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Titel
Bessere Welten. Kosmopolitismus in den Geschichtswissenschaften


Herausgeber
Gißibl, Bernhard; Löhr, Isabella
Erschienen
Frankfurt Main 2017: Campus Verlag
Anzahl Seiten
Preis
€ 29,95
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Martin Rempe, Universität Konstanz

Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass Bernhard Gißibls und Isabella Löhrs Sammelband zum „Kosmopolitismus in den Geschichtswissenschaften“ zur Unzeit kommt: Die internationalen Beziehungen, die Welthandelspolitik oder auch die Diskussionen über den Umgang mit und die Integration von Flüchtlingen zeichnen sich derzeit eher durch die Abwesenheit kosmopolitischer Haltungen aus; „bessere Welten“ werden auf diesen Feldern, wenn überhaupt, nur für ganz bestimmte Gruppen anvisiert. Auf den zweiten Blick hätte der lesenswerte Sammelband allerdings kaum einen passenderen Moment erwischen können, nicht so sehr wegen des Plädoyers des Herausgeberduos für eine kosmopolitisierte Geschichtswissenschaft, sondern weil sie unter dem Begriff des Kosmopolitismus den praktischen Umgang mit Differenz in den letzten 200 Jahren in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses rücken. Damit heben sie sich ein Stück weit von der ideengeschichtlich geprägten Literatur ab, die Kosmopolitismus vorwiegend als universalistisches Ideal betrachtete, entkleiden das Konzept zugleich seines eurozentrischen Gewands und fragen danach, was kosmopolitische Haltungen in der konkreten Begegnung unterschiedlicher Kulturen, Ethnien und Religionen wert waren und bewirkten. Diese letztlich hochaktuelle Agenda wird von einem konzisen Überblick zum Forschungsfeld in verschiedenen Nachbarwissenschaften von der Politikwissenschaft bis zur Anthropologie flankiert.

Dass Gißibls und Löhrs Programm in den einzelnen Beiträgen unterschiedlich umgesetzt wird und die zugrundeliegenden Verständnisse von Kosmopolitismus dabei stark variieren, liegt auf der Hand. Auch inhaltlich ist der Band ähnlich ausgreifend. Die Spannweite reicht von eher klassischen Themen wie dem Verhältnis des Judentums zum Kosmopolitismus (Mirjam Thulin) oder dem Zusammenhang von Staatenlosigkeit und Weltbürgertum (Miriam Rürup) über Kosmopolitismen in Vereinigungen wie der katholischen Frauenkongregation der Dienerinnen des Heiligen Geistes (Katharina Stornig), den Freimaurern (Joachim Berger) und der Internationalen Freidenkerkonföderation (Daniel Laqua) bis zu Formen von „Kosmopolitik“ innerhalb der UNESCO (Andrea Rehling). Fragen von Mobilität stehen bei Andreas Fahrmeiers Artikel zum Passwesen sowie bei Corinne Pernets und Isabella Löhrs Portrait der chilenischen Dichterin und Literaturnobelpreisträgerin Gabriela Mistral im Vordergrund, während Soumen Mukherjee Möglichkeiten und Grenzen eines spezifisch muslimischen Kosmopolitismus mit Blick auf das indische Aga Khan Development Network auslotet.

Eine zusammenhängende Globalgeschichte des Kosmopolitismus in der Moderne lässt sich aus all diesen Beiträgen nicht konstruieren. Dies war auch gar nicht intendiert, doch gerade deshalb sind jene Artikel besonders interessant, die Kontinuitäten und Veränderungen kosmopolitischer Praktiken explizit thematisieren und dabei zu überraschenden Einsichten gelangen. Nora Lafi etwa beschreibt die Koexistenz unterschiedlicher Ethnien, Religionen und Sprachgemeinschaften in den Städten des osmanischen Ancien Régime vom 16. bis zum 18. Jahrhunderts. Lafi zeigt, dass diese Koexistenz nicht als gegeben angesehen werden darf, sondern erst durch bewusste Politik, diverse Rechtsinstrumente und damit einhergehender Anreize zu politischer Teilhabe entstanden und gewachsen sei. Diesem lokal gebundenen, alltäglichen, nicht zuletzt prä-kantischen Kosmopolitismus stellt sie einen modernen, auf der Idee der Nation fußenden Kosmopolitismus gegenüber, der sich mit dem europäischen Vordringen im Laufe des 19. Jahrhunderts festsetzte und den älteren letztlich verdrängte.

Noch radikaler stellt die Afrikahistorikerin Stefanie Michels aus der Perspektive der Duala und deren Umgang mit Fremden im 19. Jahrhundert gängige Annahmen eines aus der europäischen Aufklärung hervorgegangenen, global diffundierenden Kosmopolitismus in Frage. Michels argumentiert, dass die auf dem Gebiet des heutigen Kamerun operierenden (Sklaven-)Händler fähig waren, Beziehungen zu verschiedenen Kulturen zu knüpfen und Vielfalt anzuerkennen, auch wenn sie innerhalb ihrer Gemeinschaft weitaus hierarchischere Umgangsformen pflegten. Diese kosmopolitischen „Kompetenzen“, wie Michels sie nennt, waren mit einem Anspruch auf Gleichberechtigung verbunden. Auch nach Beginn der deutschen Kolonialherrschaft 1884 hätten die Duala diesen Anspruch beibehalten und symbolisch ebenso wie politisch regelmäßig zum Ausdruck gebracht. Michels schreibt den Duala damit explizit ein „Weltbewusstsein“ zu, das sich letztlich ganz grundsätzlich in afrikanischer Handlungs- und Gestaltungsmacht ausdrückte. So gewendet, lasse sich mit der kosmopolitischen Heuristik dem Meta-Narrativ einer vom Westen ausgehenden Vereinheitlichung der Welt eine dezentrierte Erzählung entgegenhalten, meint Michels.

Konzeptionell ähnlich, in den Schlussfolgerungen aber etwas vorsichtiger stellt sich schließlich Jürgen Dinkels Aufsatz zur Afro-Asiatischen Konferenz von Bandung im Jahr 1955 dar, in dem er die Bedeutung eines „‘farbigen‘ Kosmopolitismus“ während dieses Treffens von Vertretern aus 29 Ländern bzw. Kolonien des globalen Südens ausmisst. Dinkel versteht darunter bestimmte Handlungen, die auf antikoloniale Solidarität genauso abheben wie auf eine allgemeine Aufwertung nicht-weißer Kulturen. Er porträtiert Bandung zum einen als Endpunkt eines ‚farbigen‘ und zum anderen als Wendepunkt eines antikolonialen Kosmopolitismus, weil mit Bandung die prä-nationale, integrative Kraft des ‚Farbigen‘ an Wirkung verlor und stattdessen die ökonomische Schwäche der neu entstandenen Nationalstaaten nun als mehr oder minder einigendes Band in den Vordergrund rückte.

Die Stärke dieser drei und weiterer Beiträge liegt darin, Praktiken des Umgangs mit Differenz im außereuropäischen Kontext auf einer abstrakten Ebene zu de-exotisieren, ohne deren situative Spezifika einzuebnen. Insoweit hat sich die kosmopolitische Heuristik als äußerst fruchtbar erwiesen. Dennoch sind Zweifel angebracht, ob in dem einen oder anderen Beitrag Kosmopolitismus konzeptionell nicht etwas überdehnt und den jeweiligen Akteuren affirmativ zugeschrieben wird. Dass all diese praktizierten Kosmopolitismen polarisierten, Grenzen kannten und bestimmte Gruppen teils explizit ausschlossen, ist aus historischer Perspektive weniger problematisch. Ganz im Gegenteil scheint mir dies eine der wichtigsten Einsichten des Bandes zu sein, die im Übrigen auch heutzutage wieder hochaktuell ist.1 Fraglich ist vielmehr, ob nicht die jeweils dargestellten kosmopolitischen Binnenverhältnisse ganz überwiegend von strategischen Interessen geleitet wurden und zudem oftmals asymmetrischen Machtverhältnissen unterlagen. Teils werden diese in den Beiträgen nicht ausreichend berücksichtigt, was durchaus nachvollziehbar ist, weil sie typischen kosmopolitischen Praktiken wie Solidarität, Toleranz, Gastlichkeit oder Respekt rasch zuwiderlaufen konnten. Dieses Spannungsverhältnis wird künftige Studien, die dem „neuen Kosmopolitismus“ in den Geschichtswissenschaften nachgehen möchten, weiter beschäftigen. Insgesamt ist Löhrs und Gißibls Band eine möglichst breite Rezeption zu wünschen, weil er neue, anregende und nicht zuletzt globale Perspektiven in einem Forschungsfeld aufzeigt, das allzu lange Domaine réservé einer europäisch zentrierten Ideengeschichte war.

Anmerkung:
1 Vgl. dazu Cornelia Koppetsch, In Deutschland daheim, in der Welt zu Hause? Alte Privilegien und neue Spaltungen, in: Soziopolis, 22.12.2017, https://soziopolis.de/beobachten/gesellschaft/artikel/in-deutschland-daheim-in-der-welt-zu-hause/ (20.09.2018).

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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