L. Daston (Hrsg.): Science in the Archives

Cover
Titel
Science in the Archives. Pasts, Presents, Futures


Herausgeber
Daston, Lorraine
Erschienen
Anzahl Seiten
viii, 397 S.
Preis
$ 37.50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Henning Trüper, Helsinki Collegium for Advanced Studies, University of Helsinki

Der von Lorraine Daston herausgegebene Band Science in the Archives: Pasts, Presents, Futures versammelt zwölf Beiträge zuzüglich einer Einleitung und eines Epilogs. Die Kapitel untersuchen die Frage nach dem Status von Archiven in der Geschichte der Wissenschaften, und zwar vor allem das epistemologische Problem der Gewinnung von Wissen aus Archiven sowie die Produktion von Archiven innerhalb einzelner Disziplinen. Das Potential dieser Fragestellung ist beträchtlich. Es sollen Gemeinsamkeiten von Naturwissenschaften wie Astronomie, Geologie und Medizin mit Geisteswissenschaften wie Philologie und Geschichtswissenschaft erkundet werden, die sich in empirischer und auf Temporalität gegründeter Methodik treffen. Außerdem geht es dem Band um eine wissenschaftsgeschichtliche Aufarbeitung zeitgenössischer Formen der Datenverarbeitung, wobei die historische Bedingtheit des zeitgenössischen Wissens durch ältere Formen des Archivs betont wird.

Der Band ist in vier Sektionen gegliedert. Die erste widmet sich der Geschichte solcher Naturwissenschaften, die auf Archiven aufbauen. Die einzelnen Kapitel diskutieren die Rekonstruktion eines Archivs astronomischer Beobachtungsdaten in einem einzelnen, allerdings von Brüchen der Schriftsysteme durchzogenen Forschungszusammenhang seit der babylonischen Antike (Florence Hsia, Kap. 1); die Verbindung von geologischen und paläontologischen Fossiliensammlungen in der Herstellung erdgeschichtlicher „Archive“ besonders im 18. und 19. Jahrhundert (David Sepkoski, Kap. 2); und die Sammlung medizinischer Fallgeschichten in einer nur höchst selektiv zum Zweck einzelfallbasierter Generalisierungen rezipierten, dennoch über Jahrhunderte hinweg akkumulierten „Bibliothek“ (J. Andrew Mendelsohn, Kap. 3).

Die Studien der zweiten Sektion beschäftigen sich mit wissenschaftlichen Archiven im Spannungsfeld von Antike und Moderne. Zunächst widmet sich Liba Taub den Spuren von Datensammlungen in der antiken Philosophie und gelehrten Literatur (mit Fallstudien zu Aristoteles, Theophrast und Galen, Kap. 4). Es folgt ein Beitrag von Suzanne Marchand über die Altertumswissenschaft im 19. Jahrhundert und ihr Verhältnis zur zunehmend auf die Archivforschung fixierten Geschichtswissenschaft. Die Altertumswissenschaft entwickelte zwar mit den Inschriftenkorpora eine eigenständige Form des wissenschaftlichen Archivs, wurde aber dennoch in eine randständigere Position gedrängt als zuvor (Kap. 5). Lorraine Daston analysiert schließlich die frühen Formen der „Großwissenschaft“ im 19. Jahrhundert: Mommsens Corpus Inscriptionum Latinarum und die von der Pariser Sternwarte aus initiierte und koordinierte Carte du Ciel. Hier wird neben der Engführung von Geistes- und Naturwissenschaft besonders der Kontrast zwischen Monumentalität und Fragmentierung betont, die extreme Aufspaltung der auf riesenhafte Dimensionen angelegten Forschung in einzelne Einheiten – entsprechend dem Tatsachenbegriff des Positivismus –, deren Zusammenhänge zu erarbeiten späteren Generationen vorbehalten bleiben sollte. So arbeitet Daston die „Melancholie“ einer archivalischen Sammelpraxis heraus, die das einzelne Forscherleben dem bloßen Dienst an einer glücklicheren Zukunft unterwarf (Kap. 6).

Die nächste Dreiergruppe springt zeitlich ins späte 20. Jahrhundert und beschäftigt sich mit kontroversen Positionen neuer, globaler Formen wissenschaftlicher Datenverarbeitung. Bruno J. Strasser untersucht die Transformation der Lebenswissenschaften von experimentellen in archivalische Wissenschaften. Er betont die Professionalisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die die Autorschaft von experimentellen Datensätzen betont habe, im Gegensatz zur älteren naturhistorischen Forschung, die auf Beiträge anonymer Amateure angewiesen gewesen sei. Seit den 1970er-Jahren geriet das experimentalwissenschaftliche System durch die übermäßige Zunahme erhobener Daten in eine Krise; erst die Einführung eines „konservativen“ Anreizsystems in den 1990er-Jahren – Publikationsmeriten, Zitationsindizes – für die Veröffentlichung bloßer Datensätze behob das Problem (Kap. 7). Cathy Gere analysiert die Sammlung von DNA-Proben bei indigenen Völkern, die verschiedene Stufen politischer Signifikanz durchlief, jedoch durchweg einen neokolonialen Charakter aufwies (Kap. 8). Vladimir Janković widmet sich Archivierungspraktiken in den Klimawissenschaften und deren konstitutiver Funktion für das empirische Wissen dieses Forschungbereichs seit den Siebzigern – ohne die vergangenen Daten, die von der Sammelpraxis mitbestimmt werden, gibt es kein Verständnis von „Klima“. In diese Praxis sind auch die verschiedenen politischen Bedeutungen, die sich über die Jahrzehnte hinweg in der Klimaforschung übereinander geschichtet haben, untrennbar eingebunden (Kap. 9).

Die letzte Sektion zielt auf die technologischen Zukünfte der Datenverarbeitung und verlässt den engeren Rahmen der Frage nach den Wissenschaften des Archivs. Rebecca Lemov erkundet Formen der analogen und digitalen Selbstarchivierung von Individuen für das biographische Zeit- und Selbstempfinden. Nicht allein eine Utopie von der technologischen Abschaffung des Vergessens und eine Überhöhung des Narzissmus seien dabei zu beobachten, sondern auch eine Vervielfältigung der Selbste (Kap. 10). Daniel Rosenberg betrachtet die Geschichte der digitalen Volltextsuche anhand ihres entscheidenden Instruments, der „stop list“, auf der die nicht suchbaren Allerweltswörter definiert werden. Diese Liste transformiert den Text in sein eigenes Archiv, wie anhand von verschiedenen Fallstudien – unter anderem über den von Roberto Busa, SJ, mit Hilfe von IBM ab 1949 erstellten Index Thomisticus – ausgeführt wird (Kap. 11). Abschließend betrachtet Matthew L. Jones die Frühgeschichte der Google-Suchmaschine als Technologie des „data mining“, die einen vernetzten Wandel unter anderem in den Algorithmen, den Auffassungen von Statistik, epistemischen Tugenden und neuartigen Expertenkulturen hervorgebracht habe (Kap. 12).

Die Crux des Projekts ist der Archivbegriff. Dessen Theorisierung besonders bei Foucault und Derrida zielte darauf ab, die subtilen Beiträge der staatlichen Macht zur Formierung des historischen Wissens und der kollektiven Erinnerung herauszuarbeiten. Von dieser Debatte ist eigentlich nur in den Kapiteln 7-10, die auf zeitgenössische politische Bedeutungen des Archivs eingehen, Nennenswertes übriggeblieben. Selbstverständlich arbeiten die Einleitung und verschiedene Kapitel trotzdem am Begriff des Archivs. Die Einleitung schlägt vor, das wissenschaftliche Archiv als „dritte Natur“ zu betrachten, welche die erste und zweite Natur der „empirischen“ Wissenschaften – das unverstandene Gegebene und dessen Übersetzung in eine intelligible wissenschaftliche Ordnung – überformt. Das Ziel des Archivs sei letzthin die „Vernichtung der Zeit“ (S. 11) selbst, in der die Wissenschaft auf Ewigkeit gestellt werde. Allein, die Beiträge arbeiten überwiegend nicht mit diesem Modell. An vielen Stellen scheint es, als wäre der Begriff der „Sammlung“ ausreichend gewesen. Die komplizierten Verhältnisse von Material und Text, Index, Ordnung, Zugang, Öffentlichkeit und Geheimnis, rechtlicher Strukturierung und Findeglück im behördlichen, ferner das „Nachlassbewusstsein“ im privaten Archiv, geraten nicht recht in den Fokus. In Dastons Kapitel sind es die Inschriftenabklatsche und die astronomischen Fotografien, welche die wissenschaftlichen Archive bilden. Bei Sepkoski ist es der Planet selbst, der als „natürliches“ Archiv auftritt und durch ein weiteres, selektives Archiv von „Dokumenten“ komplettiert wird. Dabei fällt aber die Frage unter den Tisch, ob Objekten und Texten derselbe epistemologische Status zugeschrieben werden sollte – nicht, dass man nun unbedingt etwa die Gadamersche Hermeneutik wieder bemühen müsste, doch wäre es sinnvoll, ihre Verabschiedung zu begründen. Bei Rosenberg wiederum ist der Text sein eigenes Archiv. Bei Mendelsohn bilden die Texte jedoch eher eine „Bibliothek“. Ob Datenbanken und Archive tatsächlich dasselbe sind, wird im Band nirgends erörtert. Das Verhältnis von Begriff und Metapher des Archivs bleibt in irritierender, andererseits auch faszinierender Weise ungeklärt. Dabei ist es durchaus sinnvoll, wie Daston einleitend bemerkt, einen offenen epistemologischen Begriff des Archivs zu entwickeln und sich nicht auf den rechtlich-institutionellen Begriff zurückzuziehen, wie es in der der Geschichtswissenschaft oft der Fall gewesen ist. Aber damit müsste sich eine Offenheit gegenüber den situativen Bedingungen des Arbeitens mit Dokumenten verbinden, die vor allem der Beitrag von Janković aufweist. Andernorts muss die Sicht auf die konstitutive Funktion der Praxis häufig zurückstehen, indem viele Kapitel das Sammeln privilegieren und davon ausgehen, dass die Nutzungsmöglichkeiten vom Material selbst in entscheidender Weise eingehegt und vorgeschrieben werden.

Es fällt auch auf, dass die älteren Machttechnologien im Archiv, etwa die Herstellung staatlicher Arkansphären und deren Expansion seit Mitte des 20. Jahrhunderts1, ausgespart bleiben. Dass das Archiv öffentlich zugänglich sei, wird fast in allen Beiträgen vorausgesetzt (ausgenommen Strassers und Lemovs Kapitel). Dabei zeigt sich gerade an diesem Punkt, dass die einfache Herabstufung des behördlich-politischen Archivbegriffs auf den Status des Spezialfalls eines allgemeinen epistemologischen Archivbegriffs nicht ausreicht. Denn auch dieser epistemologische Begriff besitzt insofern eine irreduzibel politische Bedeutung, als er eben die Öffentlichkeit des Archivs voraussetzt. Man könnte sogar den Standpunkt vertreten, dass im Verhältnis von Wissenschaftlichem und Politischem, also etwa Forschung einerseits, Macht, Ideologien, Institutionen, rechtlichen Regelungen andererseits, das eigentliche Problem des Archivbegriffs liege. Dass aber die Wissenschaftsgeschichte als Fach damit zögerlich umgeht, ist wohl auch fortdauernden Rezeptionsschranken geschuldet. Denn es ist auffällig, dass im vorliegenden Band die geschichtswissenschaftliche Literatur zur Geschichte der Praktiken archivalischer Forschung nur lückenhaft zur Kenntnis genommen wird. Dabei sind hier in den letzten Jahren viele Probleme – zum Beispiel Zugang, Praxis, der Bezug zur symbolischen Kultur des Todes und des Begehrens, das Politische, die Situationalität, der Status von Archivmedien und auch von Suchmaschinen – lebhaft diskutiert worden.2 Wenn aber nicht einmal innerhalb der Wissenschaftsgeschichte die bibliographische Überbrückung zwischen den natur- und geisteswissenschaftlichen Feldern gelingt, darf man fragen, ob das Problem der Differenzen zwischen diesen Feldern nicht doch ernster genommen werden sollte.

Anmerkungen:
1 Vgl. Joseph Masco, The Theater of Operations: National Security Affect from the Cold War to the War on Terror, Durham 2014.
2 Gar nicht genannt werden zum Beispiel Wolfgang Ernst, Im Namen von Geschichte: Sammeln – Speichern – (Er)Zählen. Infrastrukturelle Konfigurationen des deutschen Gedächtnisses, München 2003; Sebastian Jobs / Alf Lüdtke (Hrsg.), Unsettling History: Archiving and Narrating in Historiography, Frankfurt am Main 2010; Mario Wimmer, Archivkörper: Eine Geschichte historischer Einbildungskraft, Paderborn 2012; Thomas Brandstetter / Thomas Hübel / Anton Tantner (Hrsg.), Vor Google: Suchmaschinen im analogen Zeitalter, Bielefeld 2012; Daniela Saxer, Die Schärfung des Quellenblicks: Forschungspraktiken in der Geschichtswissenschaft 1840–1914, München 2014; die Arbeiten von Philipp Müller über Arkanpolitik und historische Archivrecherche im 19. Jahrhundert; und auch die Beiträge zu den englischsprachigen Themenheften von History of the Human Sciences 26/4 (2013), Storia della Storiografia 66 (2015) und History of Humanities 2/1 (2017).