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Titel
Das deutsche Kaiserreich. Von der Gründung bis zum Untergang


Autor(en)
Nonn, Christoph
Reihe
Wissen 2870
Erschienen
München 2017: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
128 S.
Preis
€ 8,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Schellenberger, Dresden

Die Beck’sche Reihe Wissen gehört zu den erfolgreichsten Sachbuchreihen auf dem deutschen Büchermarkt. Die einzelnen Bände sollen „einem akademischen Publikum mit straffem Zeitkontingent in Kürze die Kernpunkte aus anderen Wissenschaftsbereichen näher […] bringen“ und dabei für Laien verständlich geschrieben sein.1 Dieser Aufgabe hat sich Christoph Nonn gewidmet und 2017 eine Geschichte des Deutschen Kaiserreichs vorgelegt. Herausgekommen ist ein Band, der in einem klaren erzählerischen Stil das Werden und Vergehen des Reichs nachzeichnet, wobei er sich erklärtermaßen auf die „politische Geschichte“ konzentriert.

Im Fokus seiner Darstellung stehen die nationalen Entwicklungen bzw. jene in Preußen. Mit dem regional-föderalen Charakter des Reichs beschäftigt sich Nonn vor allem am Anfang und Ende seiner Darstellung unter den Stichworten Nationalismus und „widerborstiger“ Partikularismus (S. 26–28 / 107–111). Man hätte sich wünschen können, dass die große Vielfalt der regionalen bzw. lokalen Differenzierungen in den proletarischen, bäuerlichen, bürgerlichen und adligen Lebenswelten im Kaiserreich etwas stärker zum Vorschein kommen würden.

Seine Erzählweise ist vordergründig chronologisch und erhält durch das erste und das siebte bzw. letzte Kapitel einen Rahmen. Nach einer kurzen programmatischen Einleitung beginnt der Band sozusagen im Jahr Eins des Reiches (1871) mit einem „Blick voraus“ und endet im Revolutionsjahr 1918 mit einem „Blick zurück“, wobei abschließend die Perspektive bis in den Nationalsozialismus hinein verlängert wird. Das stellt einerseits eine sinnvolle Einbettung der Epochenerzählung in die longue durée dar, anderseits kommen hier die älteren Debatten um das Kaiserreich zur Sprache (vor allem die um das Kaiserreich als Vorläufer des „Dritten Reichs“ und die Sonderwegsthese), ohne diese zu prominent werden zu lassen. Diese straff geschriebenen Kapitel geben einen guten Einblick in wichtige Entwicklung jenseits des genuin Politischen wie Infrastruktur, Industrialisierung, soziale und religiöse Entwicklungen, doch bekommen sie keine eigenständige Bedeutung, sondern dienen zur Verdeutlichung der politischen Prozesse. Nicht nur kulturhistorische Aspekte werden fast gänzlich ausgeblendet, was sich zwar durch die Kürze des Bandes erklären lässt und der Intention Nonns folgt, aber eben auch die Eindimensionalität des Bandes unterstreicht.

Das zweite Hauptkapitel des Bands schildert die frühen Jahre des Kaiserreichs, die im Zeichen liberaler Politik standen. Zu Beginn werden der nationale Gründungsprozess und die Rolle Bismarcks als „Reichsgründer“ beleuchtet. Damit setzen einige analytische Stränge ein, die sich ganz oder teilweise durch die weitere Darstellung ziehen. Da ist etwa die kritische Beleuchtung der individuellen Bedeutung Bismarcks und anderer Akteure, wie Wilhelm II. Politisch wichtige Personen erscheinen in ihren individuellen Charakteristika und zeitlichen Handlungskontexten, zugleich gibt Nonn immer wieder seiner „Skepsis“ gegenüber „personalisierenden Erklärungen“ Ausdruck (S. 28). Die Reichsgründung etwa beschreibt er als Teil eines europäischen Phänomens. Sie ist einerseits Teil der nationalen Staatsbildungsprozesse im Europa des 19. Jahrhunderts, andererseits wurde sie durch Akteure außerhalb Deutschlands stimuliert (dänische Nationalbewegung, Napoleon III.). Diese Art der komparatistischen und kontextualisierenden Einbettung in europäische Entwicklungen durchzieht den Band; vor allem dann, wenn es um die Außen-, Kolonial- und Militärpolitik geht.

Dem ersten Reichskanzler gesteht Nonn auch nicht den Rang als Initiator der Sozialversicherungsgesetze zu. Die eigentlichen Väter sieht er in bürgerlichen Sozialreformern, Vertretern der Kirchen und Experten aus der Bürokratie (S. 51). Bismarcks Rolle in diesem Prozess sollte eher als flexibel reagierend denn als intendierend verstanden werden. Überhaupt lässt sich immer wieder der „ausgeprägte politische Pragmatismus“ Bismarcks herauslesen, den Nonn schon in seiner 2015 erschienen Bismarck-Biographie umfassend dargestellt hat.2

Relativiert Nonn die Mythen rund um Bismarck, verdeutlicht er daneben die Kraft demokratischer Bewegungen im Kaiserreich nicht nur im sozialdemokratischen Lager, sondern insbesondere auch unter den Liberalen. Politische Veränderungsprozesse sieht er dabei zumeist in enger Bindung an die Bedürfnisse und Artikulationen/Proteste der „wachsenden Massen der städtischen Verbraucher“, die zugleich das Reservoire für die sozialdemokratische Wählerschaft bildeten (S. 23). Derart markiert Nonn den Stadt-Land-Gegensetz als einen der wichtigsten Katalysatoren in der politischen Entwicklung des Kaiserreichs.

Das letzte chronologische Hauptkapitel setzt 1912 ein und zeigt den Verlauf aus einer stabilen politischen Krise – in der die „Immobiliät des Kaiserreichs“ (als Patt zwischen Parlament und Exekutive, Reformkräften und Kräften der Beharrung) am deutlichsten sichtbar wird (S. 92) – über einen europäischen „Automatismus der Allianzen“ und einen ebensolchen der „militärischen Planungen“ hinein in den Ersten Weltkrieg. Am Ende steht der Untergang des Reiches in der Revolution. Nonns pointierter erzählerischer Schlussakkord, dass das Reich zu existieren aufgehört habe, weil „ihm kaum jemand noch eine Träne nachweinte“ (S. 107), verdeckt allerdings viele, nicht nur sozio-kulturelle, sondern auch politische Stränge, die sich aus dem Kaiserreich in die (frühe) Weimarer Republik zogen, aber eben weniger national, sondern lokal, regional bzw. in einzelnen Milieus und Sozialgruppen verankert waren.

In der Einleitung des Bandes legt Nonn eine seiner narrativen Grundlagen offen und zwar die „Diskussion um Kontinuitäten und Diskontinuitäten, um den Stellenwert des Kaiserreichs in der deutschen Geschichte“ (S.9). Am Ende erfährt der Leser dazu, dass die 1890er-Jahre die Inkubationszeit des Radikalnationalismus in Deutschland waren, der Rassismus um 1900 keine „deutsche Spezialität“ darstellte (S. 119), der Antisemitismus bis 1918 nicht mehr und nicht weniger ausgeprägt war als in anderen europäischen Staaten und insbesondere, dass „wer nach kausalen Zusammenhängen zwischen dem Kaiserreich und den nachfolgenden Epochen deutscher Geschichte sucht, diese vor allem in der „Mentalität der politischen Verantwortungslosigkeit“ finden wird (S. 123). Somit wird auch abschließend noch einmal deutlich, dass dieser Band einen anderen Titel hätte tragen sollen. Dem Laien wird ein sehr spezifisches (politisches) Bild des Kaiserreichs geboten. Die vielen Aufbruchsmomente in Gesellschaft, Wirtschaft, Medien und Kultur werden übergangen oder nur ganz am Rande beleuchtet. Dabei wäre ein Anschluss bzw. eine (teilweise) Auseinandersetzung mit Dieter Heins 2016 erschienen Ausführungen zum Deutschen Kaiserreich in dessen C.H. Beck Wissen-Band „Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert“ durchaus möglich und wünschenswert gewesen.3

Anmerkungen:
1https://www.mediacampus-frankfurt.de/aktuelles/article/2012/april/10/500-baende-ch-beck-wissen.html [06.12.2018].
2 Christoph Nonn, Bismarck. Eine Preuße und sein Jahrhundert, München 2015, bes. S. 358.
3 Dieter Hein, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, München 2016.

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