R. Jessen u.a. (Hgg.): Wissenschaft und Nation

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Titel
Wissenschaft und Nation in der europäischen Geschichte.


Herausgeber
Jessen, Ralph; Vogel, Jakob
Erschienen
Frankfurt am Main 2002: Campus Verlag
Anzahl Seiten
315 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Höhler, Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik

Die Mehrzahl der zwölf in diesem Band versammelten Aufsätze geht auf die Vorträge einer internationalen Konferenz zurück, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die wechselseitigen Bedingtheiten, Inszenierungen und Stimulierungen von naturwissenschaftlicher Arbeit und Nationsbildung im 19. und 20. Jahrhundert in Europa zu erforschen. Die Konferenz des Zentrums für Vergleichende Geschichte Europas (ZVGE) an der Freien Universität Berlin im März 2001 untersuchte das vermeintliche Paradox, dass sich seit dem 19. Jahrhundert nationale Identität und Größe vor allem durch naturwissenschaftliche Leistungen artikulieren ließen, die Ausbildung eines nationalen wissenschaftlichen Selbstverständnisses jedoch den Anspruch nicht ausschloss, in der Praxis international und im Ergebnis universell zu sein. Das Konzept der Nation ist seit einem guten Jahrzehnt Gegenstand historischer Forschungen, die Bedeutung und der Beitrag der Naturwissenschaften für die Nationsbildung ist jedoch kaum hinlänglich berücksichtigt worden. Die Herausforderung bestand darin, die Einheit, Stabilität, Universalität und Dominanz nicht nur der Nation, sondern auch der Naturwissenschaften in den Meistererzählungen der (Wissenschafts-) Geschichtsschreibung der Kritik der historischen Untersuchung auszusetzen.

Mit dem vorliegenden Band nun ist die Demonstration gelungen, dass sowohl die „imagined community“ der Nation als auch die „scientific community“ durch Erfindungen und Selbsterfindungen in enger Wechselwirkung erst kollektiv vorstellbar wurden. Beide Gemeinschaften gewannen Verbindlichkeit und Legitimation durch performative emotional-rituelle und symbolische Auszeichnungen von Zugehörigkeit in Kommunikations-, Institutions- und Traditionsbildungsprozessen. Der mit der Konferenz beabsichtigte Brückenschlag zwischen so genannter Allgemeiner Geschichte und Wissenschaftsgeschichte bleibt jedoch im Buch begrenzt auf eine selbstgenügsame „deutsche“, allenfalls europäisch geführte geschichtswissenschaftliche Diskussion, die neue kulturwissenschaftliche Forschungsrichtungen und die anglo-amerikanische Wissenschaftsforschung weitgehend unberücksichtigt lässt. Dass der Band damit deutlich hinter die brisanten Fragen und offenen Konflikte der Tagung zurückfällt, liegt sicherlich in erster Linie darin begründet, dass einige der wissenschaftshistorischen Vorträge nicht zur Veröffentlichung eingereicht wurden und die inspirierenden Sektionskommentare fehlen.1 Die seinerzeit höchst kontrovers diskutierte Frage, wie Wissenschaftspolitik und -vermittlung einerseits und die Kultur und Praxis der Wissensproduktion andererseits für die Konstruktion und Verbindlichkeit der Nation zu gewichten sind, fiel schlicht fort.

Die neue Harmonie kündigt sich bereits in der thematischen Einführung an. Die beiden Herausgeber Ralph Jessen und Jakob Vogel argumentieren hier, dass historisch und historiographisch der Immunität der Naturwissenschaften gegenüber Nationalisierungsprozessen Vorschub geleistet worden sei: Während das Nationalisierungspotenzial für die sich im 19. Jahrhundert formierenden Kulturwissenschaften bereits durch ihre Gegenstände, etwa die „Nationalsprachen“ und die „Nationalgeschichte“ (S. 12), unmittelbar einleuchte, sei der Zusammenhang für die naturwissenschaftlichen Disziplinen – hier: Chemie, Physik, Medizin, Geographie, Statistik – weniger offensichtlich.

Problematisch ist, dass die beiden Autoren der historischen Unmarkiertheit der Naturwissenschaften nichts entgegensetzen. Auch das zentrale Thema des Buches bleibt damit unmarkiert: Was genau zeichnet die Naturwissenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts bei der „Erfindung der Nation“ gegenüber anderen (Forschungs-) Feldern ihrer Zeit aus? Statt diese Frage zu klären, setzen die Autoren unfreiwillig die Geschichte der naturwissenschaftlichen Reinheit und des universalistischen Wissens dem traditionellen Naturwissenschaftsverständnis gemäß fort. Die Leserin fragt sich schließlich, ob das bislang in der historischen Forschung als „strikte[r] Gegensatz“ (S. 9) konzipierte Verhältnis von (universalistischer) Wissenschaft und (partikularistischer) Nation überhaupt als angemessener Ausgangspunkt des Buches herhalten kann, oder ob womöglich, mit Bruno Latour gesprochen, „Reinigungsarbeit“2 betrieben wird, um zwei Dinge zu trennen, die längst zusammen gedacht werden.

Die fünf gewählten Untersuchungsfelder des Buches lassen bereits ahnen, dass die „Natur“ der Naturwissenschaften die Historiker einmal mehr zu Geiseln genommen hat: Es bleibt der Sektion 4 überlassen, den Blick auf wissenschaftliche Organisationsformen und Erkenntnisse zu richten, durch welche die historische Formation der Nation als natürliche Ordnung ausgewiesen wurde. Die übrigen Sektionen bauen, angelegt im wechselseitigen Gebrauch der Wissenschaft als „Ressource“ (S. 26) und der Nation als „Argument“ (S. 24), auf eine strukturelle Trennung von Forschung und Forschungspolitik.

Bereits im Titel des ersten Beitrags, „Nation als strategischer Einsatz“, klingt die Note der intentionalen Instrumentalisierung „der Nation“ durch Einzelakteure an. Marc Schalenberg argumentiert, dass die „nachholende Zentralisierung des deutschen Wissenschaftsbetriebs“ (S. 46) mit seinen eigentümlichen Organisationsformen und spezifischen Kommunikationsformen im 19. Jahrhundert zumindest den Versuch der Herstellung einer nationalen Ordnung immer mit einschloss. Durch ein deutlicher diskursanalytisches Vorgehen hätte der Autor das beständig beseelte Konzept der „Nation“ aufbrechen können, mit dem angesichts der Disparatheit der deutschen Staaten an die „intellektuelle Einheit“ (S. 48) appelliert wurde.

Der nachfolgende Beitrag versucht gar nicht erst, mit sprachlichen Bezugnahmen „der Wissenschaft“ auf „die Nation“ zu wuchern, sondern widmet sich einem quer dazu liegenden Thema: Am „Sprachenstreit“ (S. 60) um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Russland erörtert Olga A. Valkova ein Dilemma national verpflichteter Wissenschaftler im Ringen um internationale Anerkennung: Der traditionell szientistischen wissenschaftlichen Elite, die auf ihren Platz in der „transnationalen“ (S. 61), sprich: westeuropäischen Gelehrtenrepublik Wert legte und das Russische als partikular, lokal, ja provinziell ablehnte, waren Fremd-Sprachen die Eintrittskarte in die avancierte Forschung. Nicht minder traditionell, exklusiv und elitär war die Gruppe derjenigen, die das Russische zur nationalen Volksbildung und als internationale Sprache aufzuwerten suchten.

Die Situiertheit und die zeitliche und räumliche Relativität solcher Konzepte wie „national“ und „transnational“ führt uns auch H. Glenn Penny vor Augen. Er belebt den Band durch seine Auseinandersetzung mit der Geschichtsschreibung, die durchweg „die Nation“ als die selbstverständliche historische Kategorie und Leitidee des 19. Jahrhunderts privilegiert habe. Gegen die historiographische „Meistererzählung“ (S. 81) einer nationalen „Identität“ als homogen und ungebrochen stellt Penny den Polyzentrismus als Bedingung für den Aufstieg der deutschen Ethnologie und die Einrichtung ethnographischer Museen in Deutschland im späten 19. Jahrhundert. Obwohl Volkskunde/Völkerkunde auf den ersten Blick geeigneter schien, national integrierend zu wirken, erwiesen sich bürgerliches Selbstbewusstsein und kosmopolitische Visionen, Regionalität und vor allem städtische Reputation und Konkurrenz als bestimmend für die Institutionalisierung der Ethnologie in Deutschland. Pennys Gegenstand ist ein schönes Beispiel dafür, dass die ersehnte nationale Einheit sich erst durch Veräußerlichung innerer Differenzen herausbildete und das vermeintliche nationale Ganze immer eine (nachträgliche) Homogenisierung einzelner Positionen und Orientierungen darstellte.

Seinem Plädoyer ist nur zuzustimmen: Eine solche Homogenisierung sollte historiographisch nicht wiederholt werden. Den Beiträgen der zweiten Sektion hätte dies Mahnung sein können, nicht mit dem „Argument“ der Nation bzw. der Wissenschaft die Autorität der jeweiligen Bezugsgröße zu untermauern. Ein analytisch scharfer Blick auf die spezifische naturwissenschaftliche Nomenklatur und Systematik hätte dazu verhelfen können, die „einigende Kraft“ (S. 111), die Strenge und Geschlossenheit der spezifisch deutschen „naturwissenschaftlichen Methode“ (S. 110) präzise zu buchstabieren, auf die Rudolf Virchow seine Naturalisierung der deutschen Einheit gründete. Insofern zeigt der Beitrag von Constantin Goschler, was zu tun wäre, um den Panzerschrank der „wissenschaftlichen Theorien“ und „Methoden“ zu knacken, die in ihrer Ambition und Reichweite so universalistisch angelegt waren, dass darin nationale Hegemonieansprüche „natürlich“ manifest wurden.

Wie auch mit dem „Niedergang“ (S. 119) Staat zu machen war, zeigt Ulrike Fell am Beispiel der Chemiker in Frankreich zwischen 1850 und 1930. Das gemeinsame Klagen mit Blick auf die deutschen Nachbarn belebte die „Nation“ und die „Profession“. Zugleich beförderten die chemischen Fachgesellschaften die Trennung in eine akademische „Chemie der Professoren“ (S. 127) und eine angewandte Chemie, die durch ihre strategische Bedeutung für die Landesverteidigung gestärkt aus dem 1. Weltkrieg hervorgegangen war. Über die Kollektivierungsleistungen der „chemischen Kriegsführung“ erfahren wir nichts, ebenso wenig über die machtvolle Allianz von chemischer Wissenschaft und chemischer Industrie, die diese Praxis erst ermöglichte. So lässt auch dieser Beitrag nur vermuten, was ein Professionalisierungs-Schub von der Geschichte der Fach- und Standespolitik hin zur Geschichte der Wissenschafts- und Wissensorganisation zu leisten imstande wäre. Auf halber Strecke durch den Band, nach einem ausgiebigen Gang durch die „Kommunikationsräume“ der sich professionalisierenden Naturwissenschaften, vorbei an Vereinen, Zeitschriften, Instituten, Museen, Jubiläen und Ausstellungen, fragt sich die Wissenschaftsforscherin: Was war so bedeutend, dass es gesammelt, vorgezeigt, gedruckt und kommuniziert, institutionalisiert und gefeiert wurde?

Die dritte Sektion hält entgegen, dass die Forscher selbst die Objekte einer wahren nationalen Sammelleidenschaft zur Ausstellung und zum symbolischen Tausch in der internationalen Leistungsschau waren. Das ausländische Interesse am Sammlerstück erhöhte dessen Wert und wahrte die Verehrung vor dem Vorwurf des engstirnigen Nationalismus. Jakob Vogel untersucht am Beispiel der Figur des Georgius Agricola (1494–1555) die retrospektive Stilisierung so genannter „Gründerväter“ (S. 146) einer Disziplin zu nationalen Leitfiguren und zeigt, dass nationale Deutungsmuster den Blick und das Selbstverständnis der traditionellen Wissenschafts- und Technikgeschichte bis heute formen. Als „Vater der Mineralogie“ (S. 146) bis zum Ende des 19. Jahrhunderts kaum öffentlich bekannt, wurde Agricola mit der Aufnahme in den Ehrensaal des „Deutschen Museums“ in München zu einem „Geistesheros“ der „Deutschen Technik“ (S. 155). Die selbstschöpferische Leistung versammelte die nationale Gemeinschaft – und teilte sie wieder: Zwar sorgte nach 1945 die personelle Kontinuität der technischen Eliten dafür, dass auch Agricola weitgehend „unbeschadet“ blieb (S. 159); während er in der BRD jedoch als Repräsentant der Universalgeschichte moderner Wissenschaft und Technik fungierte, wurde er in der DDR durch den Rückgriff auf die ältere bergbaulich-mineralogische Tradition zur Integrationsfigur zwischen Intelligenz und Werktätigen und damit geistiger Vorreiter der sozialistischen Gesellschaftsordnung.

Nicolaas Rupke zeigt am Beispiel der Biografik Alexander von Humboldts (1769–1859), wie bereits zu Lebzeiten Humboldts um die Deutungsmacht über seine Person gerungen wurde. So entstanden unterschiedliche, teilweise einander widersprechende „Humboldts“ (S. 169): der Kosmopolit und Weltbürger, der Humanist und Weltreformer, der Liberale und Einheitsstifter, der Literat und Volksbildner, ein – deutscher – Nationalheld. Am „frühen Humboldt“ zwischen 1848 und 1871 demonstriert Rupke die Bestrebungen, Humboldt durch die Integrationsleistung und literarische Größe seines „Kosmos“ als Bildungsreformer und Gelehrten neben Goethe und Schiller zu germanisieren. Der „englische Humboldt“ dieser Zeit bekam als Reisender, Abenteurer und Entdecker eine vollkommen andere persönliche, ja geradezu individuelle Note, die zur nationalen Vereinnahmung freilich weit weniger taugte.

Im dritten Beitrag dieser Sektion kommen Forschung und Wissen doch noch zu ihrem Einsatz: in Form von Deko-Stoffen und Einrichtungswaren. Becky E. Conekin stellt dar, wie im Festival of Britain von 1951 die „zwei Kulturen“ Kunst und Naturwissenschaften zu einer neuen Wissenschaftsästhetik fusioniert wurden. Von der Atomkraft bis zur Architektur wurden wissenschaftlich-technische Errungenschaften in einem exklusiven Ausstellungsdesign präsentiert, das sich an der schlichten und strengen Schönheit der Symmetrie, Disziplin und Funktionalität von Kristall- und Molekülstrukturen orientierte. Nach der Maxime „Everything is made of Atoms“ galt es, das „moderne“ Großbritannien nach dem 2. Weltkrieg als funktionales natürlich-technisches Gefüge am Reißbrett wieder aufzurichten. Diese optimistische „Autobiographie“ (S. 193) der Nation extrapolierte den wissenschaftlichen Fortschritt geradlinig in die Zukunft.

Die vierte Sektion beginnt mit einem trefflichen Wortspiel, das illustriert, mit welchen Problemen die Nationsbildung „im Feld“ zu kämpfen hatte, außerhalb gemütlicher Vereinssitzungen also: „Die Nation an der Grenze“ behandelt buchstäbliche Grenzstreitigkeiten deutscher und französischer Geographen um 1900, ferner einen veritablen Grenzfall, der zeigt, wie schwer „die Nation“, die uns so leicht über die Lippen geht, als abstrakter geographischer Raum einzufassen und das gefühlte „Vaterland“ (S. 207) einem abgrenzbaren Territorium zuzuordnen war. Iris Schröder konkretisiert die Frage nach den Grenzen der Unternehmung und des Genres „Nationalgeographie“ (S. 208) anhand des „Willen[s] zur Wissenschaftlichkeit“ (S. 210) zweier Protagonisten. Friedrich Ratzel empfahl, auf der heimischen Scholle „bewandert“ (S. 219) zu sein, legte jedoch eine umfassende Systematik Deutschlands vor, die über die föderative Struktur des Reiches hinweg gliederte und klassifizierte. Paul Vidal de la Blache präsentierte mit seinem „Tableau de la Géographie de la France“ ein Mosaik aus Einzeleindrücken und Skizzen, das regionale Besonderheiten hervorhob. Am Streitfall Elsass-Lothringen zeigte sich, wie die wissenschaftlichen Vorgehensweisen die jeweilige geographische Zuordnung bestimmten und faktisch überlappende Nationen hervorbrachten.

Sorgfältig, allemal situations- und ortsbedingt, aber durchweg objektiv und exakt bearbeitet, wurde die Nation als zusammenhängendes Terrain in den Köpfen vorstellbar. Wie die individuellen Köpfe durch flächendeckende Registratur wissenschaftlich zu einem zusammengehörenden überzeitlichen „Volk“ verarbeitet wurden, untersucht anschließend Sybilla Nikolow anhand der Bevölkerungsstatistik nach 1900. Statistische Kurven und Diagramme gaben dem individuellen Betrachter das abstrakte Konzept der „Bevölkerung“ als Gesamtheit von Durchschnittsgrößen zu verstehen, als Kollektivsubjekt, das wie ein Lebewesen Wachstums- und Alterungsprozessen ausgesetzt war. Aus zunächst zusammenhanglosen einzelnen Geburten, Eheschließungen, Todes- und Krankheitsfällen wurde ein gesunder oder kränkelnder nationaler „Volkskörper“ herausgebildet, unteilbar und doch den Anteil und die Verantwortung jedes und jeder Einzelnen für dessen zukünftiges Geschick immer präsent haltend.

Mit der fünften Sektion findet die Exkursion in das Sinnliche naturwissenschaftlicher Evidenzproduktion wieder zurück in forschungspolitische Gefilde und die Disposition, dass die nationale wissenschaftliche Gemeinschaft der Versicherung durch die internationale Gemeinschaft bedurfte. Eckhardt Fuchs argumentiert, dass sich der 1. Weltkrieg weniger als Zäsur denn als Weiche für die Herausbildung eines neuen Wissenschaftsinternationalismus erwies. Im Verlauf der Integrationsbemühungen der USA im Pazifischen Raum und in Lateinamerika realisierte sich das Inter-Nationale als Pan-Raum, in dem das Nationale als intellektuelles Zentrum überlebte: „Panamerikanismus“ (S. 281) wurde der Leitbegriff für den Aufschwung der USA zum wissenschaftlichen Hegemon. Die neue Machtposition wirkte so ermöglichend wie begrenzend für das internationale Teamwork, das sich auf westlichen Kolonialbesitz, auf das westlich-europäische Wissenschaftsmodell und auf das Englische als „universelle“ Wissenschaftssprache gründete.

Dass Internationalismus und Universalismus nicht dasselbe meinen, klärt schließlich der letzte Beitrag. Gabriele Metzler entschärft damit einen unproduktiven Gegensatz, der das Buch durchzieht und bereits auf dem Klappentext für Irritation sorgt: dass „die nationalisierende Deutung und Inszenierung wissenschaftlicher Errungenschaften mit dem universalistischen Anspruch der Wissenschaften kollidierte“. Internationalismus zielt auf die Kommunikations- und Kooperationspraxis der Forschung, Universalismus hingegen auf den Gültigkeitsbereich und nicht minder auf die Geltungsansprüche der Wissenschaft und des Wissens. Die theoretische Physik in (West-) Deutschland war vom späten 19. Jahrhundert bis nach 1945 durchweg in der einen oder anderen Weise von der internationalen Forschungsgemeinschaft isoliert. Dass die Physik explizit als nationales Unternehmen begriffen wurde, ließ die weltweiten Geltungsansprüche der Forscher nur noch höher wachsen. Die Nobelpreise, die an die deutschen Physiker fielen, waren „friedliche Siege“ (S. 292), die nicht nur die deutsche Vorrangstellung in der Welt der Physik demonstrierten, sondern auch die geistige Ordnung und Verbindlichkeit der eigenen Nation unterstützten. Wurde nach 1918 die Wissenschaft noch als „Ersatzmacht“ (S. 297) an die Front geworfen, ging jedoch die „Deutsche Physik“ (S. 302) nach 1933 in Einsamkeit zugrunde. Eine internationale Zusammenarbeit begann für die deutschen Physiker erst nach Kriegsende 1945, wobei die politische Blocksituation sogleich zur „Verwestlichung“ (S. 307) ihrer Physik nach amerikanischen Standards aufforderte.

Zusammenfassend ist zu hoffen, dass das ambitionierte Ziel des Bandes, die verworrenen Verhältnisse von Wissenschaft und Nation in der Kooperation von Geschichtswissenschaften und historischer Wissenschaftsforschung zu ordnen, nicht aufgegeben wird. Die Bringschuld liegt nicht allein bei der Allgemeinen Geschichte, auch die Wissenschaftsgeschichte ist gefragt: Ohne die kulturgeschichtliche Analyse der Bedingungen der Wissensproduktion und der Macht und Reichweite des Wissens werden die Naturwissenschaften eine mit Prestige randgefüllte Wundertüte bleiben. Eben das Unmarkierte und Geschlossene der Naturwissenschaften und die Macht ihrer „Reinheit“, sich von Partikularität freizusprechen und in der „Natur“ selbst universelle Gültigkeit aufzufinden, begründen atemberaubende Geltungsreichweiten, die Thema werden müssen, will man dem Zusammenhang von Naturwissenschaft und Nation über wissenschaftspolitische Fragen nationaler Disziplinformierung, Professionalisierung und Elitenbildung sowie über Loyalitätsbekundungen und Prestigefragen hinaus auf die Spur kommen. Seit dem späten 19. Jahrhundert, dies war bereits während der zugehörigen Konferenz angemahnt worden, haben Technowissenschaften die Welt nicht mehr nur beschrieben, sondern durch ihre Aktivitäten, Technologien und machtvollen Objekte die Welt gestaltet, wenn nicht gleichsam neu erschaffen. Die wissenschaftliche „Erfindung der Natur“ steht der „Erfindung der Nation“ gewiss nicht nach.3

Die materiellen Kulturen der Wissenschaften in die geschichtliche Analyse der Nationsbildungsprozesse einzubeziehen, hieße zu untersuchen, inwieweit auch „Naturen“ „national“ sind. Auch ohne größere Physik- und Mathematikkenntnisse ließen sich wissenschaftliche Anerkennung, Glaubwürdigkeit, Legitimation und Autorität als Ergebnisse des Aufgebotes um Normen und Konventionen nachzeichnen, in dem die Kriterien für „rationales“, „exaktes“ und „objektives“ wissenschaftliches Denken und Handeln erst durchgesetzt wurden. Man würde darauf stoßen, dass das Gemeinschaftsprojekt des europäischen wissenschaftlichen Universalismus seine instrumentellen, technischen und praktischen Standards nur unter größtem materiellen und personellen Aufwand über den Globus verbreiten konnte. Die anglo-amerikanische Wissenschaftsforschung hat längst die kolonialistisch fundierte Omnipräsenz europäischer und westlicher Konzepte thematisiert und argumentiert, dass das Ideal des Universalismus ebenso elitär wie egalitär war: Die Gemeinschaft der Gleichen mit dem Blick von Nirgendwo formierte sich unter dem Ausschluss – bzw. der Inkorporation – des Abweichenden, des Partikularen und Lokalen.4 Geradeso möchte man die Geschichtswissenschaften ermuntern, aus dem Rahmen des Gewohnten und europäisch Akzeptablen herauszutreten: Mehr Mut! Muten Sie sich und Ihren Leserinnen und Lesern mehr zu!

Anmerkungen:
1 Höhler, Sabine, Wissenschaft und Nation. Universalistischer Anspruch und nationale Identitätsbildung im europäischen Vergleich (19. und 20. Jahrhundert), Bericht über die Tagung des Zentrums für Vergleichende Geschichte Europas vom 1. bis 3. März 2001 an der Freien Universität Berlin, Tagungsbericht für H-Soz-u-Kult vom 27.03.2001, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/beitrag/tagber/hosa0301.htm>.
2 Latour, Bruno, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin 1995, S. 19.
3 Eine Klassikerin: Haraway, Donna J., Simians, Cyborgs, and Women: The Reinvention of Nature. New York 1991.
4 Aus der Fülle der Literatur zur postkolonialen historischen Wissenschaftsforschung eine weitere klassische Studie, die zudem Gender in ihre Analysen mit einbezieht: Harding, Sandra, Is Science Multicultural? Postcolonialisms, Feminisms, and Epistemologies, Bloomington 1998.

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