Titel
Als Truppenarzt an der Ostfront. Feldpostbriefe von Dr. Walther Jung an seinen älteren Schwager Josef Reichardt, 1941–1944


Autor(en)
Jung, Otmar
Erschienen
Anzahl Seiten
678 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Reinhold Lütgemeier-Davin, Kassel

Otmar Jung, Zeithistoriker, Politologe und Jurist, bis 2012 Privatdozent an der FU Berlin, bietet in seinem jüngsten Werk weit mehr als das, was der Buchtitel vermuten lässt. Er liefert den vollständigen Abdruck von 124 transkribierten Feldpostbriefen und -karten seines Vaters, eines Mediziners, geschrieben an der Ostfront, maßgeblich gerichtet an dessen Schwager, einen Lehrer und Kunstmaler. Das Konvolut der Briefe wird von Otmar Jung mit einem biographisch-familiengeschichtlichen und einem militärgeschichtlichen Ansatz sowie unter Verwendung der umfangreichen Feldpostbriefforschung untersucht.

Formal gliedert sich der Band in vier Kapitel: 1. die Teilbiographie seines Vaters Walther Jung (1913–2010) von seiner Kindheit und Jugend in einem konservativ-katholischen Elternhaus in St. Ingbert, über seine Studienjahre in Innsbruck und München, seinen Eintritt ins Berufsleben als Landarzt, seine Heirat bis hin zu seiner Einberufung, ergänzt durch eine breit angelegte Darstellung des Milieus, in dem seine Eltern und Geschwister lebten (Umfang ca. 250 Seiten); 2. die eigentlichen Feldpostbriefe mit dem Schwerpunkt in den Jahren 1942/43, hauptsächlich verfasst in Sewastopol und Rshew, angelegt nicht als intime, exklusiv an seinen Schwager gerichtete Mitteilungen und Reflexionen, sondern zugleich als Informationsquelle für weitere Familienmitglieder (ca. 140 Seiten); 3. eine äußerst akribische und eindringlich-tiefgründige Inhaltsanalyse dieser Briefe auf der Basis archivalischer Forschungen und der Hinzuziehung wissenschaftlicher Literatur (ca. 170 Seiten) und 4. die Fortsetzung der Teilbiographie seines Vaters mit eindeutiger Schwerpunktsetzung auf das Kriegsende und die unmittelbare Nachkriegszeit (ca. 170 Seiten). Hinzu kommt ein dem Inhaltsverzeichnis nicht zu entnehmender nicht unbeträchtlicher Teil, der sich in Fußnoten verbirgt. Diese wachsen sich mitunter zu seitenlangen kritischen, auf gewissenhafte Recherche beruhenden Auseinandersetzungen mit der Forschungsliteratur sowie weiteren Details der Familiengeschichte aus. Insofern es sich hierbei nicht bloß um Verifizierungen der Darstellung und Analyse handelt, sondern um die Einordnung in historische oder wissenschaftliche Zusammenhänge, können diese Anmerkungen keinesfalls einfach überschlagen werden. Sie sind integraler Bestandteil der Analyse selbst. So aufschlussreich sie auch vielfach sind, so erschweren sie zweifellos den Lesefluss erheblich. Der Rezipient muss sich auf eine Fülle von Darstellungs- und Argumentationssträngen einlassen, will er die Tiefe, Schärfe, Gründlichkeit der historischen Analyse mit hinreichendem Erkenntnisgewinn erfassen.

Kern des Buches sind selbstverständlich die Feldpostbriefe selbst. Die in zwei Teile aufgesplitterte Biographie Walther Jungs ist darauf angelegt, dem Leser selbst Freiräume zur Deutung der Feldpostbriefe zu lassen und ihn in die Lage zu versetzen, die Interpretationen Otmar Jungs im 3. Kapitel zu ergänzen, zu modifizieren, eventuell gar zu korrigieren. Viele Einzelheiten sind allerdings dem familiengeschichtlichen Interesse des Autors geschuldet und für die Erschließung der Feldpostbriefe von keinem oder nur marginalem Belang. Sie bieten zwar ein facettenreiches Kolorit der Familienverhältnisse einer gutbürgerlichen katholisch-konservativen Familie, in dem ihre Mitglieder um sozialen und gesellschaftlichen Aufstieg ringen, sie liefern aber nur sehr vermittelt Ansätze zur Deutung der Einschätzungen Walther Jungs im Felde. Die eigentliche Herausforderung für den Historiker, Politikwissenschaftler und Juristen Otmar Jung ist zweifellos das 3. Kapitel gewesen, in dem er sehr präzise Einzelaspekte der Briefe seines Vaters analysiert, vergleicht, wertet und in historische Zusammenhänge einordnet. Damit setzt der Autor hohe Maßstäbe für weitere Feldpostforschungen.

Kein hochrangiger Offizier mit Entscheidungsbefugnissen und Verantwortlichkeiten für den Vernichtungs- und Weltanschauungskrieg war Verfasser der Briefe, kein einfacher Soldat, der von eben diesen Offizieren als Befehlsempfänger und häufig als Kanonenfutter wahrgenommen wurde, sondern ein junger Arzt in Uniform. Er versah seinen Dienst zwar mitunter unmittelbar hinter der Front, war aber in das Kampfgeschehen selbst nicht involviert. Als Arzt formal nicht in die militärische Hierarchie des Offizierskorps eingebunden, war er aufgrund seiner fachlichen Kompetenz und seiner sozial bedeutsamen Rolle in der Truppe von beachtlicher Relevanz für die Armee. Allein die Präsenz eines Arztes in Frontnähe konnte das Risiko der Soldaten mindern, an Verwundungen zu sterben; er trug zur Stabilisierung der Truppenmoral erheblich bei. Weder verantwortlich für die Umsetzung von Führerbefehlen noch für das unmittelbare Kampfgeschehen, nahm Walther Jung als Truppenarzt eine gesonderte Stellung ein. In seinen Briefen kann er als Beobachter des Zeitgeschehens fungieren, vielfach durchaus kritisch, aber nicht frei von nationalsozialistischer Indoktrination.

Seine Briefe waren gerichtet an seinen Lieblingsschwager, Kriegsteilnehmer des Ersten wie des Zweiten Weltkrieges, einen Mann, der zur NSDAP eine gewisse Distanz gewahrt hatte, ohne allerdings auch nur im Ansatz Widerstandskämpfer zu sein; aufgrund einer Denunziation war er 1936 für einige Wochen in Schutzhaft genommen worden, blieb zeitweise vom Schuldienst suspendiert, entging aber seiner endgültigen Entlassung. Und auch Walther Jung pflegte zumindest als Student nur ein distanziertes Verhältnis zu den Nationalsozialisten, er war erst im Weltkrieg der Partei als passives Mitglied beigetreten. Als Mediziner zeigte er an Rassenhygiene kein Interesse; sein Schwerpunkt war die Chirurgie – und damit war er für den Dienst in Lazaretten besonders qualifiziert, allerdings nicht für die Umsetzung des Euthanasieprogramms der Nationalsozialisten.

Grundsätzliche Ablehnung des Einsatzes militärischer Gewalt war von den beiden Korrespondenzpartnern nicht zu erwarten. Walther Jung wertete gar seinen Fronteinsatz als Mutprobe und Chance, um als Arzt im Offiziersrang Karriere zu machen. Der Krieg war zwar für ihn ein gegenseitiges „Massenabwürgen“ (S. 297), widerlich und mit einem hohen Blutzoll verbunden, aber dennoch begriff er den Krieg „aus dieser Nähe“ als außerordentliche Erfahrung, die er nicht missen wollte (S. 288f.).

Walther Jung hat Schriftzeugnisse vorgelegt, die sich in Differenziertheit und Ausdrucksvermögen von denen gemeiner Soldaten oft unterschieden, wenngleich sie unter großer Anspannung, Zeitnot und unmittelbarer physischer Bedrohung entstanden sind. Er bemühte sich um relative Ausgewogenheit bei der Urteilsfindung, schwärmte mitunter gar von den Fachkenntnissen seiner russischen Kollegen, ohne eine Spur von Rassendünkel. Sein Respekt vor dem russischen Ärztewesen kreuzte sich allerdings mit seiner Einschätzung des „Durchschnittsrussen“, für ihn meist „dumpf und dumm“ mit „wahren Galgenvögelgesichtern“ (S. 292) und gemeinhin gutmütig, wenn er „nicht maßlos verhetzt, vertiert oder verängstigt sich sinnlos verteidigt[e]“ und nicht durch den Kommunismus verdorben sei (S. 282). Der „barbarische Russe“ sei ausgezeichnet motorisiert, bewaffnet und von hoher Widerstandskraft, das „Menschenreservoir an Kämpfern“ (S. 374) sei unerschöpflich. Der Einsatz von Frauen in der Armee kollidierte mit seinem konservativ-patriarchalischen Frauen- und Familienbild, hoffte er doch selbst, nach dem Krieg, seine Ehefrau gut „führen“ zu können (S. 338).

Als Walther Jung zum Einsatz in Russland kam, waren viele der dort ehemals lebenden Juden in der Phase des Blitzkriegs von den Einsatzkommandos bereits umgebracht worden. Aber als Ohrenzeuge der Massenmorde musste er sich zum Völkermord positionieren. Sein Sohn Otmar interpretiert dessen spärlichen Äußerungen hierzu als eine „verzweifelte Sinnsuche“, als Versuch, auf dem Wissenshorizont von 1942 dem Völkermord eine gewisse Legitimation abzuringen (S. 544). Eine der wenigen, aber doch aufschlussreichen Bemerkungen über Juden analysiert Otmar Jung auf mehr als dreißig Seiten. Es handelt sich um eine Passage in dem Feldpostbrief vom 2. Mai 1942, in dem es unter anderem heißt:

„Über die Rolle des Judentums will ich nicht viel schreiben. Es genügt, daß der größte Teil der Kommissare und der kommunistischen Parteileitung aus Juden bestehen. […] Die Juden wurden freilich im besetzten Rußland liquidiert, mit Frauen und Kindern. Aber wie sahen die Gefängniskeller der Städte und Dörfer aus? Tausende von ‚Bourgeois‘, deutschfreundliche Russen, leider auch gefangene deutsche Soldaten waren greulich zugerichtet. […] Und so hat sich auch das Judentum schuldig gemacht an dem Elend Rußlands. Mehr will ich nicht dazu sagen.“ (S. 295f.)

Walther Jung wurde nicht zum Täter, aber er wusste von den Kriegsverbrechen seiner Kameraden, vom Völkermord an den Juden, von willkürlichen Tötungen Gefangener, von Politkommissaren und Zivilisten. Über die Verarbeitung dieser Erfahrungen schwieg er sich nach dem Weltkrieg offenbar weitgehend aus.

Die Darstellung Otmar Jungs ist zuweilen unnötig ausschweifend; das mag störend wirken. Aber die analytische Schärfe der Untersuchung, gerade im 3. Kapitel, lohnt die Lektüre des bemerkenswerten Feldpostfundes.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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