S. Ostermeyer: Der Kampf um die Kulturwissenschaft

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Titel
Der Kampf um die Kulturwissenschaft. Konstitution eines Lehr- und Forschungsfeldes 1990–2010


Autor(en)
Ostermeyer, Serjoscha P.
Reihe
Kaleidogramme 135
Erschienen
Anzahl Seiten
389 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Neumann, Jena

Werden Lehrbücher geschrieben, entspricht dies einem Akt der Kodifizierung, des Einschreibens, des Normalisierens. Wenngleich es sich hierbei von außen betrachtet um eine Einschränkung von Pluralität handelt, besitzt diese Praxis eine integrative Wirkung nach innen: Sie ist geradezu ein Akt der Befreiung, denn das Rezitieren festgeschriebener Grundlagen schafft eine von vergangenen Grundsatzkonflikten gereinigte Basis. Der Raum legitimer Probleme und anerkannter Fragestellungen ist abgesteckt. Für Thomas S. Kuhn sind Lehrbücher daher bekanntlich ein Indikator für die Reife einer Wissenschaft. Reife oder normale Wissenschaft verschleiern die Antagonismen ihrer Genese und produzieren damit das Bild kumulativer Wissensentwicklung. Lehrbücher sollen Wissen möglichst einfach präsentieren, ohne dabei die Krise einer vorparadigmatischen Zeit zu reproduzieren.1

Für Serjoscha P. Ostermeyer sind Lehrbücher in den Kulturwissenschaften keine Monumente auf längst begrünten Schlachtfeldern. Sie sind wissenschaftspolitische Mittel eines Kampfes. Sein Erkenntnisinteresse entzündet sich daher geradezu im Widerspruch zu Kuhns Thesen. Die Anomalie lautet: Zum Thema „Kulturwissenschaften“ entstanden zwischen 1990 und 2010 zahlreiche Einführungen, die genretypische Erwartungen in vielerlei Hinsicht nicht erfüllen. Weder leisten sie eine verbindliche Konstitution ihres Gegenstandes – „Kultur“ bleibt unbestimmt – noch etablieren sie ein disziplinäres Feld: Die Kulturwissenschaften befinden sich im interdisziplinären Raum zwischen den Disziplinen und nutzen disziplinäre Methoden.

Obwohl es offenkundig keine etablierten Paradigmen in den Kulturwissenschaften gibt, bietet der Paradigma-Begriff eine Heuristik für das zu untersuchende Material: Dieses Material besteht aus Einführungen zum Thema Kulturwissenschaft und daran anschließende Rezensionen. In ihnen sollten, so die Hypothese, „vorherrschende und sich veränderte Annahmen besonders deutlich hervortreten“ (S. 26). Über eine solche Sachebene hinaus richtet sich der Blick auf die Sozialebene. Eine Studie über den Kampf um die Kulturwissenschaft fördert damit zweierlei zutage: Veränderungen des Wissens und Veränderungen der Macht. Das Schreiben von Einführungsbüchern wird als Praxis begriffen, in der sich Wissen und Macht in einem Komplex überschneiden.

Derlei Annahmen führen zu einem Bündel von Fragestellungen: zunächst auf der Sachebene zur Frage, welche Formen kulturwissenschaftliche Einführungen annehmen, welche die Erwartungshaltung nach Klärung ihres Gegenstandsbereichs schon deshalb nicht leisten können, weil der Gegenstand „gemeinhin als weitgehend undefinierbar gilt“ (S. 18). Des Weiteren zielt die Studie auf charakteristische Formen von Argumentationen, die im Kampf um Deutungshoheit genutzt werden – etwa durch die Konstruktion der Figur eines Dilettanten zur Abwertung und zum Ausschluss unliebsamer Positionen. Die Sachebene steht damit in Wechselwirkung zur Sozialebene, die sich über Forscherkarrieren der Autoren, beteiligte Institutionen und disziplinäre Modernisierungs- oder Reformprojekte erfassen lässt. Zusammenfassend mündet dies in Fragen, wie „ein Wissenschaftsgebiet über Einführungen etabliert oder verhindert“ wird und auf welche Weise sich dabei Deutungshoheit herstellt (S. 20). Ostermeyer bezieht dabei selbst keine eigene Position im „Kampf“. Er ist vielmehr interessiert an einer Zustandsdiagnose des bislang unübersichtlichen Felds der Kulturwissenschaften; zudem eigne sich die Studie exemplarisch dazu, „die Herausbildung neuer Fächerstrukturen“ zu untersuchen und damit einen Beitrag zur Wissenschaftsforschung zu leisten (S. 24).

Die Rede vom Komplex aus Macht und Wissen offenbart bereits einen der erkenntnistheoretischen Vektoren, aus denen sich die Methodologie der Studie speist: Untrüglich zeigt er in Richtung Foucault. So werden Disziplinen als Produkte liberaler Selbstführung beschrieben, die sich nicht aufgrund repressiver Machttechniken etablieren, sondern wegen eines produktiven Willens zur Zugehörigkeit. Da sich mit dem Bekenntnis zu Foucault eher eine produktive Haltung als ein vollständiges Forschungsprogramm verbindet, konfrontiert Ostermeyer sein Material mit zwei weiteren Größen der Theoriegeschichte: Luhmann und Bourdieu. Beide Autoren bieten Modelle darüber an, worum es sich bei Wissenschaft handelt und auf welche Weise sich Wissenschaft dynamisiert. Während der Systembegriff Luhmanns auf die formale Bedeutungsebene zielt, fördert der Feldbegriff Bourdieus die Machtstrukturen zutage. Die Systemperspektive ignoriert externe Einflüsse auf das System bzw. identifiziert diese als pathologische Störungen. Der Blick gilt kommunikativen Selbstbeschreibungen, die entlang von Begriffsbildungen einen Code zur Unterscheidung von wahren oder falschen Aussagen etablieren und somit Sinngrenzen herstellen. Für die Studie ist das bedeutsam, weil damit Prozesse der Binnendifferenzierung sowie Kopplungen zwischen Forschung und Lehre erklärbar werden, ohne dabei Gegenstände oder Methoden der Disziplinen als essenzielle Entitäten zu begreifen. Um jenseits einer formalen Sachebene die Hierarchien zwischen und innerhalb von disziplinären Feldern zu untersuchen, bedarf es weiterer Annahmen über das Handeln sozialer Akteure. Das Feld dynamisiert sich bei Bourdieu nicht allein durch die Eigenlogik funktionaler Differenzierungen, sondern durch den Kampf um symbolisches Kapital.

Bevor es in der Studie zur eigentlichen Analyse kommt, operationalisiert Ostermeyer diese theoretischen Vorannahmen in einem weiteren Kapitel zur Methodik der Diskursanalyse. Das macht die Arbeit interessant für eine Zielgruppe, die nach Anregungen für eine methodische Umsetzung von Diskursanalysen sucht. Ostermeyer bezieht sich auf das Forschungsprogramm der Wissenssoziologischen Diskursanalyse (WDA).2 Zu den Grundsätzen dieses Programms zählt die Differenzierung zwischen einer diskursiv-sprachlichen und nicht-diskursiv-sozialen Ebene, die sich beide wechselseitig durchdringen. Soziale Akteure können unter dieser Perspektive Einfluss nehmen auf Diskurse, wenngleich mit begrenzter Reichweite, so dass sozialer Wandel immer beides ist: „Wandel von Diskursen“ und „Wandel durch Diskurse“.3

Die empirische Analyse, welche mit dem Codierparadigma der Grounded Theory arbeitet, erstreckt sich auf drei Kapitel und beginnt mit einer exemplarischen Fallanalyse zentraler Einführungswerke im Bereich der „Philologien“. Dieser betrifft die ganze sprachwissenschaftliche Bandbreite von der Anglistik, über die Germanistik, bis hin zur Literaturwissenschaft. Dabei handelt es sich um Einführungswerke von Klaus P. Hansen, Aleida Assmann, Hartmut Böhme, Friedrich Kittler, Markus Fauser, Ansgar und Vera Nünning, Siegfried J. Schmidt sowie Doris Bachmann-Medick. Was in den „Diskursknoten“ an Kontroversen zutage tritt, bezieht sich im wesentlichen auf vier Bereiche: den Kulturbegriff, die Charakterisierung als singuläre Kulturwissenschaft oder plurale Kulturwissenschaften, das Zulassen externer Gesellschaftsbezüge neben internen Wissenschaftsbezügen sowie die Verortung in Lehre und Forschung. Im Verlauf des Diskurses setzten sich diesbezüglich gewisse „Normalaussagen“ durch: „Kultur“ wird zunehmend als offener Grundbegriff beschrieben; anstelle eines singulären Fachs etabliert sich ein plurales Forschungsgebiet mit interdisziplinären Bezügen.

Im anschließenden Kapitel geht es um typische Gliederungsstrukturen der Einführungsbände. Hierbei lässt sich unter anderem eine Tendenz beobachten: Während die Kultursoziologie ihre Klassiker entlang von Personen beschreibt, geschieht dies bei den Philologien entlang von konkreten Texten. Zudem unterscheidet sich der Kanon der Klassiker entlang disziplinärer Grenzen. Um diese geht es auch im nächsten Kapitel. Unter Rückgriff aufgefundener Muster in der Fall- und Strukturanalyse wird der Fokus auf Disziplinen außerhalb der Philologien aufgeweitet. Es werden disziplinäre Eigenheiten in den Cultural Studies, der Kultursoziologie, Ethnologie und Geschichtswissenschaft aufgezeigt.

Die zahlreichen Ergebnisse der Studie erstrecken sich nicht nur auf das kulturwissenschaftliche Feld, das als „nach wie vor umkämpftes Wissensgebiet“ betrachtet wird, in dem sich weder eine Vormachtstellung noch eine eigene disziplinäre Logik etablierte (S. 292, 297, 299). Sowohl für das methodische Arbeiten als auch für die Wissenschaftsforschung werden verallgemeinerbare Folgerungen abgeleitet. So lässt sich eine der Thesen Ostermeyers als negativ gewendeter Paradigma-Begriff bezeichnen: Für ihn ist der Wandel von „Forschungsfeldern, Vorgehensweisen, Literaturbezügen und Zitationszusammenhängen“ in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaft „gängig“ und damit wissenschaftlicher Normalbetrieb (S. 312). Anstelle eines Bruchs geschehen innerhalb eines interdisziplinären Clusters der Kulturwissenschaften heterogene Verschiebungen in Form von „turns“. Interessant wäre die Frage dennoch, ob sich so etwas wie ein epistemologischer Bruch im Sinne Kuhns außerhalb der Naturwissenschaft finden lässt – wenn, dann geschah dieser wohl lange vor den untersuchten Kämpfen um die Kulturwissenschaft. Genealogisch geht die anregende Strahlkraft wohl noch immer von jenem „Meta turn“4 aus, der bereits 1967 seinen Namen erhielt: Linguistic turn.

Anmerkungen:
1 Vgl. Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1976 (englische Erstausgabe 1962), S. 25–27, 147–154.
2 Reiner Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse: Grundlegung eines Forschungsprogramms, 3. Aufl., Wiesbaden 2011.
3 Ders., Wandel von Diskursen – Wandel durch Diskurse. Das Beispiel der Umwelt- und Risikodiskurse seit den 1960er Jahren, in: Achim Landwehr (Hrsg.): Diskursiver Wandel, Wiesbaden 2010, S. 69–88.
4 Doris Bachmann-Medick, Cultural turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, 4. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2010.

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