Cover
Titel
Fascism in Manchuria. The Soviet-China Encounter in the 1930s


Autor(en)
Hohler, Susanne
Reihe
Library of Modern Russian History
Erschienen
London 2017: I.B. Tauris
Anzahl Seiten
X, 262 S.
Preis
£ 69.00; $ 110.00; € 83,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Wagner, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Bücher sollen an ihrem eigenen Anspruch gemessen werden – das gilt für Leser, Rezensenten und Verleger gleichermaßen. Letztere schrieben „Facism in Manchuria“ jedoch zu, was zu erfüllen es selbst gar nicht beansprucht – etwas über das Zusammentreffen von Russen und Chinesen in der staatsfernen und multiethnischen Mandschurei der Zwischenkriegszeit zu erzählen.1 Wer Susanne Hohlers Studie mithin liest, um etwas über „Soviet-Chinese Encounters in the 1930s“, so der Verlagstitel, zu erfahren, wird verwundert sein: Chinesen kommen darin nicht vor, denn von ihnen will die Promotionsschrift Hohlers auch nicht berichten (S. 12). Zwar liegt der geografische Raum, der außerhalb Chinas als „Mandschurei“2 bekannt ist, damals wie heute auf chinesischem Boden. Doch in den 1930er-Jahren, die Hohler untersucht, entstand hier infolge der japanischen Besetzung ein Staat von Japans Gnaden – Mandschukuo. Und erneut ist der Leser überrascht: Dieser Raum im Nordosten Chinas – dreimal so groß wie Deutschland – steht nicht im Fokus der Arbeit. Hohlers „Setting“ nämlich ist eine Stadt – Harbin (S. 18).

Das Verdienst Hohlers ist es, auf die faschistische Bewegung russischer Emigranten im Harbin der 1930er-Jahre aufmerksam zu machen. Misst man die Monografie nicht am Verlagstitel, sondern am eigenen Programm der zugrundeliegenden Doktorarbeit „Grassroots Fascism. The Sinister Side of Civil Society and Public Opinion in Harbin 1933–1937“, so findet man eine Studie vor, die über russische Faschisten und deren „zivilgesellschaftliche Organisationen“ (S. 3) zu berichten weiß. Hohler geht der Frage nach, wie es der „Allrussischen Faschistischen Partei“ Mitte der 1930er-Jahre gelang, Einfluss auf öffentliche Debatte in Harbin zu nehmen. Es waren, so argumentiert Hohler, die Vorfeldorganisationen der Partei, die es den Faschisten erlaubten, über Jugend- und Bildungsarbeiten weit mehr russische Emigranten zu erreichen, als die Parteiorganisationen selbst es vermocht hätten. Für demokratische Parteien in rechtsstaatlichen Gesellschaften scheint dies ubiquitär zu sein. Doch wie verhält es sich mit einer faschistischen Partei, die in der Emigration einer ethnisch wie politisch höchst fragmentierten Bevölkerung gegenüberstand?

In der historischen Literatur wird Harbin oft als bunt und schillernd beschrieben. Doch das Leben in der nordostchinesischen Emigration hatte zuweilen auch traurige Facetten – Armut, Abgrenzung und Antisemitismus. Der Alltag und das Zusammenleben der über 50 Nationen in Harbin ist für die 1920er-Jahre3 vergleichsweise gut dokumentiert, so wie die Phase russischer Dominanz vor dem Ersten Weltkrieg.4 Über das Schicksal der Harbiner unter japanischer Okkupation in den 1930er-Jahren hingegen wissen wir wenig. Hohler trägt dazu bei, diese Lücke zu schließen, leuchtet sie mit den russischen Faschisten Mitte der 1930er-Jahre doch eine Zeit von Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung aus. „Facism in Manchuria“ schafft damit Anknüpfungspunkte zu neueren Forschungen, die über die Stadtgeschichte Harbins und die Geschichte der russischen Emigration hinausweisen:5 etwa Studien zur transnationalen Faschismusforschung sowie Arbeiten zu Mandschukuo als japanischem Experimentierfeld.6

Die Faschisten Harbins waren erfolgreich, so resümiert Hohler, weil ihre Kampagnen dazu beitrugen, dass antisemitische Hetze Mitte der 1930er-Jahre fernab faschistischer Zentren salonfähig wurde. Diese „dunkle Seite“ der Zivilgesellschaft untersucht Hohlers Studie anhand dreier Fallstudien: des „Russischen Klubs“, außerschulischer Bildung und Antisemitismus (S. 8), denen sie Kapitel zum Ort und zu den Akteuren voranstellt. Hohlers Ansatz ist mutig, bedenkt man die schwierige Quellenlage: Chinesische Archive sind nicht immer zugänglich, Memoiren russischer Emigranten weit verstreut und japanische Quellen selten erschlossen. Neben vereinzelten Archivdokumenten aus den USA, Russland, Deutschland und Israel untersucht Hohler ihren Gegenstand vor allem mithilfe russischer Zeitungsberichte – es ist gerade die Parteizeitung der Harbiner Faschisten „Unser Weg“ (russ. „Naš Put‘“), anhand derer Hohler das Wirken der faschistischen Vorfeldorganisationen beschreibt.

Russische Faschisten gab es in der Zwischenkriegszeit in nahezu jedem Zentrum russischer Emigration – Argentinien, Frankreich, USA und Jugoslawien. Und auch die „Allrussische Faschistische Partei“, die auf Studentenverbindungen der Juristischen Fakultät Harbin zurückgeht, hatte Abteilungen in Shanghai, Mukden (Shenyang), Dalian, Tokyo, Bern und San Francisco. Doch nirgendwo war sie so präsent wie im Harbin der 1930er-Jahre – 1932 zählte die faschistische Partei bei einer russischen Bevölkerung von wenigen Zehntausenden gut 5.000 Mitglieder. Denn die japanischen Behörden ließen sie und ihren Anführer, Konstantin Rodzaevskij, – hauptamtlicher Mitarbeiter des von Japan eingesetzten „Bjuro po delam Rossijskich emigrantov v Man’čžurii“ – gewähren, schützten sie zuweilen gar: „Persönliche Kontakte, ein gemeinsamer Feind und der Widerwille anderer möglicher Partner“, so argumentiert Hohler, habe die japanischen Besatzer und die russischen Faschisten zusammengebracht (S. 47).

Harbins Faschisten schworen die Russen auf den Kampf gegen die Sowjetunion ein. Es waren weniger die Anleihen an die deutsche und die italienische Spielart des Faschismus als vielmehr Russlands Vergangenheit und Zukunft, die den ideologischen Kompass nordeten. Ihr „Azbuka fašisma“ („ABC des Faschismus“), angelehnt an Bucharins und Preobraženskijs „Azbuka kommunizma“, richtete sich gegen Juden, Freimaurer und Kommunisten. Die Gesellschaftsutopie der Faschisten Harbins jedoch blieb vage – welchen Staat Rodzaevskij und seine Gefolgschaft anstelle der zu stürzenden Sowjetunion zu gründen gedachten, kann auch Hohler nicht klären. Weil das Zarenreich ein Vielvölkerimperium war, so resümiert die Münchener Historikerin, hätten die russischen Faschisten ihre „Nation“ nicht ethnisch definiert, sondern als „kulturelles Konstrukt“ (S. 118) betrachtet – selbst muslimische Tataren seien in die Partei aufgenommen worden. Interessant wäre weiterführend, ob die Kategorie „Volk“ für die Harbiner Faschisten damit schlicht obsolet, weil politisch nicht anschlussfähig, oder gar beliebig war, weil vom Individuum und nicht der Partei zu definieren.

Die Bildungs- und Jugendarbeit der Faschisten, ob von der Partei oder ihren Vorfeldorganisationen betrieben, zielte darauf ab, Kinder russischer Eltern auch in der Fremde zu „Russen“ zu machen. Vaterlandsliebe, Selbstdisziplin und Gottesfurcht sollten die Emigrantenkinder auf den Kampf gegen die Sowjetunion einschwören und für eine als schädlich imaginierte „westliche Kultur“ unempfänglich machen. Infolge des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion offenbarten sich jedoch konkurrierende Loyalitäten: Viele Harbiner Faschisten zogen das Heimatland der Partei vor und sympathisierten fortan sogar mit der Sowjetunion. Offen bleibt jedoch, welchen Einfluss auf Ideologie und Jugendarbeit der Umstand hatte, dass Harbins Faschisten in einer multiethnischen Stadt mit chinesischer Mehrheitsbevölkerung und japanischer Hoheit lebten.

Susanne Hohler gelingt es, die Bildungs- und Jugendarbeit der Faschisten Harbins facettenreich zu beschreiben und damit auf das Denken und Wirken einer faschistischen Partei aufmerksam zu machen, die sich nicht in herkömmliche Schemata einordnen lässt. Wie erfolgreich diese Partei jedoch war, lässt sich mit russischen Zeitungsberichten allein nur bedingt beantworten. Deutlich wird das Quellenproblem etwa dort, wo zur Beschreibung der Rezeption faschistischer Breitenwirkung keine Zeugnisse von Mitgliedern, Außenstehenden oder Gegnern vorliegen. Und dennoch stößt Hohler wichtige Fragen für weitere Forschungen an: Gab es ideologische Debatten zwischen Rodzaevskij und seiner Gefolgschaft? Wie nahmen die russischen Faschisten ihr Leben in Harbin zwischen Chinesen und Japanern wahr? Übten die japanischen Behörden Einfluss und Kontrolle auf die faschistische Partei aus? Gab es ungeachtet des Antibolschewismus ideologische Schnittmengen zwischen den japanischen Eliten und den russischen Faschisten? Und wie gingen sie mit dem Russlandbild der deutschen Nationalsozialisten um?

Anmerkungen:
1 Dazu etwa: Blaine R. Chiasson, Administering the Colonizer. Manchuria's Russians under Chinese Rule, 1918–29, Vancouver 2010; James Carter, Creating a Chinese Harbin. Nationalism in an International City, 1916–1932, Ithaca 2002; Mark Gamsa, The Cultural and the Social in Chinese–Russian Relations, in: Cult & Soc Hist 9/3 (2012), S. 391–405; Li Mingbin, Zhongguo yu esu wenhua jiaoliuzhi (Chronik des chinesisch-russischen/sowjetischen Kulturaustausches), Shanghai 1998.
2 Vgl. Mariko Tamanoi, Crossed Histories. Manchuria in the Age of Empire, Ann Arbor 2005.
3 David Wolff, To the Harbin Station. The Liberal Alternative in Russian Manchuria, 1898–1914, Stanford 1999; Sören Urbansky, Kolonialer Wettstreit. Russland, China, Japan und die Ostchinesische Eisenbahn, Frankfurt am Main 2008.
4 Siehe Anm. 1.
5 Immer noch klassisch: Marc Raeff, Russia Abroad. A Cultural History of the Russian Emigration, 1919–1939, New York 1990; ferner: Shi Fang / Liu Shuang / Gao Ling, Haerbin eqiaoshi (Geschichte der russischen Diaspora Harbins), 2. Aufl., Harbin 2003.
6 Jüngst vor allem die Beiträge in: Daniel Hedinger / Reto Hofmann (Hrsg.), Axis Empires. Toward a Global History of Fascist Imperialism, in: Journal of Global History 12/2 (2017), S. 161–296; sowie Shohei Saito, Crossing Perspectives in “Manchukuo”. Russian Eurasianism and Japanese Pan-Asianism, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 65/4 (2017), S. 597–623.

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