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Titel
Stromkonflikte. Selbstverständnis und strategisches Handeln der Stromwirtschaft zwischen Politik, Industrie, Umwelt und Öffentlichkeit (1970–1989)


Autor(en)
Ehrhardt, Hendrik
Reihe
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte – Beihefte 240
Erschienen
Stuttgart 2017: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
317 S., 4 s/w Abb., 4 s/w Tab.
Preis
€ 56,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Odinn Melsted, Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, Universität Innsbruck

Heute dominiert ein Thema alle Debatten um Energie: die Energiewende. In den nächsten Jahrzehnten soll in Deutschland eine Wende von fossilen und nuklearen Energiequellen hin zu erneuerbaren Alternativen erreicht werden. Eine der dabei wohl anspruchsvollsten Aufgaben ist die Umstellung der Stromproduktion, denn diese erfordert u.a. eine Schließung sämtlicher Kohle- und Kernkraftwerke, die von großen und einflussreichen Konzernen betrieben werden. In Hendrik Ehrhardts bereits 2013 an der Universität Jena angenommener Dissertation geht es um den Veränderungsdruck, dem die zwei Großen der deutschen Stromwirtschaft, die Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk AG (RWE) und die Preußenelektra AG (PREAG, heute Teil des E.ON-Konzerns), bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren ausgesetzt waren. Wie der Klappentext verspricht, soll die Arbeit damit „einen wichtigen Beitrag zur Analyse der Anfänge der Energiewende“ leisten.

Ehrhardt setzt sich zum Ziel, das Selbstverständnis und strategische Handeln der Stromwirtschaft anhand der Beispiele von RWE und PREAG zu analysieren. Die Auswahl dieser Fallbeispiele begründet er damit, dass sie die größten und einflussreichsten der (insgesamt neun) großen Verbundunternehmen waren, und somit „an der Spitze“ des bundesdeutschen Energiemarktes standen (S. 10f.). Als grob definierten Forschungszeitraum wählt er die 1970er- und 1980er-Jahre. Ereignisse wie den Ölpreisschock 1973/74 sieht der Autor nicht als eindeutige Zäsuren, denn im Handeln der Stromwirtschaft seien mehr Kontinuitäten als Wendepunkte festzustellen, weswegen er auf eine genauere Periodisierung „bewusst“ verzichte (S. 10, Anm. 6). Dank einer liberalisierten Archivpolitik bilden die unternehmenseigenen Akten von RWE und E.ON die Primärquellenbasis, ergänzt durch Akten der involvierten Branchenverbände (VDEW, DVG und VIK). Zudem führte Ehrhardt insgesamt 29 Interviews mit Experten aus der Stromwirtschaft. Das Handeln der Energieversorgungsunternehmen wird anhand von drei Problemfeldern analysiert, die auch das Gerüst der Arbeit bilden: der Energiebedarfsplanung, des Ordnungsrahmens und der Konkurrenz am Energiemarkt sowie des Verhältnisses zu Umwelt und Öffentlichkeit.

Im ersten Teil wird das Problemfeld der Energiebedarfsplanung beleuchtet. Bedarfsprognosen waren die zentrale Entscheidungsgrundlage für das unternehmerische Handeln der Stromkonzerne; von ihnen hingen Entscheidungen für oder gegen den Ausbau von Kraftwerkskapazitäten ab. Mitte der 1970er-Jahre wurde die an kontinuierlich steigenden Bedarf gewöhnte Branche mit sinkenden Zuwachsraten konfrontiert. Von Seiten der Politik und der Öffentlichkeit geriet die Elektrizitätswirtschaft für ihre überhöhten Prognosen in die Kritik. Wie der Autor aber zeigt, wurden diese auch von der Stromwirtschaft selbst hinterfragt und nach unten korrigiert. Eine besonders schwer abzuschätzende Variable war die zukünftige Entwicklung des Strombedarfs der Haushalte. Hier reagierte die Branche selbst und entwickelte neue Prognosemethoden. An dieser Stelle geht der rote Faden etwas verloren, denn in den verbleibenden Kapiteln des ersten Teils geht es weniger um das Problemfeld der Energiebedarfsplanung, sondern eher um eine weitere Dimension des stromwirtschaftlichen Handelns: die Gründe für die Wahl eines bestimmten Energieträgers. Da der Bau von zusätzlichen Kernkraftwerken ab Mitte der 1970er-Jahre nur noch schwer mit der drohenden „Energielücke“ legitimiert werden konnte, wurden die Entscheidungen für Kern- und Braunkohlekraftwerke eher auf Basis betriebswirtschaftlicher Überlegungen getroffen, da diese Energieträger von den Kosten her die attraktivsten für RWE und PREAG waren. Anders verhielt es sich mit Schweröl und Steinkohle, wo der Handlungsspielraum durch die Politik eingeschränkt wurde. Angesichts der Erdölpreiskrise und der schwierigen wirtschaftlichen Lage des deutschen Steinkohlebergbaus wurde von Seiten der Bundesregierung eine „Weg vom Öl und hin zur heimischen Steinkohle“-Agenda betrieben. Im Unterschied zur Braunkohle war die vergleichsweise teure deutsche Steinkohle zur Stromproduktion allerdings nur bedingt attraktiv. Die Stromwirtschaft arrangierte sich jedoch mit der von Politik und Bergbau propagierten Steinkohleverstromung im Gegenzug für Ausgleichszahlungen. Wie Ehrhardt hervorhebt, tat sie dies nicht unbedingt der Subventionen wegen, sondern eher um den von der Politik bestimmten und für die Stromwirtschaft äußerst vorteilhaften Ordnungsrahmen aufrechtzuerhalten (S. 112).

Im zweiten Teil der Arbeit geht es um das angespannte Verhältnis zur energieintensiven Industrie, die oft selbst Strom produzierte. Obwohl die Stromwirtschaft die Industrie mit Preisnachlässen teilweise zur Aufgabe der Eigenproduktion bewegen konnte, bestand in den 1970er- und 1980er-Jahren dennoch erhebliches Konfliktpotential, da sie ein Netzmonopol hatte. Ein ständiger Konfliktherd war die Durchleitungsfrage, also zu welchen Bedingungen und zu welchem Preis die Industrie ihren Strom an das von der Stromwirtschaft kontrollierte Netz abgeben durfte. Die Konflikte wurden u.a. in der sogenannten „Gemischten Kommission“ aus Vertretern beider Branchen ausgehandelt. Wie Ehrhardt zeigt, war die Stromwirtschaft durchaus bereit, zumindest den großen Industriebetrieben entgegenzukommen, weil diese nicht nur wichtige Großkunden waren, sondern auch politischen Einfluss hatten. Obgleich sich die Industrie für eine Liberalisierung des Strommarktes einsetzte, gelang es der Stromwirtschaft den Status Quo ihrer Quasi-Monopolstellung zu erhalten. Dennoch schränkte die industrielle Kraftwirtschaft den Handlungsspielraum der Stromwirtschaft ein.

Im dritten Teil behandelt Ehrhardt das Problemfeld „Umwelt und Öffentlichkeit“, genauer gesagt die veränderten Ansprüche der Politik und einer kritischen Öffentlichkeit gegenüber der Stromwirtschaft in Umweltfragen. Bereits 1974 wurden Grenzwerte für Schadstoffemissionen (Schwefeldioxid und Stickstoffoxide) eingeführt, was die Betreiber von Kohlekraftwerken vor technische und finanzielle Herausforderungen stellte. Anfänglich sah die Stromwirtschaft die Grenzwerte als einen von der Politik aufgebrummten „Kostentreiber“, den es zu bekämpfen galt. Da dies allerdings nur bedingt gelang, gingen die Unternehmen während der 1980er-Jahre dazu über, sich als umweltfreundliche Stromerzeuger zu präsentieren und die Entschwefelungsanlagen als Teil einer neuen Unternehmenspolitik zu vermarkten. Allgemein versuchte die Stromwirtschaft zunehmend mit groß angelegten Kampagnen und der Einrichtung professioneller PR-Abteilungen ihr Bild in der Öffentlichkeit zurechtzurücken. Angesichts vermehrt kritischer Stimmen musste die Kernenergie als eine sichere Form der Stromproduktion vermarktet werden. Eine strategische Partnerschaft ging die Stromwirtschaft zudem mit dem Steinkohlebergbau ein. Unter dem Slogan „Kohle und Kernenergie“, die gemeinsam die Stromversorgung sichern sollten, wurde die gleichwertige Bedeutung der Energieträger öffentlichkeitswirksam als Konsens vermittelt, wovon sowohl die Betreiber von Kernkraftwerken als auch der Steinkohlebergbau profitieren konnten.

Abschließend argumentiert Ehrhardt, dass es im Falle der Stromwirtschaft keinen klassischen „Strukturbruch“ gab, wie er in der deutschen Geschichtsschreibung oft in den 1970er-Jahren gesehen wird. Dies relativiert Ehrhardt allerdings wenige Seiten später, da es in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Energiefrage durchaus einen Strukturbruch gab. Allgemein kommt Ehrhardt zu dem Schluss, dass sich die Stromwirtschaft im Untersuchungszeitraum zwischen Beharrungsvermögen und Veränderungsdruck bewegte. Einerseits setzte sie alles daran, den Status Quo aufrechtzuerhalten und war damit auch sehr erfolgreich. Andererseits musste sie in allen drei Problemfeldern auf Druck von außen reagieren. Dadurch wurde aber eher eine Kontinuität aufrechterhalten als eine Wende herbeigeführt.

Mit der akribischen Auswertung einer beachtlichen Menge bislang unbearbeiteten Archivmaterials hat Ehrhardt der Forschung zur deutschen Elektrizitätsgeschichte einen großen Dienst erwiesen. Mit dem Fokus auf die beiden „Big Player“ der Stromwirtschaft (RWE und PREAG), teilweise ergänzt durch einen Blick auf die Verbände (VDEW und DVG), gelingt es ihm, die bisher begrenzt erforschten gemeinsamen Interessen und Strategien der Stromwirtschaft herauszufiltern. Die zwei Fallstudien zu RWE und PREAG sind allerdings nur bedingt repräsentativ für die gesamte Branche, deren „stromwirtschaftliches Handeln“ Ehrhardt in seiner Gesamtheit zu erforschen ankündigt. Die deutsche Stromwirtschaft war bestimmt kein Monolith; neben RWE und PREAG gab es sieben weitere große Verbundunternehmen, darunter die Bayernwerk AG und die Hamburgische Electricitäts-Werke AG, sowie eine Vielzahl regionaler und lokaler Energieversorgungsunternehmen, die hier kaum Beachtung finden. Des Weiteren wird die anfänglich postulierte Forschungsfrage, wie die Unternehmen der Stromwirtschaft das westdeutsche „Energiesystem“ formten (S. 10), später kaum beantwortet. Auch ist oft unklar, wer die entscheidenden Akteure waren – Ingenieure, Strategen, Aufsichtsräte, Lobbyisten oder gar die Vertreter der Verbände? Im Buch wird der Eindruck vermittelt, dass die vielen verschiedenen Akteure der Stromwirtschaft eine Einheit waren.

Heutzutage lässt es sich wohl kaum vermeiden, ein Buch über die Stromwirtschaft zu veröffentlichen, ohne die Energiewende zu thematisieren. Der Begriff der Energiewende wird in diesem Buch allerdings nur einmal verwendet, und zwar im Klappentext. Eine Klarstellung, inwiefern es sich um die Anfänge der gegenwärtigen Energiewende handelt, oder was die Erkenntnisse für diese bedeuten, ist der Arbeit selbst nicht zu entnehmen. Trotz dieser Einwände stellt Ehrhardts Studie einen bedeutenden Beitrag zur Energiegeschichtsforschung dar. Mit einem klaren Fokus auf die unternehmerische Seite der Elektrizitätsgeschichte hebt sie sich deutlich vom derzeitigen Mainstream der energiehistorischen Forschung ab, die sich zumeist eher mit Transitionen und technischen Aspekten beschäftigt. In dieser auf Veränderung fixierten Forschungslandschaft ist es bereichernd, dass auch einmal Kontinuitäten der Energiegeschichte erklärt werden und nicht nur die Wenden als zentrale Schüsselereignisse im Fokus stehen. Zudem beschäftigt sich die Forschung zur Umweltbewegung oft mit den Protesten gegen die großen Energieunternehmen, nicht aber mit den Unternehmen selbst. Ehrhardts „Stromkonflikte“ leistet einen essentiellen Beitrag dazu, die historisch gewachsenen Selbstansichten und Handlungsmuster der führenden Unternehmen der Stromwirtschaft sowie deren bemerkenswerte Krisenfestigkeit während der 1970er- und 1980er-Jahre zu verstehen.

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