Brigitte Dalinger u.a. (Hrsg.): Theater unter NS-Herrschaft

Cover
Titel
Theater unter NS-Herrschaft. Begriffe, Praxis, Wechselwirkungen


Herausgeber
Dalinger, Brigitte; Zangl, Veronika
Reihe
Theater – Film – Medien 2
Erschienen
Göttingen 2018: V&R unipress
Anzahl Seiten
317 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Lazardzig, Institut für Theaterwissenschaft, Freie Universität Berlin

Angesichts des raschen Wiederaufbaus der Theater nach Kriegsende bemerkte Bertolt Brecht in seiner Rede auf dem gesamtdeutschen Kulturkongress 1951 in Leipzig, dass „die Beschädigung an den Theatergebäuden soviel sichtbarer war als die an der Spielweise“. Dies hänge damit zusammen, „daß die erstere beim Zusammenbruch des Naziregimes, die letztere aber bei seinem Aufbau erfolgte“. So sei noch immer von der „glänzenden Technik“ der Vorkriegsjahre die Rede. Die Maßstäbe der Bewertung und Kritik, die durch die Etablierung des NS-Regimes, durch „Gleichschaltung“ sowie durch Vertreibung und Ermordung jüdischer Künstler und Kritiker neu bestimmt wurden, seien hingegen nach wie vor gültig.1

Brechts Stellungnahme macht unmittelbar evident, warum für eine qualifizierte Darstellung der Theatergeschichte der NS-Zeit der Blick auf den offiziösen Stadt- und Staatstheaterbetrieb nicht hinreicht; warum gerade die komplexen Relationen zwischen Gewaltherrschaft und Repräsentationsauftrag in den Blick zu nehmen sind. Der vorliegende Band – er versammelt die Ergebnisse einer vom 23. bis 25. Oktober 2014 an der Universität Wien veranstalteten Konferenz – stellt sich dieser Herausforderung, insofern er bislang getrennt diskutierte Forschungsfelder, wie das NS-Repräsentationstheater, das Theater des Kulturbundes deutscher Juden, theatrale Aktivitäten in Ghettos und Konzentrationslagern unter methodologischen Gesichtspunkten erstmals zusammenführt. Auch in der Forschung kaum beachtete Theaterformen, wie etwa der Zirkus in der NS-Zeit, werden dabei berücksichtigt.

In ihrem programmatisch an den Beginn des Bands gestellten Beitrag „Assessing Theatre under Duress in National Socialism“ (S. 17–32) – er ist dem thematischen Bereich „Quellenkritik“ zugeordnet – fragt die Theaterhistorikerin Rebecca Rovit in Anlehnung an Sybil Milton nach dem theaterkulturellen Erbe des Holocausts.2 Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Arbeiten zum Jüdischen Kulturbund sowie dem Theater in Ghettos und Lagern kann sie zeigen, wie sich bestimmte theater- und wortkünstlerische Repertoires und (komische) Genres während des Holocausts weiterentwickelten, an welchen Orten und unter welchen Bedingungen sie gespielt wurden und welches Nachleben sie gegebenenfalls entfalteten. Rovits Untersuchung von theaterkulturellen Kontinuitäten gerade an den Orten der Vernichtung und Auslöschung von Leben zielt auch auf eine Befragung der Kategorien der Flüchtigkeit und Immanenz, in denen Theater methodologisch gedacht wird. Sie schließt mit dem Plädoyer, „Holocaust Theater“ (zu dem sie auch das Kulturbund-Theater zählt) gedächtnis- und archivtheoretisch stets „in situ“ zu begreifen, also die je spezifischen historiografischen Implikationen von Zensur, Deportation, Vernichtung für die künstlerische Hervorbringung des „theatrical event“ genau in den Blick zu nehmen, um nach dem Fortbestehen jenes theaterkulturellen Erbes fragen zu können, dessen Verschwinden aus einer gegenwartsbezogenen Perspektive oft allzu schnell vorausgesetzt wird.

Daneben widmen sich vier weitere Beiträgerinnen aus unterschiedlichen Perspektiven Theater und Kunst in Internierungs-, Konzentrations- und Vernichtungslagern. Dabei geht es um die Frage nach den Möglichkeiten künstlerischer Produktivität (Stefanie Endlich, Heather Metje), der Rolle von Gelächter (Lisa Peschel) und den Erscheinungsformen widerständigen Verhaltens (Pnina Rosenberg). Auf eine direkte Verbindung von Holocaust und Theater geht der Historiker und Theaterwissenschaftler Anselm Heinrich schließlich in seinem Beitrag zum „Theater in Litzmannstadt 1940–1945“ (S. 115–128) ein, wenn er die geografische Nähe des Theaters zum Ghetto hervorhebt und angesichts eines Publikums, das sich aus SS-Offizieren, Soldaten, Verwaltungsangestellten, Mitgliedern der Gestapo und der Polizei zusammensetzte, eine Erforschung der Verbindung von Massenmord und Unterhaltung anmahnt.

Der Historiker Gerwin Strobl bündelt in seinen „Gedanken zum Theater im NS-Staat“ (S. 33–60) eine Reihe von methodologischen Schwierigkeiten, die er als ursächlich dafür erachtet, dass die Historikerzunft sich gegenüber dem Themenkomplex Theater im NS-Staat bislang zurückhaltend verhalten habe. Er hebt als ein zentrales hermeneutisches Hindernis die kulturpolitisch forcierten und inszenierten Brüche 1933 und 1945 hervor, die es heute schwierig machten, Stil und Dramatik sowie die Rezeptionsrealitäten angemessen zu erfassen. Niveauverlust und Dilettantismus der „revolutionären“ Phase würden dabei häufig ebenso überbetont wie die vermeintliche Wirkmacht des konsolidierten Unterhaltungsapparats des „Dritten Reichs“. Ferner sei von einer einheitlichen Theaterpolitik jenseits des propagierten Bildes eines hierarchisch durchorganisierten Führerstaats nicht zu sprechen, Theater im NS-Staat sei ein „umfehdetes Institut“ (S. 51) und Willkür Teil des Berufsalltags gewesen. Bühnenstücke konnten etwa von verschiedenen Parteistellen zugleich gefördert und bekämpft werden. Auch sei es aufgrund der stilistischen Bandbreite und Uneinheitlichkeit problematisch, von einem vereinheitlichenden Begriff wie „NS-Dramatik“ auszugehen. Und schließlich würde die Einbeziehung des Publikumsverhaltens das Bild der Theaterpraxis im NS-Staat deutlich verändern. Strobl, selbst Verfasser eines Überblickwerks3, schließt mit einem Plädoyer für kleinteilig vorgehende, lokal- und regionalhistorisch orientierte Untersuchungen. Im vorliegenden Band ist diesbezüglich auf die sehr instruktiven Beiträge von Gertrude Elisabeth Stipschitz über Österreichs Provinztheater-Landschaft und Evelyn Annuß über das Thingspielen in Österreich am Beispiel des Lamprechtshausner Weihespiels zu verweisen.

Die Bandbreite der in der zweiten Sektion „Widerstand, Anpassung, Aneignung“ behandelten Themenfelder ist groß. So widmet sich Peter Roessler anhand des auf Max Reinhardt zurückgehenden Schauspiel- und Regieseminars Schönbrunn („Reinhardt-Seminar“) einer leitenden theaterkünstlerischen Ausbildungseinrichtung der NS-Zeit. Sie geriet nach Reinhardts Vertreibung unter die Leitung seines Stellvertreters, Hans Niederführ, der die sich ihm bietenden Aufstiegschancen geschickt für sich zu nutzen wusste und bald nach Kriegsende sogar wieder auf die ergatterte Position zurückkehren konnte. Auch der von Birgit Peter verfasste Beitrag „Zirkus und Artistik unter der NS-Herrschaft“ (S. 161–180) geht auf einen in der theaterhistorischen Forschung wenig beachteten Themenkomplex ein. Peter verdeutlicht die Ideologisierung des „Massenspektakels“ Zirkus am Beispiel des Seiltanzes. Diese zeige sich in der Idealisierung von Perfektion, Wagnis und Todesverachtung, der Artist werde zum Vorbild für die Lebensführung des NS-Bürgers. Innerhalb der Reichstheaterkammer war die für Zirkus und Artistik zuständige Fachschaft Artistik mit sechs Referaten auffallend stark besetzt. Am Beispiel des bekannten Wildwest-Helden und Vogel-Dresseurs Billy Jenkins (Erich Rudolf Otto Rosenthal) und der Artistin und Clownesse Irene Bento (geb. Danner) schildert Peter die erfolgreichen Überlebensstrategien zweier als „halb-jüdisch“ bzw. „nicht-arisch“ eingestuften Zirkuskünstler, die beide bis zum Ende der NS-Zeit auftraten. Insbesondere der Fall Billy Jenkins, zu dessen Vogeldressur auch ein hakenkreuztragender Adler gehörte, unterläuft einfache Täter-Opfer-Narrative – eine Ambivalenz, die für die Beiträge der Sektion insgesamt durchaus charakteristisch ist.

Innerhalb der dritten Sektion „Dramaturgien“ wird in den Beiträgen der Theaterwissenschaftlerin Evelyn Deutsch-Schreiner („Reichsdramaturg Rainer Schlösser. Praxis einer beispiellosen Theaterkarriere im ‚Dritten Reich’“, S. 217–238) und des Film- und Theaterwissenschaftlers William Grange („National Socialist Attempts at Continuities in Comedy“, S. 257–270) das Wirken der Reichstheaterkammer aus verschiedenen Perspektiven untersucht. Deutsch-Schreiner zeichnet in ihrem biografie- und institutionsgeschichtlichen Beitrag über den höchsten NS-Theaterbeamten das Bild eines einflussreichen Karrieristen und Günstlings, der seine Position dadurch festigte, dass er zwischen Propagandaministerium und Rosenberg-Fraktion zu moderieren wusste. Grange kann in seinem genregeschichtlich angelegten Beitrag materialreich belegen, wie innerhalb der Reichstheaterkammer erfolgreiche Komödiensujets als „jüdisch“ verfemter Erfolgsautoren wie Franz Arnold, Bruno Frank, Rudolf Bernauer, Rudolf Österreicher oder Ladislas Fodor durch regimefreundliche Dramatiker wie Leo Lenz mit großem Publikumserfolg „arisiert“ wurden. Grange kommt zu dem Schluss, dass ab Ende der 1930er-Jahre vormals als „kulturbolschewistisch“ und „jüdisch“ abgelehnte Komödienstoffe strategisch in den Dienst der Volksgemeinschaft gestellt wurden.

Der vorliegende Band bietet einen sehr guten Forschungsüberblick zum Theater unter NS-Herrschaft. Einschlägige und impulsgebende Forschungsarbeiten der letzten Jahre sind hier ebenso repräsentiert wie jene von Nachwuchswissenschaftler/innen. Überholt erscheinen heute Ansätze, die die Reichweite normativer Quellen zur Theater- und Spielplanpolitik überbewerten, die von stabilen Täter- und Opfernarrativen ausgehen sowie die regionalen und lokalen Theaterkulturen außer Acht lassen. Die Entscheidung der Herausgeberinnen, verschiedene, in der Forschung bislang überwiegend getrennt voneinander behandelte Themenkomplexe unter methodologischen Gesichtspunkten zusammenzuführen, erweist sich als wegweisend. Allerdings hätte man sich in vielen Beiträgen eine noch deutlichere Akzentuierung methodologischer Fragen gewünscht. Angesichts der thematischen Heterogenität der Beiträge, wäre es darüber hinaus hilfreich gewesen, wenn die Herausgeberinnen sie konzeptuell stärker in Beziehung gesetzt hätten So bleibt es weitgehend den Leser/innen überlassen, jene Zusammenhänge zu sehen, von denen bereits Brecht bemerkte, dass sie hinter den wieder errichteten Schaufassaden der Nachkriegszeit verschwunden seien. Die Grundlage dafür geschaffen zu haben, ist diesem wichtigen Band zu verdanken.

Anmerkungen:
1 Bertolt Brecht, Rede auf dem gesamtdeutschen Kulturkongreß in Leipzig, Mai 1951, in: Berliner Ensemble / Helene Weigel (Hrsg.), Theaterarbeit. 6 Aufführungen des Berliner Ensembles, Dresden 1952, S. 7.
2 Siehe Janet Blatter / Sybil Milton, Art of the Holocaust, New York 1981.
3 Gerwin Strobl, The Swastika and the Stage, Cambridge 2007.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension