L. Spanka u.a. (Hrsg.): Zugänge zur Zeitgeschichte: Bild – Raum – Text

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Titel
Zugänge zur Zeitgeschichte: Bild – Raum – Text. Quellen und Methoden


Herausgeber
Spanka, Lisa; Lorenzen, Julia; Haunschild, Meike
Erschienen
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 34,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcus Böick, Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum

Historiker/innen lassen sich nur ungern in die Karten respektive bei der Quellenarbeit über die Schultern schauen. Der konkrete Umgang mit den verwendeten Materialien wird selten offengelegt. Wie aus dem schwer durchschaubaren Gewirr an Fragen, Quellen, Literatur, Theorien und Methoden schließlich ein (hoffentlich) stimmiger Text entsteht – dieses historiographische „Betriebsgeheimnis“ wird meist gut gehütet. Eine Gruppe junger Autorinnen will im vorzustellenden Sammelband den Schleier lüften, dabei neue Perspektiven zur Diskussion stellen und Angebote an Nachwuchswissenschaftler/innen formulieren. Ein solches Vorhaben entpuppt sich als selbstvergewisserndes Bedürfnis einer nachwachsenden Alterskohorte, die sich in ihrer Forschungspraxis – aller in den letzten Jahren forciert-verschulender Betreuungsangebote zum Trotz – alleingelassen fühlt.

Die drei Herausgeberinnen rücken besonders solche Quellengruppen in den Fokus, die im Fach Zeitgeschichte auch nach mehreren, mit diversen „Turns“ angefüllten Jahrzehnten weiterhin spezielle theoretische Unterfütterungen oder inhaltliche Begründungen erfordern. Es geht um Quellengattungen wie Bilder, Fotografien, Filme, Ausstellungen, „Zeitzeugen“-Interviews oder ethnologische Beobachtungen. Drei grundsätzliche Umgangsformen werden eingangs ausdifferenziert: Neben umfassenden „Methodentransfers“ bzw. „Methodenadaptionen“ aus anderen Fachdisziplinen stehen „theoriegeleitete Methodenentwicklungen“, die pragmatisch zwischen Theorie und Methode vermitteln, sowie schließlich die gezielte (Eigen-)Produktion von Quellenmaterial (S. 9ff.). Somit kreisen alle Beiträge um die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Theorie, Methode und Empirie in der historiographischen Alltagspraxis. In sieben Texten unterbreiten sieben Autorinnen und ein Autor hierzu Vorschläge.

In der ersten Abteilung stehen „Methodenadaption und -transfer“ im Mittelpunkt. Julia Lorenzen untersucht „Bilder inszenierter Ereignisse“, nämlich fotografische Quellen zu Firmenjubiläen der Daimler-Benz AG. Am Beispiel eines im Kontext des 100. „Autogeburtstags“ im Jahr 1986 aufgenommenen Pressefotos, das Bundeskanzler Helmut Kohl in Stuttgart gemeinsam mit Daimler-Benz-Chef Werner Breitschwerdt auf einer Nachbildung des ersten Automobils zeigt, wird diese Inszenierung über eine systematische Bildanalyse dekonstruiert. Die traditionsbetonte Selbstrepräsentation des Großkonzerns war darauf ausgerichtet, so Lorenzen, bestehende Interessengegensätze zwischen Politik und Automobilindustrie zu überdecken, was jedoch dank einer kritischen Berichterstattung in den Medien kaum gelungen sei. Vielmehr schien der sorgsam inszenierte Schulterschluss latente Konflikte noch zu unterstreichen. Im Anschluss widmet sich Meike Haunschild „Fernsehbeiträge[n] als historische[n] Quellen“ und exemplifiziert ihr Vorgehen am Beispiel einer Reportage über Obdachlose aus dem Jahr 1971. Systematisch untersucht sie Metadaten (Sendeplatz, Länge, Einbettung), visuelle Formen, erzählte Inhalte und schließlich breitere gesellschaftliche Kontexte des im Südwestrundfunk (SWR) ausgestrahlten Beitrags. Haunschild schließt mit der Pointe, dass die ausgesprochen antikapitalistisch orientierte Reportage von Freiburger Studenten für ein experimentelles, nach 1968 eingerichtetes Jugendsendeformat gestaltet wurde. Beide Aufsätze plädieren letztlich für ein striktes Interpretationsverfahren: Statt sich hermeneutisch auf die eigene „Intuition“ beim Betrachten des Quellenmaterials zu verlassen, sollten medienwissenschaftlich-distanzierende Analysemethoden zur Anwendung gelangen.

In einer zweiten Abteilung werden „Theoretischer Zugriff und Entwicklung einer eigenen Methodologie“ betrachtet. Claudia Czycholl stützt sich auf Bilder von „Gastarbeiter_innen“, um den quellenkritischen Umgang mit Presse- und Privatfotografien in ihren Wechselwirkungen zu erkunden. Nach einer ausführlichen theoretischen Herleitung nutzt sie ein Verfahren zur Einzelbildanalyse, indem sie ein um 1975 privat aufgenommenes (Farb-)Foto eines griechischen „Gastarbeiters“ vor seinem neu erworbenen Ford in mehreren Schritten untersucht. Diese Inszenierung diente laut Czycholl sowohl einer biographischen Selbstvergewisserung als auch einer legitimatorischen Außendarstellung. Das gefällige Posieren vor dem Wagen habe einen dezidiert männlich konnotierten „Erfolg“ der Migrationsentscheidung visuell in Szene gesetzt. Hans-Gerhard Schmidts Beitrag „Verfolgungsleiden entschädigen“ wendet sich von den bisher behandelten visuellen Quellen ab und einer klassischen Quellengruppe zu – den Fallakten aus der bundesdeutschen Entschädigungspraxis der 1950er- und 1960er-Jahre. In diesem reichhaltig beforschten Terrain1 soll nun durch theoretische Rekombination methodische Innovation produziert werden. Schmidt unterscheidet zwischen „institutionellen Eigendynamiken“, die die Behördenabläufe geprägt hätten, und „individuellem Eigensinn“, der die Antragsteller angetrieben habe. Durch die Untersuchung der Eigen-Geschichtlichkeit der Wiedergutmachungspraxis, den hieraus bestimmbaren „Leitdifferenzen“ (zwischen „wiederherstellender“ und „verteilender“ Gerechtigkeit) sowie der vielfältigen Machtspiele auf der Mikroebene könne dieses Quellentableau „von den Rändern“ her auf neue Weise gelesen werden. Eine „Analyse der Mikromächte der Entschädigung“ könne so zu einer „Alltagsgeschichte der Demokratisierung der Bundesrepublik“ bei der „Ausformung ihrer demokratischen Gouvernementalität“ beitragen (S. 175). Im Anschluss widmet sich Lisa Spanka möglichen „Zugänge[n] zur Zeitgeschichte mit dem Museum“ und thematisiert die Analyse von Repräsentationen nationaler und geschlechterbezogener Identitätsangebote. Hierzu vergleicht sie die Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums (DHM) mit derjenigen des Dänischen Nationalmuseums. Durch den Blick auf Gestalter und Besucher sowie auf Kontexte, Narrative und Arrangements (Räume, Objekte, Texte) will Spanka das jeweils leitende „Museumsdispositiv“ systematisch entschlüsseln. Das „Gendering“ der Ausstellungen falle unterschiedlich aus: Während im DHM ein klar männlich besetztes Motiv des wirtschaftlichen Wachstums und technologischen Fortschritts als dominant erscheine, definiere das dänische Museum die Nationalgeschichte eben nicht selbstverständlich als traditionelle „Männergeschichte“.

Der letzte Themenabschnitt will der „Generierung eigener Quellen“ zu ihrem Recht verhelfen. Uta Bretschneider und Merve Lühr geben hierfür einen Überblick zu „Zeit.Zeugen“ bzw. „Qualitative[n] Interviews“. Hierfür werden sämtliche Arbeitsschritte der „Oral History“ bündig und idealtypisch abgehandelt. Auf zentrale Vorüberlegungen (wie die Identifikation einer Forschungsfrage oder die Reflexion methodischer Vor- und Nachteile) folgen praktische Vorbereitungen (Auswahl, Kontakt, Leitfaden) sowie die konkrete Durchführung (Kommunikationsdynamik, Verlaufsprotokolle). Erläuterungen zur zeitintensiven Nachbereitung (Transkription, Auswertung, Nachhaltigkeit) beschließen den Beitrag. Am Ende plädieren Bretschneider und Lühr offensiv für eine multiperspektivische Vielfalt der Quellen, wobei „selbstproduzierte“ Erinnerungsinterviews als eine interessante, aber auch anspruchsvolle Option unter mehreren Angeboten rangieren. In der historiographischen Arbeitspraxis am wenigsten verbreitet dürfte die von Christine Hämmerling umfassend vorgestellte „teilnehmende Beobachtung“ sein. Obgleich gerade die Ethnologie infolge der kulturellen „Wenden“ der 1980er- und 1990er-Jahre zu einer Leitperspektive auch für historiographische Erkenntnisinteressen aufgestiegen ist, spielt ihre konkrete Forschungspraxis in der Geschichtswissenschaft (aus naheliegenden Gründen) kaum eine Rolle. Hämmerling stellt demgegenüber die ethnographische Feldforschung in ihren Grundannahmen, Abläufen und Interpretationsverfahren als „weiche“ Methode vor. Für Historiker/innen könne eine methodisch kontrollierte Beobachtung alltäglicher, subjektiver Aneignungsprozesse von Geschichte an spezifischen (Erinnerungs-)Orten (in Museen, in der Schule, bei Festen usw.) dabei von Interesse sein.

Wie eingangs erwähnt, bildet der Schrecken der Erstbegegnung mit der Forschungspraxis im von Quellen, Theorien und Deutungsangeboten geradezu überfluteten Feld der Zeitgeschichte den Ausgangspunkt des Bandes. Können die Beiträge diese Berührungsängste mindern? Für Master-Absolventen bzw. Doktoranden dürfte die Lektüre der vielstimmigen Aufsätze ein Gewinn sein, obwohl die Herausgeberinnen auf eine vertiefte Synchronisierung der Texte leider verzichtet haben. Gerade bei längeren theoretischen Ausführungen wäre zu diskutieren, inwiefern ein weitreichender theoretisch-methodischer Transfer- bzw. Reflexionsaufwand die mitunter doch erwartbaren Resultate tatsächlich rechtfertigt. Zudem drängt sich die Frage auf, ob theoretisch-methodische Debatten in einer spätkulturwissenschaftlich grundierten Geschichtswissenschaft nicht auch ohne ein fast schon rituelles Abschreiten der üblich-verdächtigen „Säulenheiligen“ von Foucault bis Bourdieu, von Arendt bis Butler auskommen könnten. Ein solcher „Herdentrieb“ erzeugt unverkennbar neue Blindstellen: Interessanterweise arbeiten sich fast alle Beiträge an (eigentlich gar nicht mehr so) neuen Quellengattungen ab, doch gerade Schmidts Beitrag unterstreicht die Notwendigkeit, auch klassische Archivquellen bzw. die traditionelle Quellenkritik wieder zur Diskussion zu stellen (und zwar stärker, als der Autor dies selbst tut). Warum sollten Bilder, Filme oder Interviews letztlich intensiverer Analysen und (Selbst-)Reflexionen bedürfen als etwa eine komplizierte Verwaltungsakte, ein statistischer Fragebogen oder ein verdichtetes Vorstandsprotokoll? Dabei wäre zu wünschen gewesen, dass die Beiträge auch verstärkt den Schreib- und Darstellungsprozess als unmittelbar an die Quellenarbeit angrenzenden Arbeitsvorgang thematisiert hätten.2 Darüber hinaus kann man den Herausgeberinnen nicht zum Vorwurf machen, dass sie einige heiße Eisen unberührt im Feuer haben liegen lassen, die aber gerade für angehende Doktorandinnen und Doktoranden interessant gewesen wären: Wie verändert die in den letzten Jahren allerorten massiv ausgebaute Verbundforschung in oft interdisziplinär zusammengesetzten Kollegs oder Forschergruppen die geschichtswissenschaftliche Promotionspraxis? Sind junge Historiker/innen dabei häufig auf eine randständige Rolle als bloße „Empiriker“ bzw. unterreflektierte „Theorieempfänger“ festgelegt? Wie lassen sich kollektive Forschungsanstrengungen mit dem traditionellen „Einzelkämpfertum“ einer Promotion produktiv verknüpfen, damit auch individuelle Interessenschwerpunkte und Leistungen zur Geltung kommen?

Anmerkungen:
1 Siehe etwa Norbert Frei / José Brunner / Constantin Goschler (Hrsg.), Die Praxis der Wiedergutmachung. Geschichte, Erfahrung und Wirkung in Deutschland und Israel, Göttingen 2009.
2 Vgl. etwa Valentin Groebner, Wissenschaftssprache. Eine Gebrauchsanweisung, Konstanz 2012; Alexander Kraus / Birte Kohtz (Hrsg.), Geschichte als Passion. Über das Entdecken und Erzählen der Vergangenheit. Zehn Gespräche, Frankfurt am Main 2011.