C. Kemper (Hrsg.): Gespannte Verhältnisse

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Titel
Gespannte Verhältnisse. Frieden und Protest in Europa während der 1970er und 1980er Jahre


Herausgeber
Kemper, Claudia
Reihe
Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedens- und Konfliktforschung 23
Erschienen
Anzahl Seiten
258 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan-Henrik Meyer, Faculty of Humanities, University of Copenhagen / Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Die gesellschaftlichen Großkonflikte der 1970er- und 1980er-Jahre sind in den vergangenen Jahren zu intensiv beforschten Themen der Zeitgeschichte „nach dem Boom“ geworden. Unter diesen Konflikten nimmt die Auseinandersetzung um das Atom eine besondere Rolle ein. In seiner zunächst militärischen, dann auch friedlichen Nutzung symbolisierte das Atom seit den 1970er-Jahren in den Augen seiner Kritiker viele Fehl-Entwicklungen der modernen Industriegesellschaften – wie wirtschaftliche Wachstumsfixierung, globale Ungerechtigkeit, den „Atomstaat“ (Robert Jungk), nukleare Risikozumutungen und die rationale Irrationalität der Abschreckung. So kamen im Protest gegen Atomwaffen und Atomkraft verschiedene Akteure zusammen, die von den Sozialwissenschaften rasch unter der Bezeichnung „Neue Soziale Bewegungen“ zusammengefasst wurden. Während viele der jüngeren Forschungen den Protest gegen Atomenergie ab den 1970er-Jahren in transnationaler Perspektive untersuchen1, herrschen bei Studien über Proteste gegen Nachrüstung und Atomwaffen mit Schwerpunkt auf den 1980er-Jahren vielfach nationale oder national vergleichende Studien vor.2

Der von Claudia Kemper herausgegebene Band „Gespannte Verhältnisse. Frieden und Protest in Europa während der 1970er und 1980er Jahre“ versucht, diese Lücke zu schließen. Die Jahrestagung des Arbeitskreises Historische Friedensforschung in Hamburg 2013, auf der dieser Band basiert, bezog transnationale Beziehungen und Blicke systematisch in die Fallstudien ein und kam damit – um es vorwegzunehmen – zu spannenden neuen Erkenntnissen. Kempers Einführungskapitel kontextualisiert Themenfeld und Epoche sehr breit zwischen Gesellschaftsgeschichte und Internationaler Geschichte, denn Friedensbewegungen waren zwar eingebettet in nationale Gesellschaften, orientierten sich aber an der internationalen Politik und vernetzten sich transnational. Die Herausgeberin skizziert den Analyserahmen, indem sie einen gründlichen Überblick des Forschungsstands zu „Frieden und Konflikt“ und zu damit verbundener transnationaler Geschichte liefert. Der vieldeutige Buchtitel „Gespannte Verhältnisse“ spielt einerseits auf den internationalen politischen Kontext der Epoche an, nämlich den wiederholten Wechsel zwischen Entspannungspolitik und Zweitem Kalten Krieg. Andererseits beziehen sich die „Gespannten Verhältnisse“ auf die in den Beiträgen konkret untersuchten Konflikte sowohl innerhalb von Bewegungen als auch zwischen Bewegungsakteuren, Regierungen und anderen staatlichen Akteuren (S. 9).

Die zentrale These (S. 12) des Buches, die vielleicht eher eine forschungsleitende Vorannahme darstellt, richtet sich besonders auf die inneren Verhältnisse der Bewegung(en): Konflikt gehöre „zum Grundcharakter der Friedensbewegungen und ihrer Gruppierungen“. Er habe nicht nur „Inhalte [...], sondern auch Formen, Mobilisierungschancen, Entwicklung und Wandel von Protest maßgeblich bestimmt“ (S. 12). Mit dieser starken Betonung des Konflikts grenzt sich Kemper auch von einer in der Literatur zur transnationalen Geschichte dominierenden (Über-)Betonung der Kooperation und des Austauschs in transnationalen sozialen Bewegungen ab. Die drei Beiträgerinnen und sieben Beiträger waren aufgefordert, Bewegungs- und Kulturgeschichte zu verbinden, das heißt einerseits zu fragen, „ob und wie kulturelles Wissen in grenzüberschreitenden Praktiken […] in Erscheinung trat“, andererseits „Inhalte und Formen“ sowie „AkteurInnen und Medien“ in den „übergreifenden gesellschaftlichen Debatten über Krieg und Frieden“ zu untersuchen (S. 13). Diesen zwar breiten, komplexitätsbewussten, aber dennoch klar abgesteckten Analyserahmen verfolgen die zehn Aufsätze, die in vier Themenfelder gruppiert sind, recht diszipliniert, so dass ein in sich kohärenter Band entstanden ist. Dies ist bei der Vielfalt der Themen und Zugänge eine beachtliche Leistung. Als produktiv erweist sich auch die Vorentscheidung, den Blick nicht auf den Westen zu beschränken.

Die erste Sektion „Ost und West in der Abwägung von Freiheit und Frieden“ umfasst drei Beiträge. Ernst Wawra zeigt Wandel und Wachstum der sowjetischen Friedensbewegung in den 1980er-Jahren. Zur Rechtfertigung ihrer Position nutzte diese neben nationalen auch transnationale Bezugspunkte – vor allem internationale Abkommen, die die Sowjetunion unterzeichnet hatte. Robert Brier untersucht den transnationalen Austausch zwischen westdeutscher und polnischer Friedensbewegung in den 1980er-Jahren, der erstaunlich große Diskrepanzen in den politischen Bewertungen zwischen West-Grünen und Totalitarismus-kritischen Solidarność-Aktiven aushielt. Helmuth Fehrs Beitrag über Friedensbewegungen in vier mitteleuropäischen Warschauer-Pakt-Staaten unterstreicht ebenfalls, dass bei allen inneren und inhaltlichen Konflikten die Bewegungen ein politisches Ziel teilten, nämlich „Frieden“ – ähnlich wie „Umwelt“ etwa in der späten DDR – als legitimes Argument im Konflikt mit der staatssozialistischen Regierung einzusetzen.

In der zweiten Sektion „Grenzbezüge und Grenzüberschreitungen“ geht es um westdeutsch-amerikanische und deutsch-deutsche transnationale Beziehungen. Jan Hansen untersucht die gegenseitigen Wahrnehmungen und Begegnungen nachrüstungskritischer SozialdemokratInnen und „Freeze“-AktivistInnen. Bei der transnationalen Kooperation wurden auf der Suche nach Gemeinsamkeit potentiell konfliktträchtige Unterschiede ausgeblendet. Hansen weist darauf hin, wie sehr mangelnde Sprachkenntnisse selbst in der Führung der SPD transnationalen Austausch noch während der 1980er-Jahre erschwerten. Anne Bieschke diskutiert die ursprünglich aus Dänemark stammende Initiative „Frauen für den Frieden“. Frauen in Ost und West gelang es, sich symbolisch und kommunikativ in einer vielfältig die Mauer überschreitenden, politisch wirkungsvollen Bewegungs-Öffentlichkeit zu verbinden.

Die zwei Beiträge der dritten Sektion „Pazifismus organisieren“ betrachten transnationale zivilgesellschaftliche Organisationen. Christoph Laucht erläutert die Entstehung der beiden britischen Sektionen der „Ärzte gegen den Atomkrieg“ (IPPNW) und deren Kampf gegen Nachrüstung und Modernisierung der britischen Atombewaffnung. Angesichts des Brexits sollte nicht vergessen werden, welch große Rolle Europa als potentielles Schlachtfeld und „Imaginationsraum“ für die britischen Ärzte spielte. Ironischerweise plädierten auch sie dafür – ähnlich wie 2016 die Brexiteers –, die – hier durch Verzicht auf Nachrüstung – gesparten Gelder in den National Health Service (NHS) zu investieren (S. 136). Daniel Gerster widmet sich der katholischen Friedensorganisation „Pax Christi“ in der Bundesrepublik, deren angestrebte Zusammenarbeit mit der progressiveren niederländischen Pax-Christi-Gruppe die westdeutsche Kirchenobrigkeit behinderte. In diesem Konflikt war die transnationale Bezugnahme auf die gemeinsame Organisation ein hilfreiches Argument.

Die vierte Sektion „Begriffe und Praktiken klären“ umfasst drei Beiträge. Christian Helm widmet sich der bundesdeutschen Nicaragua-Solidarität der frühen 1980er-Jahre, die mittels transnationaler Interaktion und Kommunikation, aber auch durch Projektion eine Brücke nach Mittelamerika bauen konnte – und gleichzeitig eine Verbindung zur Friedensbewegung im eigenen Land schaffte. Die beiden letzten Aufsätze sind nur von den Kontexten her transnational: Christiane Somnia analysiert sehr gründlich Praxen, Ideen und Diskurse der niederländischen RadikalpazifistInnen. Man wüsste gern mehr über die erwähnten Kooperationen, zum Beispiel mit der Kampagne „European Nuclear Disarmament“ (S. 218). Janine Gaumer stellt schließlich nochmals die Frage, die bereits das Organisationsteam des Ostermarsches 1986 aufwarf: „Was hat die Wiederaufbereitungsanlage mit Frieden zu tun?“ Der Zusammenhang lag in der Gewinnung von Plutonium. Der Bombenbrennstoff bildete das argumentative und Zusammenarbeit motivierende Bindeglied für die Allianz zwischen Anti-Atomkraft- und Friedensbewegung. Da die Wurzeln der Grünen sowohl in der Anti-Atomkraft- als auch in der Friedensbewegung lagen, wird leicht vergessen, wie konfliktreich die Kooperation zwischen beiden Bewegungen oft war, etwa in der Frage der Gewaltanwendung.

Was lernen wir aus diesem sehr gelungenen Band für die transnationale Geschichte sozialer Bewegungen? Die Beiträge stützen die Kritik der Herausgeberin Claudia Kemper an der in der transnationalen Historiographie anfänglich vorherrschenden Präferenz für Kooperation und Konvergenz und an der Nichtbeachtung von (inneren) Konflikten, zu der auch die Literatur über Neue Soziale Bewegungen tendenziell neigte.3 Transnationaler Austausch führt nämlich nicht geradewegs zu geteilten Sichtweisen und dient nicht immer identischen Projekten. Das war nicht unbedingt problematisch, weil Bewegungsakteure oft eine selektive Wahrnehmung hatten und nur das sahen, was ins vorgefertigte Bild des geschätzten Anderen passte. Wie sich vielfach zeigt, stärkten transnationale Bezugnahmen, Öffentlichkeiten und Beobachtungen die jeweiligen Bewegungen und Bewegungs-Organisationen. Im politischen oder innerorganisatorischen Konflikt war der Verweis auf Partner jenseits der Grenzen eine wichtige Legitimations-Ressource.

Anmerkungen:
1 Zum Beispiel Stephen Milder, Greening Democracy. The Anti-Nuclear Movement and Political Environmentalism in West Germany and Beyond, 1968–1983, Cambridge 2017; rezensiert von Eva Oberloskamp, in: H-Soz-Kult, 30.10.2017, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-27781 (16.04.2018); Andrew Tompkins, Better Active than Radioactive! Anti-Nuclear Protests in 1970s France and West Germany, Oxford 2016; rezensiert von Ute Hasenöhrl, in: H-Soz-Kukt, 15.09.2017, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-26926 (16.04.2018); sowie die Beiträge in: Astrid Mignon Kirchhof / Jan-Henrik Meyer (Hrsg.), Historical Social Research 39 (2014), Heft 1, Focus II: Global Protest Against Nuclear Power. Transfer and Transnational Exchange in the 1970s and 1980s, https://www.gesis.org/hsr/volltext-archiv/2014/391-cultural-life-scripts/ (16.04.2018).
2 Zum Beispiel Kyle Harvey, American Anti-Nuclear Activism, 1975–1990. The Challenge of Peace, Basingstoke 2014; Christoph Becker-Schaum u.a. (Hrsg.), „Entrüstet Euch!“. Nuklearkrise, NATO-Doppelbeschluss und Friedensbewegung, Paderborn 2012; rezensiert von Daniel Gerster, in: H-Soz-Kult, 17.01.2013, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-19771 (16.04.2018). Eine wichtige Ausnahme ist: Astrid Mignon Kirchhof, Finding Common Ground in Transnational Peace Movements, in: Australian Journal of Politics & History 61 (2015), S. 432–449.
3 Innere Konflikte betont aber: Frank Zelko, Make It a Green Peace! The Rise of Countercultural Environmentalism, Oxford 2013; siehe dazu meine Rezension, in: H-Soz-Kult, 21.07.2016, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-22483 (16.04.2018).