H.-U. Grunder (Hrsg.): Mythen – Irrtümer – Unwahrheiten

Cover
Titel
Mythen – Irrtümer – Unwahrheiten. Essays über „ das Valsche“ in der Pädagogik


Herausgeber
Grunder, Hans-Ulrich
Erschienen
Bad Heilbrunn 2017: Julius Klinkhardt Verlag
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Nina Göddertz, Institut für Sozialpädagogik, Erwachsenenbildung und Pädagogik der frühen Kindheit, Technische Universität Dortmund

In der Einleitung zu seinem Herausgeberband „Mythen – Irrtümer – Unwahrheiten“ fordert der Basler Erziehungswissenschaftler Hans-Ulrich Grunder seine Leser/innen heraus, indem er nicht nur zwischen den Zeilen fragt: Welche Unwahrheiten geben wir (bestenfalls unwissentlich) in der Lehre, in der Schule oder in der Öffentlichkeit weiter? Wo übersetzen wir falsch oder (fehl-)interpretieren stattdessen? Grunder sucht populäre Slogans und Zitate aus dem weiten Feld der Bildung und Erziehung zu ergründen und deren Verwendung nicht nur zu hinterfragen, sondern im Zweifelsfall sogar „zurückzuweisen oder abzuschmettern“ (S. 9). Die Autor/innen der 30 chronologisch geordneten Beiträge erörtern in „Fingerübungen in bildungsgeschichtlicher Vergewisserung“ (S. 10) pädagogische Allgemeinplätze, deren Erkenntnisinteresse ich im Kern den folgenden drei Kategorien zuordnen möchte: (1) Ermittlung der korrekten Urheberin bzw. des korrekten Urhebers: So wird unter anderem gefragt, von wem „mens sana in corpore sano“ stammt und was es genau meint, auf wen sich die Wendung „vom Kinde aus“ zurückführen lässt oder woher der „Mut zur Lücke“ kommt? (2) Überprüfung des eigentlichen Wahrheitsgehaltes: Lässt sich wirklich das „Lernen lernen“, stimmt die These der abnehmenden Lernfähigkeit von Hänschen und Hans und besitzt der Slogan „Strafe muss sein“ Gültigkeit? (3) Suche nach der treffenden Übersetzung sowie Enthüllung von Rezeptionsdefiziten: Lernen wir für das Leben oder die Schule oder vielleicht sogar für beides, (wie) kann der Slogan „Survival of the Fittest“ pädagogisch übersetzt werden oder welche Rezeptionsdefizite lassen sich in der Diskussion um die Freinet-Pädagogik finden? Im Folgenden soll aus jeder dieser Kategorien, die sicherlich nicht immer ganz trennscharf sind, je eine „Fingerübung“ exemplarisch vorgestellt werden.

Mit dem Ziel einer kritischen Überprüfung der korrekten Zuschreibung widmet sich der Beitrag von Rainer Bolle (S. 25–32) dem Ausspruch „Zurück zur Natur“ oder vielmehr seinem vermeintlichen Urheber Jean-Jacques Rousseau. Bolle führt überblicksartig ein in sowohl Rousseaus Natur-Philosophie als auch in die an ihr geübte Kritik von Charles Palissot und Voltaire. Es wird deutlich, dass der Ausspruch „Zurück zur Natur“ weder bei Rousseau selbst zu finden und nicht mit dem Rousseau’schen Naturzustand zu verwechseln sei, noch etwas mit Kühen oder gar Grasfressen zu tun habe, wie Voltaire uns glauben lassen mag. Dennoch, schließt Bolle, dürfe er als eine Art Kurzformel für Rousseau verstanden und verwendet werden, die uns allerdings zur Rückbesinnung auf die menschliche Fähigkeit zur Selbsttranszendenz und nicht zum Wandern durch die Natur auffordere.

Der Überprüfung des Wahrheitsgehaltes des Slogans „Eisen erzieht“ widmet sich Heinz-Elmar Tenorth in seinem gleichnamigen Beitrag und erinnert eingangs an Norbert Blüm, der 1984 zu jenen Worten griff, um seine Herkunft und gleichermaßen seine Weltsicht zu charakterisieren. Tenorth widmet sich diesem Slogan bzw. dessen Entstehungszusammenhang und entdeckt: Er ist in dem gleichnamigen DAF-Grundlehrgang der metallbearbeitenden Berufe (1937)1 während des Nationalsozialismus zu finden, in welchem dem Werkstoff Eisen ein erzieherischer Wert zugewiesen wird. Um die Frage, ob denn Dinge nun erziehen (können), zu beantworten, verweist Tenorth auf Rousseau, bei dem es bekanntlich drei Erzieher gibt, nämlich neben der Natur und dem Menschen auch die Dinge selbst. Dies führt den emeritierten Berliner Erziehungswissenschaftler wiederum zu der Frage, „ob der Slogan ‚Eisen erzieht‘ nicht sogar einen latenten Rousseauismus in der NS-Erziehung markiert und – vice versa und horribile dictu – auch die totalitäre Anfälligkeit der Pädagogik Rousseaus“ (S. 73). Er diskutiert die Materialität der Erziehung bei Friedrich Fröbel, bei Maria Montessori, im Bauhaus und bei Adolf Reichwein und konstatiert bei ihnen eine „pädagogische Eigenlogik der Dinge“ (S. 74). Tenorth selbst weist diese Sichtweise entschieden zurück, nicht das Eisen – oder ein anderes Ding – erziehe, sondern, mit Verweis auf Siegfried Bernfeld, fasst er Erziehung als „die Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache“ (ebd.). So schließt er mit der provokanten These, dass die Pädagogik offenbar eine solche Attribuierung auf das Material brauche, „um die Legitimität der eigenen Praxis zu steigern und die Erziehung […] von der Macht und Willkür des Erziehers abzulösen“ (S. 75f.).

Auf der Suche nach einer treffenden Übersetzung widmet sich der Beitrag von Thomas Schroedter dem „Kampfbegriff“ antiautoritäre Pädagogik und dessen Deutung. Die Verwirrung hinsichtlich der Deutung von antiautoritärer Pädagogik zum Ausgang nehmend sucht Schroedter nach den Gründen eben dieser. Zum einen verweist er richtigerweise auf den Versuch, den „Erziehungsnotstand“ mit „zu viel Individualität“ in der Erziehung zu erklären, wie es bei Bernhard Bueb2 zu finden ist, zum anderen werde die antiautoritäre Pädagogik häufig schlichtweg mit Laissez-faire oder gar Antipädagogik übersetzt und damit gleichermaßen verwechselt. Auch Rousseaus Émile als Wegweiser der antiautoritären Erziehung anzugeben erscheint Schroedter irreführend. Er räumt ein, dass antiautoritäre Erziehung durchaus unterschiedliche Ausprägungen habe, von liberal bis sozialistisch, und sich Irritationen ob des antiautoritären Gehalts daher leicht einstellen könnten. Mit Verweis auf die zentralen Vordenker/innen Siegfried Bernfeld, Wilhelm Reich, Otto Rühle, Wera Schmidt sowie auf die Studien des Instituts für Sozialforschung aus den 1940er-Jahren und deren Wiederentdeckung in den 1960er-Jahren als Grundlage für den Entwurf alternativer Erziehungsideen sei es jedoch verwunderlich, dass antiautoritäre Erziehung nach wie vor mit so vielen Mythen belegt sei, gleichwohl mythenfreie Definitionsversuche durchaus vorliegen.3 Abschließend hält Schroedter fest, dass Kindheit und Jugend insgesamt sicherlich angenehmer verliefen, „je weniger autoritär und zwanghaft sie [sei], bei gleichzeitig hoher Empathie und Zuneigung seitens der Erziehenden“ (S. 181). Ob sich das dann antiautoritäre Erziehung nennt oder nicht, ist ja vielleicht auch zweitrangig.

Die bei Grunder versammelten Beiträge zeigen eindrücklich, wie viel „Valsches“ in der Pädagogik zu finden ist und laden ein, das eigene Alltagswissen zu überprüfen, sich auf die Suche nach der korrekten Übersetzung oder Kontextualisierung zu begeben und sind gleichsam ein Appell an all diejenigen, die sich gerne auf Sprichwörter, Slogans etc. berufen, um ihre eigene Argumentation zu stützen. Wer also bereit ist, das hier und da vielleicht falsch überlieferte oder verwendete Zitat einer Prüfung oder Neu-Justierung zu unterziehen, dem sei dieser Herausgeberband ans Herz gelegt. Durch den lockeren, zum Teil witzigen Schreibstil bei gleichzeitiger wissenschaftlicher Analyse wird die Suche nach dem „Valschen“ in der Pädagogik zu einer sehr unterhaltsamen und zugleich erhellenden Lektüre.

Anmerkungen:
1 Der Reichsorganisationsleiter der NSDAP (Hrsg.), Deutsche Arbeitsfront: Grundlehrgang Eisen erzieht, 15. erw. Auflage, Verantwortlich und bearb. vom Amt für Berufserziehung und Betriebsführung in der Deutschen Arbeitsfront, Berlin 1942.
2 Bernhard Bueb, Lob der Disziplin. Eine Streitschrift, 10. Aufl., Berlin 2007.
3 Zum Beispiel: Karin Bock / Nina Göddertz / Miriam Mauritz / Franziska Schäfer, Stichwort: Antiautoritäre Erziehung, in: Michaela Rißmann (Hrsg.), Lexikon Kindheitspädagogik, Köln 2015, S. 19–20; Nina Göddertz, „Erziehung zur Mündigkeit“ – Rekonstruktive Analysen biographischer Entwürfe von Zwei-Generationen-Familien im Kontext der Kinderladenbewegung, Dissertation (unveröff. Manuskript der eingereichten Fassung), TU Dresden 2016; Miriam Mauritz, „Das Private wird politisch“ – Biographische Emanzipationsprozesse in Mütter-Töchter-Beziehungen der Kinderladenbewegung. Dissertation (unveröff. Manuskript der eingereichten Fassung), TU Dresden 2016; Franziska Schäfer, Lebensgeschichtliche Bedeutung des Kinderladens. Eine biographische Studie zu (früh)kindlicher Pädagogik. Dissertation (unveröff. Manuskript der eingereichten Fassung), TU Dresden 2015.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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