: Plastic Reason. An Anthropology of Brain Science in Embryogenetic Terms. Oakland, California 2016 : University of California Press, ISBN 9780520288133 352 S. $ 34.95; £ 28.00

Bates, David; Bassiri, Nima (Hrsg.): Plasticity and Pathology. On the Formation of the Neural Subject. New York City 2016 : Fordham University Press, ISBN 9780823266142 ? $ 28.00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Leander Diener, Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte, Universität Zürich

Das Gehirn nimmt in der philosophischen Anthropologie seit dem späten 18. Jahrhundert einen wichtigen Platz ein. Selbstbezüge und Selbstkonzeptionen des modernen Subjekts, des homo cerebralis, wurden seither an dieses zentrale Organ geknüpft, menschliche Charaktereigenschaften anhand seiner Morphologie und funktionellen Organisation identifiziert und lokalisiert.1 Diese vielgestaltigen wissenschaftlichen und philosophischen Selbstvergewisserungen lassen sich gewinnbringend historisieren, weil in der Untersuchung verschiedener Gehirnmodelle die Wechselwirkung zwischen wissenschaftlichen und populären Wissensbeständen über das Hirn erkennbar wird. Dergestalt behandeln die grossen Narrative in der Geschichte der Hirnforschung meist Zirkulations- und Translationsprozesse zwischen bestimmten Forschungsinhalten und allgemeineren Diskursen über die Natur des Menschen.2

Diesem Kanon wird anhand der Geschichte der Erforschung neuronaler Plastizität in der 2016 veröffentlichten Dissertation des Anthropologen Tobias Rees, die „plastic reason“ hinzugefügt. Seit der Begründung der modernen Neuronendoktrin im späten 19. Jahrhundert (der Annahme, das Nervensystem setze sich aus untereinander verbundenen Nervenzellen zusammen) bestand eine Grundannahme der Hirnforschung darin, dass sich die Struktur des neuronalen Netzwerks im Alter nicht wesentlich ändern würde. Gewisse Beobachtungen zeigten einzig, dass sich Neuronen auch im Alter neu verknüpfen konnten, was als „neuronale Plastizität“ bezeichnet wird. Ab den späten 1980er-Jahren wiesen Forschungsergebnisse allerdings darauf hin, dass entgegen der älteren Überzeugung auch im adulten Gehirn neue Nervenzellen entstehen können (Neurogenese). Neben der neuronalen Plastizität wurde insbesondere die adulte Neurogenese so zu einem Faszinosum der Hirnforschung, weil bis zu diesem Zeitpunkt das Absterben von Nervenzellen für irreversibel gehalten wurde. Das titelgebende „plastische Denken“ macht indes bereits klar, dass es sich bei diesem Buch nicht primär um eine Wissenschaftsgeschichte der Hirnforschung und der adulten Neurogenese handelt (darum nicht „plastic brain“). Vielmehr dient die Forschungsgeschichte der Konturierung einer „anthropology of reason“ und damit dem Versuch, einer Neukonzeptualisierung des Gehirns „and its humans“ zu folgen. (S. viii)

Im Zentrum des Buches steht der Zeitraum März 2002 bis Juli 2003, in dem Rees die Forschungstätigkeiten der Gruppe eines Pioniers der Plastizitätsforschung, Alain Prochiantz, an der École Normale Superieure (ENS) in Paris partizipierend beobachtete. In fünf, jeweils von kurzen Reflexionen unterbrochenen Hauptkapiteln (umrahmt von zwei kurzen Kapiteln, die den Ein- und Austritt ins Pariser Labor behandeln) wird die Arbeit dieser Forschungsgruppe beschrieben. Im einleitenden ersten Kapitel erklärt Rees, dass er sein eigentliches Forschungsvorhaben, eine Untersuchung des vergleichsweise späten Auftauchens der Biotechnologie in Frankreich, aufgegeben habe, als er unverhofft ins Labor von Prochiantz in Paris eingeladen wurde. Prochiantz forschte zu dieser Zeit an Homöoproteinen (die für die Neubildung von Neuronen verantwortlichen Proteinketten) und versuchte, den Nachweis von Homöoproteinen in adulten Gehirnen als Ursache für die beobachtete adulte Neurogenese zu erbringen. Auf Gaston Bachelards Konzept der „regional rationality“3 referierend analysiert Rees im zweiten Kapitel die sozialen und relationalen Umstände, die den Widerstand und die Aufnahme von Prochiantz’ Idee, das adulte Gehirn in embryogenetischen und das Menschliche in plastischen Begriffen zu denken, begleiteten.

Diese Idee stiess anfänglich vielerorts auf Ablehnung, weil sie sowohl älteren Vorstellungen neuronaler Fixität als auch damit verbundenen Annahmen über das menschliche Denken, dem „distinctively human“ (S. 62), widersprach. Rees spannt im dritten Kapitel den Bogen von den 1830er- bis in die 1980er-Jahre, um die Dominanz des Fixitätsparadigmas, „the anatomical fixity of the adult human brain“ (S. 89), historisch herzuleiten. Obwohl in der historischen wissenschaftlichen Literatur in Zusammenhang mit der Hirnforschung stellenweise von Plastizität gesprochen worden war, zeigt Rees auf, dass diese älteren Plastizitätskonzeptionen immer auf Grundannahmen neuronaler Fixität basierten. Vor diesem Hintergrund begann sich Prochiantz mit den Denkmöglichkeiten des menschlichen Gehirns zu beschäftigen. Diese epistemische Arbeit, die Rees in den nächsten zwei Kapiteln expliziert, eröffnete erst die Möglichkeit der laborbasierten Erforschung und Interpretation der adulten Neurogenese. Wichtig waren hierfür vor allem zwei Dinge: zum einen die gewissermassen vorkonzeptuellen („nocturnal work“) und zum anderen die praktischen Arbeiten („construction work“) während des Experimentierens („material art“) und danach („actualization of possibilities“).

Die Entdeckung der neuronalen Plastizität wird schliesslich im sechsten Kapitel als „ethical event“ beschrieben, der das Selbstverständnis der Wissenschaftler (das „being neurologically human“) entsprechend beeinflusst (S. 197). Rees führt die Ethik der neurowissenschaftlichen Forschung als „battle about the human“ anhand dreier Forscherpersönlichkeiten vor. Während zur Charakterisierung der Anhänger des Fixitätsparadigmas Wörter wie „sober, neutral, rational“ oder „anti-romantic, de-illusionary, realistic“ und Maschinenmetaphern fallen, werden die Anhänger des Plastizitätsparadigmas (etwa Prochiantz selber) mit Begriffen wie „growth, differentiation, proliferation, flexibility, morphogenesis, adaptation, individuation“ belegt (S. 218).

„Plastic Reason“ soll kein „mere recounting of the discovery of cerebral plasticity“ sein, sondern in Form einer „anthropology of knowing and thinking“ am Fallbeispiel der adulten Neurogenese die Idee der irreduziblen Unsicherheit darstellen, die jeder wissenschaftlichen Praxis innewohnt.4 Rees reagiert mit einer derartigen „anthropology of the contemporary“ auf ein Krisenbewusstsein der Sozialtheorie, indem er einen eigenen Ansatz für die Anthropologie propagiert.5 „Plastic Reason“ ist damit eine anthropologische Studie über die Art und Weise, wie man die Offenheit wissenschaftlicher Forschung analytisch fassen kann. Daneben ist das Buch aber auch eine historische Darstellung der neurowissenschaftlichen Konzepte der Hirnforschung seit dem späten 19. Jahrhundert, auf die Rees mit seinem Argument über die Neuheit des „plastischen Gehirns“ aufbaut. Während nämlich die seit rund fünfzehn Jahren bestehende Historiographie zur neuronalen Plastizität überwiegend versuchte, im 19. und frühen 20. Jahrhundert historische Vorläufer von Plastizitätsideen zu suchen und Traditionslinien zu ziehen6, betont Rees den grundlegenden Bruch zwischen einer früheren Fixitäts- und einer späteren Plastizitätsidee in den 1980er-Jahren.7 Das Buch leistet demnach zweierlei: Es präsentiert einen eigenen Ansatz der historischen Epistemologie anhand eines neurohistoriographischen Beispiels und unterbreitet einen Vorschlag zur Periodisierung der Geschichte der Neurowissenschaften im 20. Jahrhundert.

Während die Untersuchung der konzeptuellen Denkarbeit zur Ermöglichung des Plastizitätsparadigmas, das heisst die produktive Veränderung des neurowissenschaftlichen Imaginationsraumes parallel zur Erforschung der adulten Neurogenese spannende Konzepte für eine Wissens- und Wissenschaftsgeschichte bereitstellt, vermag Rees’ historische Darstellung nicht restlos zu überzeugen. Sein Fokus auf „knowing and thinking“ verstellt zuweilen die genaue Analyse von historischen experimentellen Zusammenhängen. Grundlegende technische Innovationen wie z.B. das Elektronenmikroskop oder die funktionale Magnetresonanztomographie werden beispielsweise nur en passant erwähnt, Färbemethoden und histologische Methoden nicht problematisiert. Doch darum soll es primär auch nicht gehen. Rees möchte mit der „anthropology of knowing and thinking“ und seinem Fokus auf „conceptual“ und „nocturnal work“ explizit mehr leisten als eine „technical description of experimentation“ in der Tradition von Ian Hacking und Hans-Jörg Rheinberger (S. 270–271). Allerdings bleibt seine Beschäftigung mit dem „space of possibility a particular experimental system can create“ ohne eingehende Untersuchung der tatsächlichen experimentellen Umstände zuweilen etwas im luftleeren Raum hängen. Nichtsdestotrotz stellt das Buch eine lohnenswerte Lektüre auch für Historikerinnen und Historiker dar, weil es ein provokatives und übergreifendes Narrativ zur neuronalen Plastizität präsentiert, wo bislang praktisch nur spezialisierte Einzelstudien existieren.

Anmerkungen:
1 Michael Hagner, Homo Cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn, Frankfurt am Main 2000.
2 Beispielsweise Anne Harrington, Medicine, Mind, and the Double Brain, Princeton 1989; Michael Hagner, Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung, Göttingen 2004; Cornelius Borck, Hirnströme. Eine Kulturgeschichte der Elektroenzephalographie, Göttingen 2005.
3 Gaston Bachelard, Le Rationalisme Appliqué, Paris 1949.
4 Tobias Rees / Plastic Reason by Tobias Rees, author of “Plastic Reason: An Anthropology of Brain Science in Embryogenetic Terms” / <http://www.ucpress.edu/blog/tag/tobias-rees/> (20.11.2017).
5 Zur Krise der Sozialtheorie Tobias Rees, As if „theory“ is the only form of thinking, and „social theory“ the only form of critique: thoughts on an anthropology BST (beyond society and theory), in: Dialectical Anthropology 35 (2011), S. 341–365. Zur „anthropology of the contemporary“ siehe Paul Rabinow u.a., Designs for an Anthropology of the Contemporary, Durham 2008; Tobias Rees, After Ethnos, forthcoming, Durham 2018.
6 z.B. Edward G. Jones, NEUROwords 8 plasticity and neuroplasticity, in: Journal of the History of the Neurosciences: Basic and Clinical Perspectives 9 (2000), S. 37–39; Javier DeFelipe, Brain plasticity and mental processes: Cajal again, in: Nature Reviews Neuroscience 7 (2006), S. 811–817.
7 Der Band „Plasticity and Pathology. On the Formation of the Neural Subject“ versammelt Aufsätze, die 2014 an einem zweitätigen Workshop an der University of California, Berkeley präsentiert wurden. Der Schwerpunkt des Bandes liegt auf der Analyse des „neuronalen Subjekts“, das im Rahmen der Ablösung des Fixitäts- durch das Plastizitätsparadigma entstanden sei und eine neuartige Kategorie der philosophischen Anthropologie darstellen soll. David Willim Bates (Hrsg.), Plasticity and Pathology. On the Formation of the Neural Subject, Berkeley 2016.

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