J. Schuff u.a. (Hrsg.): Erzählungen und Gegenerzählungen

Cover
Titel
Erzählungen und Gegenerzählungen. Terror und Krieg im Kino des 21. Jahrhunderts


Herausgeber
Schuff, Jochen; Seel, Martin
Reihe
Normative Orders 16
Erschienen
Frankfurt am Main 2016: Campus Verlag
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
€ 34,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Corina Erk, Fakultät Geistes- und Kulturwissenschaften, Otto-Friedrich-Universität Bamberg

Bereits unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September 2001 begann deren ‚ästhetische‘ Rezeption, insbesondere im Bereich der visuellen Kunst. Dieser Umstand ergibt sich aus dem nicht zu leugnenden Konnex von Terrorismus und Medien, den Jean Baudrillard als „Sinn-Wut“1 luzide zusammengefasst hat. Die Produktion und Tradierung dieser sofort einsetzenden (traumatischen) Erinnerungsarbeit, auch und gerade mittels ikonografischer Bilder, fand und findet demzufolge in und über Medien statt, wozu der Film einen nicht unerheblichen Beitrag leistet. Dies ist insbesondere auch auf die gesteigerte Radikalität der Bild-Realität-Beziehung nach 9/11 zurückzuführen, zu der Baudrillard konstatiert: „Das Bild konsumiert das Ereignis, das heißt, es absorbiert es und bietet es dann zum Konsum dar.“2 Infolge des generellen Bilder-Booms im 21. Jahrhundert und als Resultat von Bildpolitiken ist es die Realität des Bildes, die als die tatsächliche Wirklichkeit wahrgenommen wird, denn, so Baudrillard, die „Gewalt des Bildes“3 bewirkt den ‚Verlust‘ des Realen. Repräsentation und Remediation erweisen sich folglich als die dominierenden Erzählverfahren von Terrorismus und Krieg in Erinnerungsdiskursen auch und gerade der Gegenwart.

In diesem Verständnis der Wirkmacht von Bildern positioniert sich der Sammelband „Erzählungen und Gegenerzählungen“ von Jochen Schuff und Martin Seel, der in der Reihe „Normative Orders“, herausgegeben von Rainer Forst und Klaus Günther, erschienen und aus dem DFG-geförderten Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ der Goethe-Universität Frankfurt am Main hervorgegangen ist. Zugleich als E-Book erhältlich, versammelt er 12 Beiträge zum Thema „Terror und Krieg im Kino des 21. Jahrhunderts“. Die Herausgeber haben sich mit diesem Band das Ziel gesteckt, die mitunter polyphone audiovisuelle Auf- und Verarbeitung von 9/11 sowie des Irak-Kriegs 2003 sowie deren Rolle „in den kontroversen moralischen, rechtlichen und politischen Auseinandersetzungen der Gegenwart zu untersuchen“, so der Klappentext des Sammelbandes.

Im Vorwort definieren die Herausgeber Erzählungen als kontextgebunden: Sie sind eingebettet in ein Netzwerk von Narrationen, zu denen sie sich komplementär verhalten oder denen sie, im Sinne einer Gegenerzählung, diskursiv entgegentreten, denn: „Erzählungen antworten auf Erzählungen. […] Erzählungen rufen Gegenerzählungen auf den Plan.“ (S. 35) Besonders umfangreich gestalte sich das Erzählcluster im Nachgang zu den Anschlägen vom 11. September 2001, in deren Gefolge sie eine „ebenso rasche wie heftige Reaktion des filmischen Erzählens“ (S. 7) verzeichnen.

In ihrer theoretisch grundierten Einführung widmen sich Schuff und Seel sodann dem Kausalzusammenhang von „Erzählung, Rechtfertigung, Terror und Krieg im Kino“. Sie bilanzieren, dass die Filme und Fernsehserien nach 9/11 und dem darauf folgenden Irakkrieg den Heldentopos zumeist kritisch reflektierten und von Krisenerfahrungen und Traumata erzählten: „Ihr Impetus liegt nicht auf Bestätigung, sondern auf Befragung des Geschehenen und weiterhin Geschehenden.“ (S. 18) Schuff/Seel problematisieren knapp, aber zielführend den dem Sammelband zugrundeliegenden Erzählbegriff sowie die Forschungsliteratur zum Thema und erläutern den Konnex von Rechtfertigungshaltung und Erzählung, zumal in dem Bewusstsein, dass „die Form des Erzählens von historischen Ereignissen auf die Art ihrer geschichtlichen Stellung und Wirksamkeit selbst zurück[wirkt]“ (S. 19). Dies gelte insbesondere für den „Erfahrungsraum“ (S. 40) Kino, der geeignet sei, kollektive Gedächtnisse zu prägen.

Den Auftakt der exemplarischen Detailanalysen bildet Jochen Schuffs Beitrag zum Oscar-prämierten Kriegsfilm THE HURT LOCKER (2008, Regie: Kathryn Bigelow). Der Fokus liegt darin auf Körperdarstellungen im Film, deren Wirkung auf den Rezipienten sowie der formalen Gestaltung von Ausnahmesituationen in Bildern. Er kommt zu dem Schluss, dass THE HURT LOCKER den „War on Terror“ als mehrschichtiges Gebilde aus Erzählungen und Gegenerzählungen präsentiert.

Thomas Elsaesser bietet unter dem etwas verklausulierten Titel „Genre-Hybridisierung als (parapraktische) Interferenz“ eine kenntnisreiche Analyse von Kathryn Bigelows gleichermaßen beachtenswertem wie umstrittenem Spielfilm ZERO DARK THIRTY (2012) über die ‚Jagd‘ nach Osama bin Laden. ZERO DARK THIRTY, so Elsaesser, erweise sich als multiperspektivischer Film, der bisweilen heterogene Meinungen zu den Ereignissen im Gefolge von 9/11 im Filmnarrativ vereine, ohne abschließende Antworten zu liefern. Klaus Günther wiederum kommentiert und erweitert Elsaessers Überlegungen, indem er sich der filmimmanenten Verschränkung von Erzählung und Gegenerzählung zuwendet und diese als „Rechtfertigungsnarrativ“ (S. 123) interpretiert.

Um eine Gegenüberstellung von IN THE VALLEY OF ELAH (2007, Regie: Paul Haggis) und Brian De Palmas REDACTED (2007) geht es Daniel Martin Feige, wobei sich sein kontrastiver Vergleich auf die Inszenierung und Verwendung von Kriegsbildern im und durch die beiden Filme konzentriert. Josef Früchtl wiederum wendet sich UNITED 93 (2006) von Paul Greengrass zu, einem mit starken Emotionen arbeitenden Doku-Drama über eines der am 11. September entführten Flugzeuge, das bei Shanksville, Pennsylvania, abstürzte, nachdem die Passagiere versucht hatten, die Terroristen im Flugzeug zu überwältigen. Früchtl interessiert sich dabei besonders für die erinnerungskulturell motivierte Frage, wie im Medium Film (Zeit-)Geschichte erzählt werden kann, wenn die Zuschauer über die Ereignisse bereits umfassend informiert sind.

Christiane Voss’ Beitrag „(Post-)kriegerischer Alltag im dokumentarischen Blick“ beschäftigt sich mit LIFE AFTER THE FALL (2008). In diesem Film begibt sich der irakische Regisseur Kasim Abid in den historischen Umbruchzeiten nach dem Fall des Saddam-Hussein-Regimes auf eine dokumentarisch grundierte Spurensuche zur Geschichte seiner in Bagdad lebenden Familie. Voss’ Schlussfolgerung, dass es sich auch bei Dokumentationen stets um narrativ geformte Filme handele, erweist sich dabei sicher nicht als neue Erkenntnis. Indem die Autorin jedoch den affektiv-depressiven Erzählmodus dieses Films herausarbeitet, kommt sie zu ihrem Fazit der prinzipiellen Undarstellbarkeit von Kriegsschrecken. Daran lassen sich durchaus weitere Diskussionen anschließen.

Die HBO-Miniserie GENERATION KILL (2008, Andrea Calderwood) zum Irak-Krieg wird von Astrid Erll als Rechtfertigungsnarrativ gedeutet. Es wende sich zugleich, quasi in selbstreflexiver Haltung, der Frage nach konventionellen Erzählmustern von Kriegsgeschichten sowie der Ambivalenz zwischen Authentizitätssuggestion und dezidierter fiktionaler Ausgestaltung derselben zu.

Mit der weithin bekannten und vielfach ausgezeichneten TV-Serie HOMELAND (seit 2011, Alex Gansa/Howard Gordon) widmet sich Anja Peltzer einer filmischen Post-9/11-Erzählung, die in einer solchen Zusammenstellung sicherlich nicht fehlen darf. Peltzers knapp gehaltene Betrachtungen, in Anlehnung an die Persönlichkeitsstörung der Hauptfigur, die CIA-Analystin Carrie Mathison (Claire Danes), überschrieben mit „Bipolare Bilder“, überzeugen durch ihren Zuschnitt auf zwei Analysebereiche: die Figuren und ihre moralisch-ideologische Zerrissenheit sowie die Bildgestaltung in HOMELAND, die zwischen Authentizitätsanspruch und medialer Konstruktion changiere.

Nach dieser Reihe von Detailbetrachtungen einzelner Filme und Serien wendet sich Hans J. Wulffs Beitrag verschiedenen Musikstilen in Kriegsfilmen zu, deren dezidiert kontrafaktorische Verwendung ebenfalls im Dienst von Erzählung und Gegenerzählung stehe, so Wulff. Ganz anders gelagert ist Vinzenz Hedigers Aufsatz, der mit Gillo Pontecorvos BATTAGLIA DI ALGERI (1966) den Rückgriff auf einen Prä-9/11-Film und dessen Screening im Pentagon im Jahr 2003 wagt. Der Film habe als Grundlage für die Definition der Merkmale ‚asymmetrischer Kriegsführung‘ ebenso fungiert wie als Konstruktionsmoment des nicht greifbaren Phänomens Terrorismus im Sinne klarer Freund-Feind-Frontlinien. Martin Seel beschließt den Sammelband mit einer an dieser Stelle durchaus üblichen Kontexterweiterung, indem er Filme in den Blick nimmt, die sich dem „Krieg gegen den Terror“ indirekt widmen, so etwa Wim Wenders’ LAND OF PLENTY (2004).

Mit „Erzählungen und Gegenerzählungen“ liegt ein sorgfältig edierter und anregender Sammelband vor. Das darin abgedeckte breite Themenspektrum bietet fundierte Einzelanalysen ebenso wie kontextualisierende Einordnungen und regt zu weiterer Lektüre und Filmsichtung an. Zwar fehlt bedauerlicherweise ein Stichwortregister, jedoch zeugt das vorhandene Filmregister von der weit gespannten Bestandsaufnahme hinsichtlich Terror und Krieg im Film des 21. Jahrhunderts.

Notgedrungen muss ein solcher Sammelband, der sich durch mitunter disparate Zugänge der verschiedenen Disziplinen zum Spektrum filmischer Erzählungen und Gegenerzählungen auszeichnet, mit einer gewissen Heterogenität leben. Zugleich gewinnt er daraus aber auch seine produktive Kraft, zumal der Band bereits kanonische Filme wie UNITED 93 und ZERO DARK THIRTY als visuelle Rezeptionen im Nachgang zu 9/11 ebenso in den Fokus rückt wie weniger bekannte filmische Reaktionen auf den Irak-Krieg 2003. Gleichermaßen alludiert das von den Beiträgern abgeschrittene Filmfeld auf den disparaten Erinnerungsdiskurs bezüglich der zeitgeschichtlichen Ereignisse, der sich eindimensionaler Betrachtungsweisen, auch und gerade im Film, geradezu verweigert, wie Schuff und Seel zu recht bilanzieren (vgl. S. 14).

Dass dabei der Fokus auf US-amerikanischen und europäischen Produktionen liegt, mag als Wermutstropfen gewertet werden, wie die Herausgeber in ihrem Vorwort selbst einräumen, denn der ‚westlich‘ orientierte Film-Blick stellt freilich keine umfassende Sicht auf respektive abschließende Bewertung des Weltgeschehens am Beginn des 21. Jahrhunderts dar. Die Leitfrage nach Erzählungen und Gegenerzählungen hinsichtlich Terror und Krieg im 21. Jahrhundert, im vorliegenden Band durchgespielt anhand der Medien Film und Fernsehen, dürfte sich jedoch trotz dieser Einschränkung als anschlussfähig für weitere theoretische Reflexionen und Forschungen, etwa im Bereich der Literatur oder auf dem Feld der Fotografie, erweisen.

Anmerkungen:
1 Jean Baudrillard, Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen, Berlin 1978, S. 12.
2 Jean Baudrillard, Der Geist des Terrorismus, Wien 2002, S. 29.
3 Baudrillard, Der Geist des Terrorismus, S. 45.

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