerer isländischer Forschungen, die einen sehr kritischen Blick auf die überkommene isländische Geschichtsschreibung werfen, Abhilfe schaffen können. Immerhin war die Auseinandersetzung rund um dieses Geschichtsbild ein zentraler Diskurs in den isländischen Geisteswissenschaften der vergangenen zwanzig Jahre.

Anmerkung:
1 Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts, Frankfurt am Main 2005.

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